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Sayime Erben: Gewalt und Ehre

Rezensiert von Prof. Dr. Roland Stein, 27.03.2013

Cover Sayime Erben: Gewalt und Ehre ISBN 978-3-86226-146-8

Sayime Erben: Gewalt und Ehre. Ehrbezogene Gewalt aus Täterperspektive. Centaurus Verlag & Media KG (Freiburg) 2012. 116 Seiten. ISBN 978-3-86226-146-8. 18,80 EUR.

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Thema

Ehrbezogene Gewalt ist ein zunehmendes Thema in einer multikulturellen Gesellschaft. Zum einen dürfen nicht Kultur und Ethnie undifferenziert mit bestimmten Gewaltformen identifiziert werden – von großer Bedeutung ist die Untersuchung der komplexen Hintergründe und Zusammenhänge. Zum anderen, und dies macht auch die Verfasserin deutlich, betrifft „die Frage der Ehre“ nicht allein die Opfer – sondern zum Verständnis von Gewaltvorgängen sind auch genauere Analysen der Dynamik auf der Täterseite von Bedeutung. Eben dieser Frage widmet sich die Forschungsarbeit von Sayime Erben.

Autorin

Die Verfasserin hat in der Türkei Lehramt Deutsch studiert, anschließend einen Magister in Erziehungswissenschaften erworben und dann 2009 an der Ludwigs-Maximilians-Universität München im Fach Pädagogik zur Frage der Diskriminierungserfahrungen straffällig gewordener türkischer Migrantenjugendlicher promoviert. Mittlerweile ist sie als Dozentin an der Konya Universität in der Türkei tätig.

Entstehungshintergrund

Im Buch wird der Entstehungshintergrund der durchgeführten Untersuchung nicht direkt deutlich. Allerdings dürfte er sich in Folge der Dissertationsschrift der Verfasserin und der darin geführten Auseinandersetzung ergeben haben, und „dahinter“ wiederum steht die Geschichte der Verfasserin selbst mit ihrem beruflichen Werdegang zwischen Türkei und Deutschland, wobei ergänzend ihre Situation als Frau von Bedeutung sein dürfte.

Aufbau und Inhalt

Da es sich um die Darstellung einer kleineren eigenen empirischen Untersuchung handelt, folgt der Aufbau des Buches diesem Zweck:

  • Eine Einführung skizziert den Rahmen der Arbeit.
  • Im ersten Hauptkapitel wird ein Forschungsüberblick gegeben; dieser bezieht sich zunächst auf türkisch- und arabischsprachige, dann auf deutschsprachige Studien.
  • Der Bezug zwischen einem bestimmten Ehrverständnis und dem Vorkommen von Gewalt wird im zweiten Hauptkapitel hergestellt. Dabei erfolgt ein besonderer Fokus auf die türkische Gesellschaft. Es werden ein grundsätzliches Verständnis von (familiärer) Ehre und ein Ehrbegriff entwickelt. Besondere Aufmerksamkeit gilt gerade angesichts der erheblichen Unterschiede in der türkischen Gesellschaft der geschlechtsspezifischen Sozialisation, aber auch Sanktionen bei Ehrverletzungen und Möglichkeiten der Wiederherstellung von Ehre.
  • Im dritten Hauptkapitel werden einschlägige Theorien und Erklärungskonzepte zum Zusammenhang Ehre-Gewalt zusammengetragen. Dies geschieht aus zwei Blickwinkeln heraus: zum einen geschlechter-, zum anderen kriminalsoziologisch.
  • Anschließend werden Grundanlage, Stichprobe, Vorgehen sowie Auswertungskonzept der eigenen empirischen Untersuchung vorgestellt.
  • Ein ausführliches Kapitel ist der Darstellung der Ergebnisse gewidmet. Dabei werden drei Schwerpunkte gewählt: erstens ein Blick auf das männliche Rollenverständnis, zweitens die Dynamik der Ehrerhaltung und Ehrwiederherstellung „zwischen Angriff und Verteidigung“ – und drittens die Wiederherstellung von Ehre selbst bei besonderer Berücksichtigung des sozialen Umfeldes.
  • Ein im Verhältnis der Kapitel recht ausführliches Resümee mit Ausblick beschließt das Buch.

Abbildungs- wie Tabellenverzeichnis sind der Arbeit beigefügt. Im Anhang findet sich der eingesetzte Interviewleitfaden.

Diskussion

Das Thema dieser Forschungsarbeit ist wichtig und hochaktuell. Leider ergeben sich jedoch aus wissenschaftlicher Perspektive einige Kritikpunkte:

Das Buch fällt mit 93 Textseiten sehr knapp aus. Sehr bedauerlich ist die erhebliche Kürze der einzelnen Kapitel. So wird zwar der türkische wie der deutsche Forschungsstand seriös aufgearbeitet und referiert; wünschenswert wären aber detailliertere Darstellungen der recherchierten Befunde und auch der zusammenfassenden Schlussfolgerungen gewesen. Die Theorie hätte günstiger systematisiert und teilweise deutlich ausführlicher grundgelegt werden können; so wird der zugrunde gelegte Ehrbegriff erst recht spät thematisiert und geklärt. Dezidierte Fragestellungen der eigenen Untersuchung bleiben unklar; hierzu muss der Leser suchend in die Einleitung zurückblicken: „Ziel der vorliegenden Studie ist es …, das Ehrverständnis von Männern, die im Namen der Ehre Gewalt ausüben, herauszuarbeiten“ (S. 3).

Die Stichprobe für die eigenen Interviews fällt mit fünf Versuchspersonen sehr klein und notgedrungen auch außerordentlich selektiv aus. Eines der Interviews wurde nicht aufgenommen, sondern nur schriftlich protokolliert. Obwohl dies nachvollziehbar begründet wird, ist die Datenlage entsprechend kritisch zu sehen. Auch der Weg von der vollzogenen qualitativen Inhaltsanalyse zu den konkreten Ergebnissen und ihrer Darstellung wird nicht recht klar.

Positiv hervorzuheben ist die Thematisierung von Ehrkonzepten auf der Täterseite der Gewalt und ihre empirische Untersuchung als solche. Die Entfaltung gerade eines traditionellen türkischen Ehrbegriffs stellt einen wichtigen Beitrag für die Gewaltdiskussion dar, der Aufmerksamkeit verdient. Im Resumée der Arbeit ist zwar der Bezug auf eigene Forschungsergebnisse oder auch die vollzogenen empirischen und theoretischen Recherchen nicht immer ganz eindeutig, aber es stellt einen treffenden und gelungenen Abriss wesentlicher Aspekte der Problematik dar.

Fazit

Dieses schmale Büchlein führt in eine wichtige, bisher zu wenig beachtete Fragestellung ein: die Abhängigkeit vieler Gewalttaten von subjektiven Ehrverletzungen und den Reaktionen auf dieses Erleben. Auch wenn die Theoriefundierung sehr knapp ausfällt und die Stichprobe der eigenen Interviews klein, auch wenn die Fragestellungen nicht ausreichend entwickelt werden – so wird denn doch die spezifische Thematik anhand der dargestellten Theorie, der Analyse des Forschungsstandes sowie der eigenen Befunde für eine potenzielle größere Öffentlichkeit aufgerissen. In dieser Hinsicht kommt den Forschungsergebnissen ein wichtiger – wenn auch nur – exemplarischer Charakter zu. Adressaten des Buches können alle diejenigen sein, die sich mit den Zusammenhängern zwischen Migration und Gewalt in Theorie und Praxis differenzierter auseinandersetzen möchten.

Rezension von
Prof. Dr. Roland Stein
Universität Würzburg, Institut für Sonderpädagogik - Pädagogik bei Verhaltensstörungen
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Es gibt 32 Rezensionen von Roland Stein.

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ISSN 2190-9245