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Lothar Böhnisch, Heide Funk: Soziologie - Eine Einführung für die Soziale Arbeit

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 30.01.2014

Cover Lothar Böhnisch, Heide Funk: Soziologie - Eine Einführung für die Soziale Arbeit ISBN 978-3-7799-2215-5

Lothar Böhnisch, Heide Funk: Soziologie - Eine Einführung für die Soziale Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2012. 256 Seiten. ISBN 978-3-7799-2215-5. 19,95 EUR.

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Thema

Einführungen in die Soziologie für die Soziale Arbeit haben häufig den Nachteil, dass ihre Verfasser entweder nichts von Soziologie oder nichts von Sozialer Arbeit verstehen. Das ist bei diesem Buch anders. Mit Heide Funk und Lothar Böhnisch haben sich eine Soziologin und ein Sozialpädagoge gemeinsam des Themas angenommen – ein Glücksfall, zumal beide sich auch noch in den Disziplinen des jeweils anderen bestens auskennen.

Autorin und Autor

Heide Funk und Lothar Böhnisch verbindet eine langjährige wissenschaftliche Kooperation. Aus ihr sind Standardwerke der Sozialen Arbeit hervorgegangen, z. B. „Soziale Arbeit und Geschlecht“ (2002). Beide gehören schon lange zu den profiliertesten Vertreter/innen einer demokratischen und geschlechterreflexiven Sozialen Arbeit in Deutschland.

Aufbau und Inhalt

„Cours de philosophie positive“ heißt das Hauptwerk von Auguste Comte, in dem 1838 zum ersten Mal der Begriff der Soziologie öffentlich verwendet wurde. Soziologie ist für Comte „das positive Studium der sämtlichen, den sozialen Erscheinungen zugrunde liegenden Gesetze“ (Comte 1923, S. 184). Die Herkunft der Soziologie aus der Philosophie ist bei ihm noch sichtbar; und auch der Anspruch der Lehre vom richtigen Leben ist noch lebendig. In der sich auf Comte als ihren Ahnherrn berufenden, positivistischen Soziologie aber bleibt davon nichts mehr übrig. Indem diese die Gesellschaft säuberlich in einzelne Elemente und Sektoren zerlegt, wird sie zu einer Soziologie ohne Gesellschaftsbegriff.

Dagegen opponieren Funk und Böhnisch. Auch wenn der Mitbegründer der Soziologie in ihrem Buch nicht vorkommt, kann ihre Begriffsbestimmung der Soziologie als „Strukturwissenschaft“ (S. 10) an den inneren Widerspruch in Comtes „positiver Philosophie“ anknüpfen. Gegen die positivistische Fassadensoziologie halten sie an dem Anspruch fest, die sich im Handeln der Akteure bewusstlos durchsetzenden Strukturgesetze der Gesellschaft zu begreifen. Sie stellen der Soziologie ohne Gesellschaft einen Begriff von Gesellschaft als dynamischer Totalität entgegen, wie er für die Tradition der dialektischen Soziologie konstitutiv ist. Ausgangspunkt für diese ist stets das Leid und das Unrecht, das dem Individuum gesellschaftlich geschieht: „Die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Brüchen und Konflikten in der Konfrontation mit Leiden und der Erfahrung von Unrecht (steht) im Fokus der soziologischen Betrachtung und ist von den Grundsätzen der kritischen Theorie geleitet“ (S. 13; Herv. i. Org.). Die einzelnen gesellschaftlichen Sektoren, für die sich jeweils spezielle Soziologien herausgebildet haben – Familien-, Bildungs-, Arbeits-, Medien-, Stadt-, Gesundheitssoziologie usw. – müssen in ihrer Interdependenz begriffen werden. Und entsprechend müssen auch die sozialen Probleme, die in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen auftreten und mit denen es die Soziale Arbeit in der Praxis zu tun hat, im geschichtlichen und gesellschaftlichen Zusammenhang verstanden werden. Was die Autoren damit meinen, erläutern sie an einem Beispiel aus der Sozialen Arbeit: „Wenn Sozialhilfe-EmpfängerInnen dazu neigen, schon in den ersten zehn Tagen des Monats einen großen Teil ihres Geldes auszugeben, kann ihnen dies als mangelnde Planungskompetenz und Selbstkontrolle angelastet werden. Vor einer widersprüchlichen gesellschaftlichen Hintergrundkonstellation erkennen wir dahinter überfordernde Konflikte: Sie sind Arme in einer reichen Gesellschaft, in einer Wohlfahrtsgesellschaft, in der Armut in einer Form sozial reguliert ist, dass Arme nicht nur keinen Status haben, sondern sich so inszenieren müssen, als könnten sie mit anderen mithalten. Das verbleibende Medium der Teilhabe in dieser reichen Gesellschaft ist für sie der – wenn auch noch so begrenzte – Konsum. (…) Den Betroffenen selbst bleibt diese widersprüchliche Struktur unbewusst. Wenn sie sich den Erfahrungen von Ausgrenzung und Entwertung nicht in offenem Widerspruch stellen können oder konstruktive Lösungen bereitstehen, bleiben ihnen nur Selbstentwertung, lähmende Verdrängung der inneren Konflikte oder aggressive Abspaltungen“ (S. 16).

Ausgehend von diesem Grundverständnis der Soziologie als kritischer Wissenschaft (Kap. 2) und dem inneren Zusammenhang von kritischer Soziologie und kritischer, selbstreflexiver Sozialer Arbeit (Kap. 1) erschließt sich der Aufbau des Buches. Geht es der Soziologie als konservativer Ordnungswissenschaft um Bestandsbewahrung und Herrschaftssicherung, so der kritischen Soziologie um die Kritik fragwürdiger Traditionsbestände und die Beseitigung illegitimer Herrschaft. Dazu muss sie die gesellschaftlichen Macht-, Ungleichheits- und Konfliktstrukturen analysieren und die in den gesellschaftlichen Strukturen versteckten Gewaltverhältnisse aufdecken (Kap. 3). Und sie muss absolut modern sein. Sie muss an dem Anspruch festhalten, ihre Zeit in Gedanken zu fassen, den aktuellsten gesellschaftlichen Entwicklungen nachzuspüren, das qualitativ Neue zu begreifen. „Entgrenzung“, „Globalisierung“, „Transnationalität“, „Digitalisierung“ heißen die Stichworte bei Funk und Böhnisch, mit denen sie das Neue am Kapitalismus im 21. Jahrhundert „aufzuschließen“ versuchen (Kap. 4). Dabei lassen sie keinen Zweifel daran, dass die kapitalistische Ökonomie das Getriebe der Gesellschaft mehr denn je dominiert: „Die (…) neuen Möglichkeiten der transnationalen Digitalisierung hat vor allem die Ökonomie genutzt. (…) Der Begriff digital verweist darauf, dass durch die nahezu unendlichen Verbindungsmöglichkeiten von mikroelektronischer Technologie und weltweiten Kapitalbewegungen eine neue hegemoniale Struktur ständig wechselnder, sich aber letztlich weltweit vernetzender ökonomischer Punkte entstanden ist, welche die sozialen Welten durchdringen und sie unter Druck setzen“ (S. 53). Transnational verursachte soziale Probleme müssen nationalstaatlich aufgefangen werden, zugleich aber unterminiert die globalisierte Ökonomie die nationalstaatliche Regulierungskraft. Der dadurch entstehende Druck wird auf die Schwächsten in der Gesellschaft abgewälzt: „Die sozialstaatliche Balance von Anspruch und Zumutbarkeit ist offensichtlich außer Kraft gesetzt. Zumutbarkeitskriterien werden inzwischen nicht mehr im Verhältnis zu Ansprüchen sondern im Verhältnis zu Kosten formuliert. In dem Maße überdies, in dem Kommunen im Sog des Standortwettbewerbs agieren, weitere soziale Spaltungen drohen, läuft die Soziale Arbeit Gefahr, zur Befriedungsagentur im Dienste der Standortattraktivität zu werden“ (S. 56).

Der globalisierte Kapitalismus affiziert nicht nur das soziologisch zentrale Verhältnis von „Individuum und Gesellschaft“ (Kap. 5), sondern alle staatlichen und gesellschaftlichen Teilbereiche. Funk und Böhnisch zeigen dies

  • an dem Um- und Abbau des Sozialstaats (Kap. 6),
  • an der gesellschaftlichen Generierung neuer sozialer Probleme (Kap. 7),
  • an der neoliberalen Transformation des Hilfesystems (Kap. 8 und 9),
  • an der Restrukturierung des sozialen Umfelds von Hilfen (Kap. 10),
  • an den sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen von Lebensläufen, Biografien, Lebensführungen und Lebensaltern (Kap. 11 und 12),
  • an der Neujustierung von Familie, Erwerbsarbeit, Bildung, Konsum und Medien (Kap. 13),
  • an der Entwicklung der Bürgergesellschaft (Kap. 14) und schließlich
  • an den Konflikten um kollektiv verbindliche Werte (Kap. 15).

Neben der dialektischen Soziologie ist der feministische, dekonstruktivistisch und poststrukturalistisch orientierte Theoriediskurs der zweite zentrale Bezugspunkt. In allen Kapiteln des Buchs wird die geschlechterhierarchische Struktur der Gesellschaft reflektiert, die sich nach Überzeugung der Autoren in der Gegenwart zwar in ihren Erscheinungsformen verändert, aber dennoch ungebrochen fortexistiert, ja sogar in widersprüchlicher Weise radikalisiert. Eine Soziale Arbeit, die dies missachtet und in geschlechtsneutraler Blindheit verharrt, verrät ihren emanzipatorischen Anspruch: „Männlichkeit wird (…) gleichzeitig – durch die tendenzielle Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses – zurückgewiesen und – in der ökonomisch-technologischen Dynamik der Externalisierung – neu gefordert. Der entbettete ‚abstrakte Arbeiter’, sozial flexibel und verfügbar, ist zur scheinbar geschlechtsneutralen Leitfigur der neuen Ökonomie für Männer und Frauen geworden. Dabei stellt sich aber das alte Problem der Vereinbarkeit zwischen Familie und Beruf, das traditionell den Frauen zugeschoben ist, neu“ (S. 79; Herv. i. Org.).

Diskussion

„Einführungen in die Soziologie“ gibt es viele. Das hat seinen Grund darin, dass die Studierenden sozialer Berufe in der Regel verpflichtet sind, Lehrveranstaltungen zur so genannten „Bezugswissenschaft Soziologie“ zu besuchen. Nicht wenige dieser „Einführungen“ aber sind das Papier nicht wert, auf dem sie gedruckt sind. Denn häufig bleibt der Bezug zur Soziologie rein äußerlich. Indem in so genannten „Überblicken“ soziologische Begriffe, Theorien und Methoden oberflächlich, verkürzt und beliebig aneinandergereiht werden, wird ein Halbwissen an Studierende weitergegeben, das es erlaubt mitzureden, ohne irgend etwas von der Sache verstanden zu haben.

In dem Buch von Heide Funk und Lothar Böhnisch ist dies anders. Soziologie und Soziale Arbeit werden über ein gemeinsames Drittes vermittelt. Es ist das emanzipatorische Interesse, das kritische Soziale Arbeit und kritische Soziologie gemeinsam haben und das sie in eine innere Beziehung zueinander setzt. Zwar greift jede Theorie Sozialer Arbeit auf soziologisches Wissen zurück, aber für die kritische Soziale Arbeit ist gesellschaftskritisches Wissen konstitutiv. Ohne Gesellschaftskritik ist emanzipatorische, auf die Befreiung von strukturellen Gewaltverhältnissen gerichtete Soziale Arbeit nicht möglich.

Entsprechend kann man dem Buch eine gewisse „Einseitigkeit“ vorwerfen. Sein Interesse gilt der Soziologie als Kritik und den sich daraus ergebenden Herausforderungen für die Soziale Arbeit. Der Mainstream positivistischer Bindestrich-Soziologien wird ebenso selbstbewusst an den Rand gedrängt, wie die mächtige Tradition der Soziologie als konservativer Ordnungswissenschaft souverän übergangen wird. Deshalb erfüllt das Buch auch nicht die Erwartungen, die konventionell an eine „Einführung“ gestellt werden. Wer einen „Überblick“ der verschiedenen Schulen der Soziologie haben möchte, wird enttäuscht. Auch erfährt man fast nichts über die Klassiker traditioneller wie kritischer Soziologie. Wer aber einen Einblick in aktuelle Diskurse kritischer Soziologie mit systematischem Bezug auf Fragestellungen Sozialer Arbeit bekommen möchte, wird mit dem Buch zufrieden sein.

Fazit

So lässt sich das Fazit nur im Paradox formulieren: Gerade dass diese Einführung in die Soziologie keine Einführung im konventionellen Sinne ist, macht das Buch lesenswert. Den Studierenden, aber fast noch mehr den Lehrenden in der Sozialen Arbeit kann es ohne Bedenken empfohlen werden.

Literatur

  • Auguste Comte (1923): Soziologie, Band 1, 2. Aufl., Jena 1923.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Es gibt 23 Rezensionen von Wolfram Stender.

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ISSN 2190-9245