Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung
Rezensiert von Dipl.-Soz. Willy Klawe, 01.11.2012

Corinna Scherwath, Sibylle Friedrich: Soziale und pädagogische Arbeit bei Traumatisierung. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2012. 224 Seiten. ISBN 978-3-497-02321-9. 21,90 EUR.
Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-497-02645-6 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.
Thema, Ziel und Anliegen
Die Bearbeitung von traumatisierenden Erfahrungen ist lange Zeit ausschließlich Domäne psychologisch-therapeutischer Bemühungen gewesen, mit der Folge, dass die Symptome und Folgen von Traumatisierungen pathologisiert und unter Umständen gar mit kontraproduktiven Interventionen behandelt wurden. Neurobiologische Befunde dagegen haben ergeben, dass diese „Symptome nicht pathologisch zu interpretieren sind, sondern im Sinne dessen, wie der Mensch konstruiert ist, eine ganz normale Reaktion – auf ein unnormales Ereignis – abbilden.“ (10)
Damit besteht die Chance, dass auch und besonders (sozial-)pädagogische Interventionen hilfreich und wirkmächtig zur Bearbeitung von Traumafolgen sind. Insbesondere Jugendhilfe kommt an ihnen nicht vorbei: „Vielfältige Auffälligkeiten, Symptome und Hilfeanlässe im Arbeitsfeld können entsprechend als traumabasiert interpretiert werden.“ (11) Dabei geht es – so die Autorinnen – nicht um eine Therapeutisierung Sozialer Arbeit, sondern vielmehr um die Beschreibung spezifischer Anteile, die pädagogische Interventionen im Zusammenspiel der Professionen zur Minderung der Traumafolgen und zur Stabilisierung der Persönlichkeit beitragen können.
Die Autorinnen verstehen ihr Buch als Beitrag,(sozial-)pädagogischen Fachkräften in den unterschiedlichsten Arbeitsfeldern anschaulich und verständlich Orientierungs- und Handlungswissen zu vermitteln, das diese in die Lage versetzt, in ihrer Alltagspraxis kompetent, verantwortlich und reflektiert mit Traumatisierungen und ihren Folgen umzugehen.
Aufbau und Inhalt
Das vorliegende Buch ist im Wesentlichen in drei Abschnitte gegliedert.
- Im ersten Abschnitt skizzieren die Autorinnen zunächst den aktuellen Stand der Forschung.
- Der zweite – umfangreichste – Abschnitt stellt Leitlinien und vielfältige praktische Methoden pädagogischen Handelns sowie die damit verbundenen Haltungen vor.
- Der letzte Abschnitt widmet sich der Selbstfürsorge der Fachkräfte und gibt zahlreiche Anregungen zur Reflexion des eigenen Handelns.
„Was ist ein Trauma?“ ist der erste Abschnitt überschrieben. „In Abgrenzung zu schweren oder belastenden Lebensereignissen kann eine traumatische Situation von dem betroffenen Menschen hiernach nicht mehr im Rahmen ihrer üblichen Anpassungs- und Bewältigungsstrategien gelöst werden, sondern stellt für ihn ein Ereignis oder eine (Lebens-)Situation dar, die – von absoluter Unabsehbarkeit, Heftigkeit und Ausweglosigkeit geprägt – das übliche Selbstwirksamkeits- und Verarbeitungsvermögen außer Kraft setzt.“ (18) Diese ausweglose Überforderungssituation führt – so die neueren Befunde der Neurobiologie – zu Veränderungen der im Laufe die bisherigen Biografie gewachsenen Verschaltungen im Gehirn und setzt ggf. auch bislang erfolgreiche Überlebensstrategien außer Kraft.
Die Folge sind eine Fülle von Symptomen und posttraumatischer Belastungsstörungen, die die Verfasserinnen kenntnisreich und differenziert in ihren Ausprägungen beschreiben. Dabei machen sie deutlich, dass auch eine Reihe von Störungsbildern als Traumafolgen zu deuten sind, die auf den ersten Blick nicht mit traumatischen Erfahrungen in Zusammenhang gebracht werden. Ihre Schlussfolgerung: „Vor dem Hintergrund der ganzheitlichen Auswirkungen eines Traumas, das seine Spuren in allen Entwicklungsbereichen (Fühlen, Denken, Handeln, Körperempfindungen, Interaktion/Bindungsentwicklung) hinterlassen kann, ist es dringend erforderlich, präsentierte Verhaltensweisen und Auffälligkeiten, die ja häufig Auslöser für Hilfeanlässe sind, unter diesem Aspekt zu betrachten.“ (41 f)
Es geht also darum, beobachtetes Verhalten nicht vorschnell schon für die „Botschaft“ zu halten, sondern zu entschlüsseln, welche (Be-)Deutung es möglicherweise noch hat. Dafür stellen die Autorinnen verschiedene Zugänge und methodische Verfahren für „biografische Erkundungen“ vor.
Anschaulich schildern sie das Zusammenwirken von traumaspezifischen Situationsfaktoren und biografischen Risikokonstellationen. Zugleich betonen sie die Schutz- und Stabilisierungsfaktoren, die im Rahmen der aktuellen Resilienzforschung identifiziert und beschrieben werden. „Das Erkennen und die Auseinandersetzung mit diesen protektiven und stabilisierenden Faktoren in der menschlichen Entwicklung spielt in den Ansätzen der modernen Traumaarbeit eine wichtige Rolle. Sie sind deshalb auch in diesem Handbuch der Kompass für die zentrale Richtungsbestimmung traumapädagogischer Handlungsansätze.“ (59)
Der zweite Abschnitt „Leitlinien traumabezogener Interventionen im sozialpädagogischen Alltag“ stellt den praxisorientierten Kern des vorliegenden Handbuches dar. In insgesamt neun Kapiteln werden detailliert unterschiedliche Zugänge und Interventionen theoriegeleitet gerahmt, in ihrer Umsetzung konkret beschrieben und bezogen auf die damit verbundenen Haltungen, Chancen und Risiken reflektiert.
Im ersten Kapitel „Erst verstehen – dann handeln“ plädieren die Autorinnen für einen „verstehensorientierten“ Zugang. „Richtungsweisend für diesen Zugang kann das in der Praxis verbreitete Denkmodell des „Konzept des guten Grundes“ sein. Dieses basiert auf Grundannahmen, die davon ausgehen, dass das Verhalten von Menschen normalerweise nicht destruktiv motiviert ist, sondern aus dem inneren System des Menschen heraus Sinn ergibt.“ (63) An konkreten Fallbeispielen erläutern sie die Umsetzung dieses Prinzips und belegen überzeugend die Vorzüge dieses Zugangs.
Das zweite Kapitel „Safety first – pädagogische Orte als sichere Orte“ setzt sich mit der Herstellung von Sicherheit als Antwort auf das traumainduzierte Angsterleben auseinander. „Typisches Merkmal traumatischer Erfahrungen ist ihre Unberechenbarkeit, die mit einem Gefühl des vollständigen Kontrollverlustes einhergeht. Entsprechend ist das Bedürfnis nach Wiedererlangen von Einschätzbarkeit und Kontrollierbarkeit von Situationen stark ausgeprägt.“ (71f) Prägnant beschreiben die Autorinnen atmosphärische Bedingungen und strukturelle Voraussetzungen einer Einrichtung, um für traumatisierte Kinder und Jugendliche ein „sicherer Ort“ zu werden. Dazu gehören u.a. klare Strukturen, verbindliche Regeln und Konsequenzen, Stress- und Gewaltfreiheit, Sicherheit der Gruppe und Schutz vor neuerlichen Gefährdungen.
„In der Resilienzforschung wird die Bedeutung einer sicheren Bindung zu mindestens einer Person als zentraler Schutzfaktor hervorgehoben.“ (90) Diesem Schutzfaktor ist das dritte Kapitel „Die Fachkraft als sicherer Hafen – Bindungsorientierung in der Traumapädagogik“ gewidmet. Ausführlich und plausibel erläutern die Autorinnen hier die erforderlichen Haltungen und kommunikativen wie personalen Kompetenzen, damit aus einer pädagogischen Beziehung eine stabilisierende personale Bindung werden kann.
„Stabilisierung und Ressourcenorientierung“ (Kapitel 4) bilden den Kern der Neuorientierung in der Arbeit mit traumatisierten Menschen. „Nach langer klinischer Erfahrung psychotherapeutisch tätiger PraktikerInnen war allzu oft deutlich geworden, dass eine rein auf Konfrontation (Erinnern) und Integration (Durcharbeiten) angelegte Bearbeitung des traumatischen Hintergrunderlebens für viele Klientinnen zu keiner Veränderung und schlimmstenfalls gar zu einer weiteren Verschlechterung ihres Zustandes führte.“ (93) Die Autorinnen beschreiben konkret, was Ressourcenorientierung in der pädagogischen Praxis heißt und mit welchen Methoden Ressourcen (neu) entdeckt werden können. Sie verweisen auch auf Handlungsbereiche, in denen Kinder und Jugendliche Selbstwirksamkeit wieder erleben und damit Handlungsautonomie zurück gewinnen können. Die in diesem Zusammenhang bedeutsamen und wirkmächtigen Möglichkeiten der Partizipation in allen Bereichen des Alltags und der Einrichtung werden zwar benannt, hätten aber ausführlicher ausgearbeitet werden können, gerade weil sie alltagsbezogene, niedrigschwellige Lernchancen bieten.
Während sich die vorangegangenen Kapitel mit den Kontextbedingungen und persönlichkeitsstabilisierenden Ansätzen der Traumaarbeit beschäftigen, geht es im Kapitel 5 „Arbeit mit dem Trauma“ um die Frage, auf welche Weise die Auseinandersetzung mit dem traumatischen Ereignis selbst produktiv Gegenstand pädagogischer Arbeit sein kann. Die Autorinnen identifizieren im Wesentlichen drei Ebenen
- Psychoedukation „…im Sinne einer guten Aufklärung der betroffenen Menschen (und ihrer Angehörigen) über die erklärbaren Hintergründe für erlebens- und Verhaltenssymptomatiken…“(119)
- Enttabuisierung, um „…Kinder und Jugendliche von der persönlichen Scham und Schuld zu entlasten, dass nur ihnen so etwas Furchtbares passiert und dass sie entsprechend in ihrer Person dafür verantwortlich sein müssen.“ (122)
- Traumasensible „Biografiearbeit als Möglichkeit der kognitiven Bearbeitung und Versprachlichung der eigenen Geschichte.“ (118)
Im Kapitel 6 „Das multidimensionale Selbst – Ego-States und Innere Teams“ beschreiben die Verfasserinnen, welche Funktion unterschiedliche Ich-Zustände („Ego-States“) der traumatisierten Menschen für deren personales Gleichgewicht haben. Gemeinsam aufzudecken, welche Ich-Zustände welche Funktionen haben „…verschafft sowohl Fachkräften wie Betroffenen einen leichteren Zugang zu Erleben und Verhalten im Selbst oder im Anderen: Aus konturlosen Empfindungen werden klar umgrenzte, vollständige Gestalten.“ (137) Darauf aufbauend kann gemeinsam erarbeitet werden, welche Rollen des „Inneren Teams“ wie am besten zur Situationsbewältigung genutzt werden können.
Ausgangslage für das folgende Kapitel „Traumabasierte Störungen der Affekt- und Impulskontrolle“ ist „…zunächst einmal die Erkenntnis, dass Affekt- und Impulsdurchbrüche eine normale Traumafolgenreaktion sein können und somit im Hilfeprozess als implizit eingeplant werden sollten.“ (144) Die Autorinnen beschreiben anschaulich präventive Entschärfungsstrategien und stellen eine Vielzahl konkreter Übungen zum Selbstschutz, zur Distanzierung und Selbstberuhigung vor, die gut geeignet sind, den Betroffenen in impulsgeladenen Situationen Beruhigung und Stressabbau zu verschaffen.
Die beiden letzen Kapitel dieses Abschnitts beschäftigen sich mit „Erster Hilfe bei Akuttrauma“ (Kapitel 8) bzw. geben einen Überblick über gängige „Psychotherapeutische Hilfen“ (Kapitel 9).
Die Arbeit mit traumatisierten Menschen ist selbst für gut vorbereitete und kompetente Fachkräfte in starkem Maße belastend und herausfordernd. Dabei kann es nicht selten allein durch die Berichte der Betroffenen über traumatische Ereignisse zu einer sogenannten „Sekundären Traumatisierung“ der Fachkraft selbst kommen. Aus diesem Grunde beschäftigt sich der dritte Abschnitt des Buches mit der „Stabilisierung und Selbstfürsorge im Helfersystem als Schutz vor Sekundärer Traumatisierung“. Die Verfasserinnen referieren zunächst die Ergebnisse einer Studie zu Häufigkeit und Ausprägung sekundärer Traumatisierung in der Jugendhilfe, entwickeln dann praktische Strategien und Übungen zur Selbstfürsorge und betonen die Bedeutung einer Unterstützung und kollegialen Beratung im Team.
In ihrer Schlussbetrachtung mahnen sie an, den Fachkräften „…Bedingungen zur Verfügung zu stellen, die es ermöglichen, ihr Mandat zur Verbesserung von Umständen und individuellen Lebensbedingungen wahrzunehmen“(198), fordern diese zugleich aber auch auf, Verantwortung zu übernehmen, denn „…die Auseinandersetzung mit mangelhaften Bedingungen und Verhältnissen (darf) nicht dazu dienen, sich aus der pädagogischen Selbstverantwortung zurückzuziehen und sich auf das Beklagen der Umstände zu reduzieren.“ (199)
Fazit
Das vorliegende Buch überzeugt durch seine klare Struktur und die Fähigkeit der Autorinnen, auch komplexe theoretische Erklärungsmodelle und Zusammenhänge differenziert und zugleich anschaulich und verständlich darzustellen. Der durch die zahlreichen Fallbeispiele und praktischen Übungen hergestellte hohe Praxisbezug kann dazu beitragen, Ängste und Unsicherheiten im Umgang mit Traumatisierung und Traumafolgen in Arbeitsfeldern der sozialen und pädagogischen Arbeit abzubauen und stabilisierende, resilienzfördernde Bedingungen für die Betroffenen zu gestalten. Die verständliche, gleichwohl anspruchsvolle Darstellung macht das Buch für Studierende, Fachkräfte ebenso wie für Expertinnen und Experten zu einem Schlüsselwerk über die sozialpädagogische Arbeit mit traumatisierten Menschen.
Ein besonderes Lob gebührt Verlag und Lektorat, die durch eine lebendige und ansprechende Gestaltung des Textes und eine plausible Textnavigation den „handwerklichen“ Nutzen dieses Werkes unterstützt haben.
Rezension von
Dipl.-Soz. Willy Klawe
war bis März 2015 Hochschullehrer an der Hochschule für Soziale Arbeit & Diakonie Hamburg. Jetzt Wissenschaftlicher Leiter des Hamburger Instituts für Interkulturelle Pädagogik (HIIP, www.hiip-hamburg.de)
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