Rolf Blandow, Judith Knabe et al. (Hrsg.): Die Zukunft der Gemeinwesenarbeit
Rezensiert von Maren Schreier, 16.10.2012

Rolf Blandow, Judith Knabe, Markus Ottersbach (Hrsg.): Die Zukunft der Gemeinwesenarbeit. Von der Revolte zur Steuerung und zurück? Springer VS (Wiesbaden) 2012. 239 Seiten. ISBN 978-3-531-18702-0. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 50,00 sFr.
Thema
Gemeinwesenarbeit (GWA) fristet in der deutschsprachigen Sozialen Arbeit ein schillerndes Dasein: Mal gilt sie als Handlungsfeld, mal als Arbeitsprinzip, mal – neben Einzelfallarbeit und Gruppenarbeit – als „3. Methode“. In zahlreichen Kontexten scheint sie mittlerweile von der als „moderner“ geltenden Sozialraumorientierung überformt zu sein. Gleichwohl existieren vielerorts und länderübergreifend lebendige GWA-Szenen, in denen Gemeinwesenarbeit_innen in langer Tradition an der Gestaltung von Lebensbedingungen in Armutsquartieren mitwirken, und in denen darüber hinaus ein intensiver Fachdiskurs über Theorien, Methoden und Funktion der GWA gepflegt wird. Die Stadt Köln ist ein solcher Ort. Der Sammelband präsentiert Einschätzungen von Fachkräften, die seit Jahren die Kölner GWA in Wissenschaft und Praxis mitgestalten.
Entstehungshintergrund
Der Sammelband geht zurück auf die Fachtagung „Von der Revolte zur Steuerung und zurück? Zur Zukunft der Gemeinwesenarbeit“, die im November 2010 vom Kölner Verein für Gemeinwesenarbeit „Veedel e.V.“ und der Fachhochschule Köln initiiert wurde. Damit ist diese Publikation Ausdruck eines langjährigen Austauschs zwischen der FH Köln und den Kölner Trägern der GWA. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes arbeiten an den Fachhochschulen Köln und Düsseldorf sowie in unterschiedlichen Praxisfeldern der Gemeinwesenarbeit in Köln und bringen somit eine Vielfalt an Perspektiven auf das Themenfeld in den Band ein.
Aufbau und Vorgehensweise
Die inhaltliche Gliederung des Bandes orientiert sich an fünf Themenfeldern:
- Wissenschaftliche Perspektiven der Gemeinwesenarbeit (Beiträge von Herbert Schubert und Werner Schönig).
- Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen für die Gemeinwesenarbeit (Beiträge von Reinhold Knopp/Anne van Rießen, Markus Ottersbach sowie Werner Schönig).
- Aufgaben- und Wirkungsfelder der Gemeinwesenarbeit (Beiträge von Katja Veil, Sabine Kistner-Bahr/Judith Knabe/Katja Neumann sowie Ulrich Deinet)
- Methoden der Gemeinwesenarbeit (Beiträge von Klaus-Martin Ellerbrock und Holger Spieckermann)
- Gemeinwesenarbeit in Köln (Beiträge von Stefan Peil, Barbara Betzler, Gabriele Busmann, Elmar Lieser, Michael Kühne sowie Ute Gau).
Diese thematische Untergliederung ermuntert die Leserin, je nach Interessenschwerpunkt einzelne Beiträge gezielt herauszugreifen. Der Band eignet sich sowohl zum chronologischen als auch zum selektiven Lesen und dient damit einer einführenden wie vertiefenden Auseinandersetzung zugleich.
Inhalt
Der Gliederung in fünf Themenfelder folgend, bietet der Sammelband Einblicke in zentrale Aspekte der gegenwärtigen Diskussion um Gemeinwesenarbeit. Gerahmt durch wissenschaftlich-theoretische Perspektiven werden Aufgaben- und Wirkungsfelder, Methoden sowie lokal-spezifische Umsetzungsformen - teilweise auf Basis persönlicher Erfahrungsberichte – dargestellt. In allen Beiträgen werden aktuelle Herausforderungen und fachliche wie (lokal-)politische Konsequenzen für die GWA mindestens angeschnitten, teilweise auch explizit diskutiert.
In ihrem einleitenden Aufsatz „Gemeinwesenarbeit: Renaissance oder Verabschiedung eines Arbeitsprinzips der Sozialen Arbeit?“ diskutieren Jürgen Blandow, Judith Knabe und Markus Ottersbach die heterogenen Entwicklungslinien der bundesdeutschen GWA. Als „wesentliche Bausteine der GWA“ (S. 7) benennen sie die von Wolfgang Hinte und Fritz Karas 1989 in ihrem „Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit“ entwickelten Prinzipien: Orientierung an der Sozialstruktur eines geografisch bzw. administrativ festgelegten und überdies als sozial benachteiligt markierten Sozialraums; Orientierung an den Interessen und Bedürfnissen der Bewohner_innen sowie an deren sozialen Netzwerken; Unterstützung von Selbsthilfe und Selbstorganisation dieser Menschen; zielgruppenübergreifendes Handeln sowie ressort- und arbeitsfeldübergreifende Vernetzung und Kooperation (vgl. S. 7f.). Einen zentralen Verdienst der GWA sehen die Autor_innen darin, „den Blick sowohl der Vertreter(innen) der Sozialen Arbeit als auch der Politik für die Lebenswelt bzw. den Sozialraum der Menschen in sozial benachteiligten bzw. marginalisierten Quartieren geschärft zu haben“ (S. 8). Obgleich GWA in vielen Kontexten als „dritte Methode“ etabliert sei, darüber ein „zentrales Arbeitsprinzip“ darstelle, und damit nicht zuletzt „für alle Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit große Relevanz“ besäße, spiele sie dennoch „eine umstrittene Rolle in der Sozialen Arbeit“ (alles S. 8): GWA führe „inzwischen fast nur noch ein Nischendasein“ (S. 7). Spannungsfelder und offene Fragen des GWA-Diskurses wie beispielsweise bezogen auf das Verhältnis von GWA zu neuen Formen politischer Steuerung (wie „Governance“ oder „Sozialraumorientierung“) reißen die Autor_innen kurz an und geben damit einen ersten Einblick in die Themenvielfalt des Sammelbandes.
Im ersten Themenfeld „Wissenschaftliche Perspektiven der Gemeinwesenarbeit“ diskutieren Herbert Schubert und Werner Schönig Aspekte zukunftsfähiger GWA.
Den Auftakt gibt Schubert mit seinem Aufsatz „Die Gemeinwesenarbeit im gesellschaftlichen Wandel“. Er schlägt den Bogen von der „aggressiven Version einer marxistisch fundierten GWA“ (1970er Jahre) hin zur „heutigen Sozialraumarbeit“ (S. 15), der er die Rolle einer wichtigen Akteurin „im modernen Governance-Modell“ zuschreibt (vgl. S. 25). Seine Argumentation stützt sich auf folgende Thesen: Programmatik und Vokabular einer „aggressive[n] marxistische[n] GWA“ (S. 15) seien im gegenwärtigen GWA-Diskurs noch immer prägend. Die Möglichkeiten einer konfliktorientierten GWA würden retrospektiv jedoch überschätzt. Um ihrem Nischendasein zu entkommen, müsse sich GWA der gewandelten Gesellschaftsstruktur – dem „neuen Vergesellschaftungsmodus“ der dreifachen Individualisierung (Beck) – stellen (S. 18). So sei GWA gefordert, weniger die „Kollektivperspektive“ als vielmehr „Subjektperspektiven“ in Gestalt von Deutungen und Aneignungsweisen der Menschen in Quartiersentwicklungsprozesse einzubringen (S. 22). Seine Überlegungen verdeutlicht Schubert, indem er GWA ins Verhältnis zu Steuerungslogiken kommunaler Governance-Konzepte (hier u.a.: „Sozialraumorientierung“) setzt: GWA sieht er mittlerweile „als Teil des „kommunalen Integrationsregimes“ integriert (S. 24). Damit sei ihr zugleich „der Wind aus den Segeln“ genommen worden (S. 23). Vor diesem Hintergrund sei es für GWA ebenso überkommen wie illusionär, sich weiterhin als „Gegenmacht“ zu konzipieren. Aufgabe einer zukunftsfähigen GWA sei es, sich als integrierte Akteurin in einem „professionellen Multiakteursansatz“ zu verorten, in welchem eine kooperative und kontinuierliche „Verständigung über gemeinsame Problemdefinitionen und Handlungsziele“ stattfinden könne (S. 24).
Eine andere Fokussierung nimmt Werner Schönig in seinem Aufsatz „Born to be wild? Aktuelle Varianten, Zielgruppen und Haltungen der Gemeinwesenarbeit“ vor. Vor dem Hintergrund historischer Entwicklungslinien präsentiert er verschiedene Aspekte, die eine differenzierte(re) Diskussion zu Perspektiven und Grenzen der GWA ermöglichen sollen. Unter anderem fokussiert Schönig die konzeptionelle Nähe von GWA und Sozialraumorientierung, die eine differenzierte Betrachtung beider Ansätze herausfordere: „Denn die Sozialraumorientierung (…) hat sich über die ursprünglichen Ansätze einer Arbeit in sozialen Brennpunkten und Armutsgebieten hinaus fortentwickelt und sich mit dieser Entwicklung zum Teil im Widerspruch zu ihren Ursprüngen in der Gemeinwesenarbeit positioniert“ (S. 31). Während die Sozialraumorientierung oftmals Verwaltungsinteressen und -logiken entspringe und damit „tendenziell als 'Öl im Getriebe'“ fungiere (S. 34), streue eine an einer Minderung von Ausgrenzungsprozessen und den Bedürfnissen einzelner sozialer Gruppen orientierte GWA auch einmal „Sand in das Getriebe“ (S. 33). An Fragen der (politischen) Positionierung von GWA anknüpfend formuliert Schönig eine These, die die eher als randständig wahrgenommene Rolle der GWA (vgl. den einleitenden Aufsatz der Herausgeber_innen) erklären könnte: „Angesichts der Tatsache, dass in Deutschland die Soziale Arbeit weitgehend als Instrument der Sozialpolitik zur Intervention im Einzelfall ausgebaut ist, wird eine Gemeinwesenarbeit, die sich in Konfrontation zur staatlichen Sozialpolitik positioniert, zügig und dauerhaft marginalisiert“ (S. 37). Eine Chance für eine zukünftige GWA sieht Schönig insbesondere in einer „verdeckten Zielgruppenorientierung“ (S. 39): Menschen könnten somit - quasi stigmatisierungfrei – „als Bewohner(innen) eines Sozialraums“ angesprochen werden und nicht als „Problemgruppe[n]“ (S. 40). Abschließend hebt Schönig die Bedeutung einer spezifisch-professionellen Haltung der GWA hervor, deren Fundament er in Rückbindung an Saul Alinskys Postulat einer „Leidenschaft für den Nächsten“ sowie an die christliche Soziallehre verankert.
Das zweite Themenfeld des Bandes -„Aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen für die Gemeinwesenarbeit““ – wird eröffnet durch den Beitrag von Reinhold Knopp und Anne van Rießen. Sie skizzieren zentrale Aspekte der „Veränderung der demografischen Entwicklung“ und arbeiten vor diesem Hintergrund Perspektiven einer generationengerechten Quartiersgestaltung heraus. Neben zentralen Befunden der Altersforschung wird die zunehmende Bedeutung der partizipativen Einbindung Älterer in gesellschaftliche Prozesse hervorgehoben (S. 46f.). Hier formulieren Knopp und van Rießen Anknüpfungspunkte für eine sozialräumliche Perspektive Sozialer Arbeit. Einer gemeinwesenorientierten Altenarbeit käme hier die Rolle eines „Motor[s] in der Quartierentwicklung“ zu (S. 55). Anschließend diskutieren die Autor_innen Möglichkeiten der zielgruppenspezifischen Modifizierung aktivierender und beteiligungsorientierter Methoden aus der Jugendarbeit. Beispielhaft beschreiben sie die Sozialraumerkundung mit Älteren. Mit dem Konzept „WohnQuartier4“ (http://www.wohnquartier-4.de) und ausgewählten Projekten der Altenarbeit in Düsseldorf werden Möglichkeiten präsentiert, Einfluss auf die Entwicklung der Lebensbedingungen in den Quartieren zu nehmen und u.a. der Zunahme von Altersarmut interdisziplinär und ressourcenorientiert begegnen zu können.
Markus Ottersbach behandelt in seinem Beitrag die „Herausforderungen durch Migration“, vor die er GWA gegenwärtig gestellt sieht. Er diskutiert zunächst strukturelle Aspekte der Lebenssituation von Menschen mit Migrationshintergrund in marginalisierten Quartieren. Anschließend arbeitet er die hieraus resultierenden Aufgaben für GWA heraus. Dieser käme insbesondere die Aufgabe einer Relationierung von migrations- und lebensweltspezifischen Kontexten (insbesondere der subjektiven Verarbeitungsformen) und den sozialen Kontexten der jeweiligen Quartiere zu (vgl. S. 70). Dies erfordere jedoch spezifische Kenntnisse und Fähigkeiten der Professionellen in der GWA. Ottersbach empfiehlt Gemeinwesenarbeiter_innen zur Annäherung an die heterogenen Lebenswirklichkeiten vom Menschen einen Zugang mittels qualitativer biografischer Verfahren.
In seinem Aufsatz “Die Entwicklung der Armut in Deutschland“ thematisiert Werner Schönig den historisch gewachsenen engen Zusammenhang von Armut und GWA. Bezugnehmend auf stadtsoziologische Diagnosen (wie die Verfestigung von Armutsgebieten oder eine zunehmende sozialräumliche Polarisierung) weist Schönig auf die Grenzen gemeinwesenarbeiterischer Interventionen hin. Er diagnostiziert eine strukturelle Überforderung der GWA insbesondere in Gebieten, die durch verfestigte Armut zu charakterisieren sind. Deutlich hebt Schönig hier die gesamtgesellschaftliche Verantwortung im Kampf gegen Armut und Ausgrenzungsprozesse hervor (S. 79). Zugleich verweist er auf die Ambivalenzen gegenwärtiger Aufwertungsprojekte (Stichwort: Gentrifizierung): In gleichem Maße, wie Wohn- und Lebensqualität sowie Image ehemals „verrufener“ Quartiere steigen, steige das Mietniveau mit der Folge einer sukzessiven Verdrängung bisher ansässiger Mieter_innen. Am Beispiel des eher von Mittelschichtsangehörigen praktizierten „Guerilla-Gardening“ weist Schönig zudem auf die Gefahren einer Kolonialisierung von Armutsgebieten hin.
Im dritten Themenfeld „Aufgaben- und Wirkungsfelder der Gemeinwesenarbeit“ werden Entwicklungen und Perspektiven in den Feldern Wohnen, lokale Ökonomie und sozialräumliche Jugendarbeit diskutiert.
Katja Veil nimmt in ihrem Beitrag „Entwicklungen und Perspektiven im Feld des Wohnens“ Bezug auf die lange Tradition der gemeinwesenarbeiterischen Obdachlosenarbeit. Dass und inwiefern das Handlungsfeld „Wohnen“ ein (nicht nur für GWA) zentrales ist, verdeutlicht sie zunächst in historischer Perspektive am Beispiel ausgewählter Projekte der Obdachlosenarbeit in München und Köln. Anschließend skizziert sie wohnungspolitische Entwicklungen der BRD seit den 1970er Jahren, die neben sich wandelnden Konzepten zur Steuerung von Wohnverhältnissen nicht zuletzt in integrierte Förderprogramme wie beispielsweise das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“ mündeten. Veil problematisiert insbesondere den Trend des Rückzugs öffentlicher Träger aus dem Wohnungsmarkt und deren ausgrenzende Folgen für einkommensschwache Bevölkerungsgruppen. Abschließend plädiert sie für eine Unterstützung der Selbstorganisation betroffener Mieter_innen, beispielsweise mit dem Ziel kollektiv durchzusetzender Mietminderungen. Dabei weist sie wiederholt auf die Begrenzungen lokaler Handlungskonzepte hin: Die Entwicklung städtischen Wohnraums sei „vor allem eine Frage der freien Wohnungsmärkte und deren politischer Steuerung“ (S. 94), eine einseitige Konzentration der Interventionen auf einen lokalen Sozialraum führe demnach in eine Sackgasse.
Eine seit Jahren in GWA-Kontexten populäre Thematik beleuchtet der Aufsatz „Formen lokaler Ökonomie und deren Bedeutung für benachteiligte Quartiere“ von Sabine Kistner-Bahr, Judith Knabe und Katja Neumann. Auch sie heben zunächst die traditionell enge Verknüpfung von Gemeinwesenarbeit mit Armut und Arbeitslosigkeit hervor. Auch wenn sich lokalökonomische Handlungsansätze historisch bis in die Settlementbewegung (Hull House) zurück verfolgen ließen, stünde GWA aktuell vor veränderten Herausforderungen: Armut und Arbeitslosigkeit seien gesamtgesellschaftliche Probleme und könnten „nur als externer Faktor in benachteiligten Stadtteilen gelöst und bearbeitet werden“ (S. 104). Gleichwohl sehen die Autorinnen Ansatzpunkte für GWA, soziale Ungleichheit auch und gerade in „benachteiligten Stadtteilen“ durch Projekte lokaler Ökonomie zu lösen: Durch „neue Formen des Wirtschaftens zur Sicherstellung der lokalen Daseinsvorsorge, aber auch die Schaffung von „guter“ Beschäftigung in den Stadtteilen“ (S. 104). Die Autorinnen skizzieren unterschiedliche Konzepte lokaler Ökonomie sowie die variierenden Ausprägungsformen von Sozialgenossenschaften. Mit der „Fundus eG“ (http://fundus.chorweiler.info) wird eine Genossenschaft im Kölner Stadtbezirk Chorweiler vorgestellt, die Dienstleistungen und Qualifizierungs- wie Beschäftigungsmöglichkeiten für die Menschen im Quartier vorsieht. Die Autorinnen diskutieren Perspektiven derartiger Projekte vor dem Hintergrund von Umsetzungsbarrieren und politischen Forderungen.
Ulrich Deinet thematisiert in seinem Beitrag „Sozialräumliche Jugendarbeit und Gemeinwesenarbeit“ Parallelen, Schnittstellen und Differenzen beider Ansätze. Dabei hebt er die Relevanz eines stärkeren Austauschs beider Felder hervor, nicht zuletzt deshalb, weil beide „wichtige Funktionen in der Entwicklung eines Gemeinwesens [haben, M.S.] und (…) von daher aufeinander angewiesen“ seien (S. 129). Anhand der von Christian Reutlinger und Annegret Wigger (Reutlinger/Wigger 2008) entwickelten drei Dimensionen einer Sozialraumarbeit (1. Arbeit an Strukturen, 2. Gestaltung von Orten und – hier in Anlehnung an Christian Spatschek 2010 modifiziert: 3. Pädagogische Arbeit) zeigt Deinet auf, in welchen Feldern sich sozialräumlich orientierte Jugendarbeit und GWA ideal ergänzen könnten.
Im vierten Themenfeld des Bandes werden „Methoden der Gemeinwesenarbeit“ diskutiert. Klaus-Martin Ellerbrock präsentiert „Soziale Gruppenarbeit als Methode zur Unterstützung von Beteiligung und Engagement“. Ellerbrock fokussiert das „Engagement für die eigenen Belange“ und präsentiert sowohl das von Maria Lüttringhaus entwickelte „Stufenmodell der Beteiligung“ als auch das vierstufige Engagementmodell von Sylvia Kade. In Abgrenzung zum klassischen Verständnis von „Bürgerengagement“ schärft Ellerbrock auf dieser Grundlage u.a. die Wahrnehmung für die sogenannte „erste Form des Engagements“, das Engagement „ich für mich“ (S. 141f.). Dieses habe insbesondere für die gemeinwesenarbeiterische Haltung in der Arbeit mit Gruppen eine zentrale Bedeutung, da in der Wertschätzung und Achtung der unmittelbar eigenen Interessen der Menschen eine wichtige Triebfeder für Engagementförderung bzw. -unterstützung läge. Am Beispiel eines prozessorientierten methodischen Ansatzes rund um die Gründung des „Klub Aktiv“ in Köln-Chorweiler (Gruppenarbeit für Menschen im Übergang von der Berufs- bzw. Familienphase in den „Ruhestand“) verdeutlicht Ellerbrock, wie ein derart geweitetes Engagementverständnis praktisch realisiert werden kann.
Holger Spiekermann wirft in seinem Beitrag „Aktivierende Befragung als Methode der Gemeinwesenarbeit“ einen kritisch-reflexiven Blick auf dieses „Standardinstrument“ (S. 155) der GWA. Dabei analysiert er zunächst Darstellungen methodischer Ansätze der GWA - insbesondere der Aktivierenden Befragung – in gängigen Lehrbüchern und Sammelbänden. Als Desiderat macht Spiekermann hier die fehlende Diskussion von Methoden der Auswertung und Analyse der im Rahmen Aktivierender Befragungen erhobenen Daten aus. Im Anschluss daran stellt er die Methode der Aktivierenden Befragung vor, um deren Möglichkeiten und Grenzen am Beispiel eines (Lehrforschungs-)Projektes im Kölner Stadtteil Ostheim zu illustrieren. Eine Reflexion über die An- und Herausforderungen von Lehrforschungsprojekten rundet den Beitrag ab.
Stefan Peils Beitrag „Zur Geschichte der Gemeinwesenarbeit“ in Köln eröffnet das fünfte Themenfeld „Gemeinwesenarbeit in Köln“. Peil schlägt dabei den Bogen von den 1920er Jahren bis zur Gegenwart. Ausgehend von den Veröffentlichungen und praktischen Aktivitäten von Herta Kraus kirchlichen Initiativen oder demokratiepädagogischen Ansätzen der britischen und amerikanischen Offiziere in den Nachbarschaftsheimen der Nachkriegsjahre, beleuchtet Peil die Rolle, die die staatliche FH Köln beim Aufbau von GWA-Projekten gespielt hat. Hier wurden insbesondere im Rahmen des Projektstudiums mit Studierenden zahlreiche GWA-Projekte initiiert. Bis heute kennzeichnet die enge Verzahnung von FH und GWA-Projekten die Kölner GWA-Praxis. Wichtige und bis heute wegweisende Impulse setzte hier nicht zuletzt eine Kooperation mit der Gesamthochschule Kassel, in der in den 1970er Jahren die Entwicklung der GWA als „Arbeitsprinzip“ vorangetrieben wurde.
Einen Einblick in die praktische Umsetzung von GWA gibt Barbara Betzler in ihrem Beitrag „Gemeinwesenorientierte Kinder- und Jugendarbeit am Beispiel des Veedel e.V.“ Vor dem Hintergrund kursorischer Einblicke in das heterogene Feld raumbezogener Ansätze und Theoretisierungsversuche greift Betzler die „Hürde[n] und Chance[n]“ auf, vor die sich die Kinder- und Jugendarbeit angesichts dieser Theorie- und Begriffsvielfalt gestellt sieht. Sie beschreibt das Projekt „Veedel-Aktiv“ (http://www.veddel-aktiv.de), von dem ausgehend in den Jahren 2009 und 2010 unterschiedliche raumorientierte Aktivierungsmethoden (Aktivierende Befragung, Quartierserkundung mit Film- und Fotokamera, Nadelmethode, Zukunftswerkstatt) insbesondere mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Gernsheimer Straße in Köln Anwendung fanden. Die Ergebnisse dieser Methoden werden beschrieben und ihre Perspektiven diskutiert. Betzler fordert darüber hinaus verlässliche Rahmenbedingungen für GWA auf der Basis der „Entwicklung eines gemeinsamen Fundaments zur Bearbeitung komplexer Problemlagen“ (S. 194) und hebt dabei die besondere Verantwortung von Politik und Hochschulen hervor.
Gabriele Busmann diskutiert in ihrem Beitrag „Bürgerschaftliches Engagement als Wirkungsfeld“ die Chancen, aber auch die Ambivalenzen dieses seit einigen Jahren „boomenden“ Konzepts. Hierbei fokussiert sie die Rahmenbedingungen von GWA und bürgerschaftlichem Engagement in benachteiligten Quartieren. Sie stellt Beispiele aus der Kölner Praxis vor und skizziert detailliert, welche Voraussetzungen und Handlungsempfehlungen hieraus abzuleiten sind. Busmann zeigt auf, dass und inwiefern Gemeinwesenarbeit ein großes Potenzial für demokratische Partizipation und gesellschaftliche Beteiligung insbesondere von Menschen aus Armutsquartieren birgt.
Die Möglichkeiten eines Wohnungsunternehmens, Einfluss auf soziale Stadt(teil)entwicklungsprozesse zu nehmen, behandelt Elmar Lieser in seinem Aufsatz „Die soziale Verantwortung eines kommunalen Wohnungsunternehmens am Beispiel der GAG“. “GAG“ ist das Kürzel für die börsennotierte „gemeinnützige Immobilien-AG Köln“, die eigenen Angaben zufolge mit derzeit 42.000 Wohnungen als größte Vermieterin Kölns gilt (www.gag-koeln.de). Lieser beschreibt die Herausforderungen einer Aktiengesellschaft, die zwar noch zu zwei Dritteln (Stand 2012) in kommunaler Hand, jedoch wiederholt von Verkaufsbestrebungen an Finanzinvestoren bedroht ist. Mit dem Ziel, die Bedeutung eines kommunalen Wohnungsunternehmens insbesondere für ein soziales Zusammenleben in der Stadt stärker zu akzentuieren, wurde 2007 die Abteilung „Sozialmanagement“ als „Bestandteil einer umfassenden Gesamtstrategie des Unternehmens“ (S. 218) institutionalisiert. Lieser, der diese Abteilung von Beginn an leitet, beschreit Tätigkeitsfelder und Leitlinien und gibt abschließend Einblick in die konkrete Arbeit anhand ausgewählter Projektbeispiele, wobei die Verzahnung mit lokalen Projekten der Gemeinwesenarbeit deutlich wird.
Michael Kühne wirft aus der Perspektive eines evangelischen Pfarrers einen Blick auf „Gemeinwesenarbeit und Gemeindearbeit“. Er beschreibt seine eigene Annäherung an die lokale Gemeinwesenarbeit und skizziert entlang dreier Ebenen („Information“ - „Austausch“ – „Integration/Inklusion“), inwiefern sich Gemeindearbeit und Gemeinwesenarbeit ergänzen. Ausdrücklich betont Kühne die politische Rolle, die eine derartige Zusammenarbeit einnehmen sollte, mit dem Ziel „konkret vor Ort Schritte zu einer menschlichen Gesellschaft zu tun“ (S. 228).
Ute Gau beschreibt in ihrem Beitrag die Entwicklungen und Erfahrungen der „Gemeinwesenarbeit in Köln-Chorweiler“, einem in den 1960er Jahren – dem städtebaulichen Konzept der „Neuen Stadt“ folgend – für 40.000 Menschen realisierten Stadtteil. Aktuell leben in den überwiegend von Konkursverwaltern betreuten Wohnungen noch 13.400 Menschen. Gau betont die Bedeutung von Kooperation und Vernetzung, insbesondere zwischen sozialen, kulturellen und religiösen Einrichtungen. Am Beispiel des Projekts „Dialog der Religionen“ verdeutlicht sie die Chancen derartiger Kooperationen, nicht zuletzt auch zur dialogorientierten Thematisierung von Konflikten. Eine kurze Beschreibung der Arbeit des Interkulturellen Zentrum FIZ e.V. (http://www.fiz-chorweiler.de) rundet ihren Beitrag ab.
Diskussion
Die gegenwärtige Fachdebatte um Gemeinwesenarbeit ist facettenreich. Der Sammelband bildet diese Heterogenität in zweifacher Hinsicht ab: Die Beiträge ermöglichen zum Einen Einblicke in die Entwicklungslinien und Theorietraditionen der GWA. Damit eröffnen sich wichtige Anschlussstellen zur Systematisierung des laufenden Diskurses. Auf der anderen Seite resultieren aus der benannten Heterogenität Unschärfen, die für die gesamte gegenwärtige GWA-Debatte kennzeichnend sind. Diese bilden sich zwar auch beim Lesen der Beiträge ab. Zunächst ist jedoch hervorzuheben, dass ein Großteil der Autor_innen das jeweilige Verständnis von GWA entlang einer differenzierten Auseinandersetzung mit Theorietraditionen und Begriffen expliziert und die Ambivalenzen eines unreflektierten Gebrauchs problematisiert. Ab und an reihen sich Konzepte und Begriffe jedoch in recht bunter Mischung aneinander. So werden Ansätze wie Gemeinwesenarbeit, Sozialraumorientierung, Quartiersentwicklung oder Quartiersmanagement kommentarlos in eins gesetzt. Auch suggerieren Begriffe wie Aktivierung, Partizipation, Ressourcenorientierung oder Vernetzung manches Mal Eindeutigkeit, wo diese aufgrund einer überaus heterogenen fachlichen wie ideologischen Aufladung unmöglich ist. Eine GWA, die ihr Gewand scheinbar mühelos wechseln kann und gegenwärtig – beispielsweise als „Sozialraumorientierung“ - in ein kommunales Integrations-Regime integriert zu sein scheint (vgl. Schubert S. 23), ist jedoch meilenweit von einer GWA entfernt, die sich als kritisch-politische Akteurin im Kontext der Gestaltung des Sozialen versteht. Dies ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass sich sozialstaatliche Leitlinien und damit der institutionalisierte „Auftrag“ von GWA verschoben haben. Darüber hinaus ist es ganz entscheidend eine Frage des fachlichen und politischen Selbstverständnisses (Schönig spricht hier von „Haltung“, vgl. S. 41ff.). Dass derartige Differenzen die Debatte durchziehen, problematisiert ja bereits der Titel des Bandes. Dass und inwiefern ein kritisch-reflexiver Blick auf die hieraus resultierenden Ambivalenzen und Unschärfen unerlässlich ist, wird beim Lesen ebenfalls deutlich. Das unterstreicht die Aktualität dieser Publikation ebenso wie die vielfältige Problematisierung der Grenzen lokaler (GWA-)Interventionen. Die lokale Bearbeitung dessen, was als „soziale Spaltung“ bezeichnet wird, stößt dort an ihre Grenzen, wo die diese Spaltungsprozesse auslösenden Faktoren politisch intendiert sind und gesamtgesellschaftlich verantwortet werden – beispielsweise im Gefolge der gegenwärtigen radikalen Umorganisation des sozialstaatlichen Gefüges: Wo das eigenverantwortliche und damit entpolitisierte, bestenfalls noch zu aktivierende Individuum zum Dreh- und Angelpunkt staatlichen Handelns wird, da geraten fachliche Ansätze, die eine kollektive und öffentliche Politisierung des „Privaten“ anstreben, unweigerlich in strukturelle Konfliktlagen. Darauf verweist nicht zuletzt Schönig in seinem ersten Beitrag. Da auch Gemeinwesenarbeit – wie Soziale Arbeit insgesamt – in staatlich institutionalisiertem Auftrag agiert, sind Spannungsfelder hier nicht nur vorprogrammiert, sondern Teil des Ganzen.
Die Beiträge des Bandes regen vor diesem Hintergrund zum Nach- und Weiterdenken an: Sieht sich eine „zukunftsfähige“ GWA in konfliktorientierter Tradition als „Sand im Getriebe“ (Schönig), kommt ihr eine (anlassbezogen) „konsensorientierte“ (ebenfalls Schönig) oder gar eine partnerschaftliche Rolle (Schubert) zu? Welchen (politischen, fachlichen, ideologischen) Logiken folgt GWA – und um welchen Preis? Welche Konsequenzen hat dies für das jeweilige professionelle Selbstverständnis? Deutlich wird: Eine „zukunftsfähige“ Gemeinwesenarbeit steht vor Entscheidungen, nicht zuletzt bezüglich ihrer Rolle und Funktion im gegenwärtigen neosozial-aktivierenden Sozialstaatsgefüge. Gemeinwesenarbeit ist also gehalten, sich offensiv zu positionieren. Damit sind zugleich Fragen der politischen Verortung Sozialer Arbeit aufgeworfen, die auch und gerade über den Gemeinwesenarbeitsdiskurs transportiert werden können.
Insgesamt ist den Herausgeber_innen eine spannende und instruktive Zusammenschau gelungen. Die vielfältigen Perspektiven der Autor_innen decken an vielen Stellen neue, die Fachdebatte bereichernde Aspekte auf. Die Aufarbeitung der historischen Entwicklung der GWA in Köln (Peil) sei hier als Beispiel genannt. Auch der originelle Zugang Spiekermanns über eine systematisierende Sichtung der Literatur zur Aktivierenden Befragung und die daran anschließende selbstkritische Reflexion zu Möglichkeiten und Grenzen von Lehrforschungsprojekten in diesem Feld gibt wertvolle Anstöße zur Weiterentwicklung derartiger Vorhaben. Den Anspruch der Herausgeber_innen, „die fachliche, wissenschaftliche und praxisorientierte Diskussion und die Weiterentwicklung von Konzepten der Sozialen Arbeit in diesem wichtigen Arbeitsfeld voranzutreiben“ (Blandow/Knabe/Ottersbach, S. 11), erfüllt dieser Band damit voll und ganz.
Fazit
Der Sammelband „Die Zukunft der Gemeinwesenarbeit. Von der Revolte zur Steuerung und zurück?“ präsentiert mit 17 Beiträgen aus Theorie, Lehrforschung und Praxis eine gelungene Mischung aus theoretisch-methodischer Reflexion, Praxisbeispielen und Erfahrungsberichten. Der Band ermöglicht damit einen ebenso differenzierten wie konkreten Einblick in historische Entwicklungslinien und gegenwärtige Diskurse zur Gemeinwesenarbeit in Deutschland. Die Fokussierung auf die Kölner Gemeinwesenarbeit eröffnet anregende Perspektiven auf historisch-spezifische Entwicklungsprozesse und konkrete Umsetzungspraktiken – mit all ihren Ambivalenzen und Spannungsfeldern. Die Lektüre empfiehlt sich allen, die am gegenwärtigen Diskurs zur Zukunft der Gemeinwesenarbeit interessiert oder beteiligt sind: Studierenden, Lehrenden und Forschenden ebenso wie Praktiker_innen aus GWA-Kontexten sowie deren Kooperationspartner_innen wie Lokalpolitiker_innen, Vertreter_innen lokaler Wohnungsbaugesellschaften uvm.
Literatur
- Hinte, Wolfgang; Karas, Fritz, 1989: Studienbuch Gruppen- und Gemeinwesenarbeit. Neuwied.
- Reutlinger, Christian; Wigger, Annegret, 2008: Von der Sozialraumorientierung zur Sozialraumarbeit. Eine Entwicklungsperspektive für die Sozialpädagogik? In: Zeitschrift für Sozialpädagogik, 6. Jahrgang, Heft 4, S. 340-370.
- Spatschek, Christian, 2010: Kinder- und Jugendarbeit im sozialen Raum: Über die Vernetzung und Gestaltung sozialer Nahräume. In: Soziale Arbeit (DZI) 2/2010, S. 64-70.
Rezension von
Maren Schreier
M.A. (Social Work), Diplom Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin. Dozentin am FB Soziale Arbeit der Fachhochschule "OST" (ehem. FH St. Gallen)
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