Caterina Gawrilow: Lehrbuch ADHS. Modelle, Ursachen, Diagnose, Therapie
Rezensiert von Dr. Thomas Damberger, 11.06.2012
Caterina Gawrilow: Lehrbuch ADHS. Modelle, Ursachen, Diagnose, Therapie. UTB (Stuttgart) 2012. 188 Seiten. ISBN 978-3-8252-3684-7. 24,99 EUR.
Thema
Im Jahre 1987 wurde die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) in das Diagnostische und Statistische Handbuch Psychischer Störungen (DSM) aufgenommen. Seitdem wurde die Diagnose ADHS zunehmend populärer, allerdings auch die Kritik an ihr. Der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama formuliert 2002 in seinem Buch „Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution“ die Frage, ob die zunehmende Anzahl von ADHS-Fällen nicht möglicherweise Folge einer sich veränderten Gesellschaft ist. Michael J. Sandel, Philosophieprofessor an der Harvard Universität, sieht 2007 in „The Case against Perfection“ die Diagnose ADHS gar als strategischen Vorteil, um in Aufnahmeprüfungen mehr Zeit für sich beanspruchen zu dürfen. Die gesellschaftlichen Bedingungen, in deren Rahmen und vielleicht auch in deren Konsequenz die Diagnose ADHS ausgesprochen wird, sind ausdrücklich nicht Thema des 188 Seiten umfassenden „Lehrbuch ADHS“. Der Autorin geht es vielmehr darum, „durch die Darstellung empirisch nachweisbare[r] Fakten einen Zugang zu der Thematik jenseits von Diskussionen um die Sinnhaftigkeit der Diagnose und der Medikation zu bieten“ [14].
Aufbau und Inhalt
In drei Teilen mit insgesamt 15 Kapitel führt die Autorin den Leser durch die Geschichte der ADHS und ihrer Symptome, Ursachen und Entwicklung bis hin zur Diagnostik, Intervention und Fördermöglichkeiten von ADHS-Diagnostizierten.
Dass es sich im Falle der ADHS nicht um eine „Modeerscheinung oder Modediagnose“ [20] handelt, sieht Gawrilow in den um 1900 von George Frederick Still und William James beschrieben Fällen, „die wir heute als Kinder mit ADHS diagnostizieren würden“ [ebd.], bestätigt. Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität werden im ersten Teil als Kernsymptome charakterisiert, die insbesondere bei Kindern mit externalisierenden Störungen (aggressives und dissoziales Verhalten), internalisierenden Störungen (Depressionen) und Lern-/Leistungsstörungen zu beobachten sind. Bei Erwachsenen zeigen sich mit der ADHS einhergehende komorbide Störungen u.a. in Form von Substanzmissbrauch und -abhängigkeit [36]. Eine besondere Herausforderung bildet die differnzialdiagnostische Abgrenzung der ADHS von anderen Störungen, der Gawrilow ein eigenes Kapitel widmet. Im weltweiten Vergleich zeigt sich, dass ADHS „keine typisch amerikanische Störung“ [49] ist, sondern „unabhängig davon auf[tritt], ob ein Kind in der westlich-amerikanischen oder europäischen Kultur auswächst“ [50]. Dabei macht es allerdings einen quantitativen Unterschied, ob die Diagnose nach den Grundlagen gestellt wird, die dem DSM IV oder der ICD 10 zugrunde liegen. Dadurch, dass nach der ICD 10 (im Gegensatz zum DSM IV) Aggressivität, Delinquenz und dissoziales Verhalten maßgebliche Kriterien für eine ADHS-Diagnose darstellen, werden Mädchen und Frauen, die in der Regel unter dem vorwiegend unaufmerksamen Subtyp leiden, seltener diagnostiziert. Die Autorin fordert daher „die Diagnosekriterien […] an weibliche Patienten anzupassen“ [55].
Im zweiten Teil werden unterschiedliche Modelle und Theorien der Ätiologie von ADHS präsentiert, dabei geht es auch um die Rolle der Genetik, der psychosozialen Faktoren und der Umwelteinflüsse [61ff.]. Bezeichnend für Kinder mit ADHS ist dabei der Mangel an Selbstregulation, insbesondere der Kontrolle und der Inhibition von Ärger und Wut sowie eine Schwäche im planenden, bewussten und vorausschauenden Handeln. Als möglicherweise hilfreiche Selbstregulationsstrategie stellt die Autorin sogenannte Wenn-Dann-Pläne vor: „Kinder mit ADHS zeigen eine verbesserte Inhibitionsleistung, einen verbesserten Aufgabenwechsel und ein verbessertes Arbeitsgedächtnis, wenn sie vor der Erledigung einer laborexperimentellen Aufgabe gebeten werden, einen relevanten Wenn-Dann-Plan zu bilden.“ [91]. Die Schwierigkeit, eine ADHS-Diagnose im Erwachsenenalter zu stellen, sieht Gawrilow in einem sich verändernden Symptombild begründet: „Das markante Merkmal äußerlicher Unruhe wandelt sich bei den meisten Betroffenen im Laufe der Entwicklung zu einer innerlichen Unruhe, die von außen nicht mehr zu beobachten ist.“ [105].
Mit einer Erläuterung der Spezifika einer ADHS-Diagnose im Vorschul-, Grundschul, Jugend- und Erwachsenenalter leitet Gawrilow den dritten Teil ihres Lehrbuchs ein, um anschließend gezielt auf unterschiedliche psychologische und medizinische Interventionen einzugehen. Die Bedeutung von strukturierenden Maßnahmen, mit deren Hilfe speziell Eltern und Lehrer/innen die Selbstregulation im Alltag unterstützen können, wird von der Autorin besonders betont; dass derlei Maßnahmen ohne eine unterstützende Medikation mit Methylphenidat nur unzureichende Ergebnisse erzielen, sieht Gawrilow in zahlreichen Therapievergleichstudien bestätigt: „Insgesamt […] erwies sich die Kombination von Medikation und kognitiver Verhaltenstherapie als am erfolgreichsten: Die hyperkinetische Symptomatik, die aggressiven Verhaltensweisen und internalisierenden Symptome wurden mit dieser Kombinationsbehandlung verringert und die soziale Fähigkeiten der Kinder verbessert.“ [151].
Fazit
Das „Lehrbuch ADHS“ hält, was es verspricht. Interessierten wird ein durch empirische Studien untermauerter, kompakter und vor allem aktueller Überblick über Symptome, Ursachen und Diagnostik der ADHS geboten. Vertiefungsfragen am Ende der Kapitel verweisen auf das Wesentliche, Piktogramme an den Randspalten erleichtern zudem das schnelle Auffinden von Literaturempfehlungen, Begriffserklärungen und Merksätzen. Das Lehrbuch richtet sich vorwiegend an Studierende der Psychologie, der Pädagogik und des Lehramts und wartet mit einer Fachterminologie auf, die sich eher an angehende Psychologinnen und Psychologen richtet. Ein ausführliches Glossar am Ende des Buches stellt sich beim Lesen als überaus hilfreich dar. Eines jedoch sollte dem Leser klar sein: Das „Lehrbuch ADHS“ ist durchweg unkritisch. Gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen, die möglicherweise Einfluss auf die an Popularität zunehmende Diagnose ADHS haben, werden nicht thematisiert. Dies ist insofern kein Manko, weil die Autorin – wie sie gleich im Vorwort verdeutlicht – einen derartigen Anspruch nicht verfolgt. Aber vielleicht sollte zumindest das Thematisieren dieser Kritik zum Anspruch eines Lehrbuchs zum Thema ADHS gehören.
Rezension von
Dr. Thomas Damberger
Professur für Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung an der Freien Hochschule Stuttgart
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Es gibt 19 Rezensionen von Thomas Damberger.
Zitiervorschlag
Thomas Damberger. Rezension vom 11.06.2012 zu:
Caterina Gawrilow: Lehrbuch ADHS. Modelle, Ursachen, Diagnose, Therapie. UTB
(Stuttgart) 2012.
ISBN 978-3-8252-3684-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13553.php, Datum des Zugriffs 24.01.2025.
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