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Elisabeth Hildt: Neuroethik

Rezensiert von Dr. Thomas Damberger, 24.07.2012

Cover Elisabeth Hildt: Neuroethik ISBN 978-3-8252-3660-1

Elisabeth Hildt: Neuroethik. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2012. 112 Seiten. ISBN 978-3-8252-3660-1. D: 14,99 EUR, A: 15,50 EUR, CH: 21,90 sFr.
Reihe: UTB - 3660.

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Thema

Die technischen Fortschritte in den Neurowissenschaften werfen grundlegende ethische Fragen auf, die weder „durch alleinigen Rekurs auf anthropologische, philosophische […] oder gesellschaftliche Überlegungen“ noch durch eine bloße „Beschreibung der medizinisch-naturwissenschaftliche[n] Datenlage“ [10] hinreichend beantwortet werden können. Wie gehen wir damit um, dass Neuropharmaka unser Gestimmtsein, unsere geistige Leistungsfähigkeit und unser moralisches Verhalten verändern können? Wie wirken sich derartige Veränderungen auf das aus, was wir Person (oder Persönlichkeit) nennen? Können wir noch von einer Identität sprechen, wenn wir im Zuge neurotechnologischer Entwicklungen, beispielsweise der tiefen Hirnstimulation, in die Lage versetzt werden, durch elektrische Impulse unterschiedliche Existenzweisen einer Person zu evozieren? Inwiefern erfordern reversible oder irreversible Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Funktionsweise des menschlichen Gehirns einen anderen Umgang im Arzt-Patient-Verhältnis? Kann von Willensfreiheit auch dann noch die Rede sein, wenn Millisekunden vor einer bewussten Entscheidung ein Bereitschaftspotenzial im Gehirn gemessen werden kann. Entscheide hier tatsächlich noch ich selbst oder entscheidet sich etwas in mir. Oder, um auf Sigmund Freud zu rekurrieren: Bin ich angesichts der Ergebnisse der Libet-Experimente noch Herr im eigenen Haus? Diesen und weiteren Fragen, die im Kontext neurowissenschaftlicher Fortschritte aufscheinen, sowie deren Bedeutung für den Menschen, widmet sich die noch junge, interdisziplinär angelegte Neuroethik.

Aufbau und Inhalt

Die 112 Seiten umfassende Lektüre ist unterteilt in insgesamt 7 Kapitel.

Das erste Kapitel widmet sich der Frage nach der Entstehungsgeschichte, der Relevanz und der Fragestellung der Neuroethik. In Anlehnung an Adina L. Roskies arbeitet Elisabeth Hildt „Ethics of Neuroscience“ und „Neuroscience of Ethics“ als zwei wesentliche Teilgebiete der Neuroethik heraus.

Während sich der Bereich „Ethics of Neuroscience“ mit den ethischen Implikationen von Hirnforschung und klinischer Praxis befasst, geht es im zweiten Kapitel vorwiegend um die Frage, wie sich unser Moralverständnis, aber auch unsere „grundlegenden Vorstellungen von juristischer und moralischer Verantwortlichkeit“ [16] angesichts der modernen Neurowissenschaften verändern. Steht die Funktionsweise unseres Gehirns im Fokus, stellt sich mit der Möglichkeit der Einflussnahme auf Hirnprozesse die Frage nach den Folgen für unser Personsein. Der Frage nach dem, was eine Person auszeichnet, geht die Autorin im zweiten Kapitel nach. Willens- und Handlungsfreiheit und die daraus resultierende moralische Verantwortlichkeit erweisen sich dabei als zentrale Charakteristika. Wenn nun Eingriffe auf die Materialität des Gehirns Einfluss auf den menschlichen Willen haben (können), ist damit auch das genuin philosophische Leib-Seele-Problem angesprochen, das die Autorin in seinen wesentlichen Facetten nachzeichnet. Die Besonderheit des menschlichen Gehirns sieht Hildt weniger in einem spezifischen Aufbau, sondern in seiner einzigartigen Vernetzung [vgl. 27]. Ob das Gehirn mit dem gleichzusetzen ist, was den Menschen zum Menschen macht, kann dabei ganz unterschiedlich bewertet werden. Für Neuro-Essentialisten ist das „Selbst“ des Mensch mit dessen Gehirn gleichzusetzen, Systemtheoretiker hingegen werden eine solche Gleichsetzung verneinen. Je nachdem, welche Position vertreten wird, erhält auch das Neuroimaging – also jene bildgebenden Verfahren neurophysiologischer Aktivitäten – eine andere Bedeutung. Unbestritten ist jedoch, dass mit dem Sichtbarmachen von Hirnaktivitäten sensible Daten erfassbar werden. Wie mit diesen Daten umgegangen werden soll, ist dann wiederum Gegenstand neuroethischer Fragestellungen.

Ob der menschliche Wille frei ist, scheint spätestens im Zuge der Forschungsergebnisse Benjamin Libets zutiefst fragwürdig. Hildt zeichnet im dritten Kapitel die Libet-Experimente und die daran anschließenden Fragen, aber auch die Kritikpunkte nach. Deterministische und indeterministische Theorien können angesichts der Frage, ob der menschliche Wille tatsächlich frei ist, hervorgebracht werden – eine eindeutige Antwort liefern beide nicht. Mit Blick auf Michael Pauen und Gerhard Roth richtet die Autorin ihr Augenmerk auf die Differenz von Ursachen und Gründen, eine Unterscheidung, die gewissermaßen Determinismus und Indeterminismus, Freiheit und Kausalität nebeneinander existieren lässt: „Roth zufolge lässt sich die Angabe von Gründen auch als Möglichkeit verstehen, eigene Handlungen sich selbst und anderen zu erklären. Demnach handeln Menschen zwar aus Ursachen, d.h. aufgrund von Kausalzusammenhängen, erklären ihr Handeln jedoch mit Gründen.“ [43f.].

Persönlichkeit, Identität und Authentizität sind Gegenstand des vierten Kapitels. Im Gegensatz zur Frage nach der Persönlichkeit geht es bei der Authentizität darum, dass Handlungen mit Blick auf die Person und deren Lebenslauf als stimmig verstanden werden. Im Zusammenhang mit der Möglichkeit via Neuropharmaka Charaktereigenschaften zu gestalten, stellt sich die Frage nach der Authentizität der daraus resultierenden Aktion(en) – eine Frage, die im Übrigen wiederum ganz unterschiedlich beantwortet werden kann [vgl. 51].

Das anschließende fünfte Kapitel befasst sich konkret mit der Einflussnahme auf das Gehirn. Neurotechnische Eingriffe, die – ob reversibel oder nicht – möglicherweise den Kern dessen betreffen, was unser Menschsein auszeichnet, bedürfen den hinreichend aufgeklärten Patienten. Im Zusammenhang mit dem sogenannten „informed consent“ – der „wohl informierte[n] freie[n] Zustimmung“ [60] rückt die Bedeutung der Autonomie und der Entscheidungsfähigkeit des Patienten erneut in den Mittelpunkt. Problematisch wird es dann, wenn eine solche Entscheidungsfreiheit zeitweise oder dauerhaft nicht mehr gegeben ist. Die Autorin stellt mit Blick auf die Frage nach der Reversibilität unterschiedliche Möglichkeiten vor, auf das Gehirn (selbst-) gestaltenden Einfluss zu nehmen. Psychopharmaka, zellbasierte Therapieansätze, aber auch neurotechnologische Verfahren werden dabei bedacht. Hildt bleibt bei der Darstellung der Möglichkeiten im Hier und Jetzt; Ausblicke in trans- und posthumanistische Visionen sucht man hier vergebens.

Die Neurotechnologie erweist sich als Gegenstand des sechsten Kapitels. Insbesondere die Interaktion von Mensch und technische Systeme – z.B. im Kontext der tiefen Hirnstimulation zur Behandlung von Morbus Parkinson oder Epilepsie – können auf grundsätzliche Fragen zur Existenzweise des Menschen deuten. So können Veränderung der Neurostimulation „in unmittelbarer zeitlicher Folge jeweils auch Veränderungen individueller Charakteristika der betreffenden Person“ [78] bewirken. „Insbesondere wenn Veränderungen abrupt auftreten – beim Abschalten der Elektrode […] – wird es unter Umständen zum Problem, die hierdurch bedingten unterschiedlichen ‘Existenzweisen‘ einer Person in ein einheitliches Gesamtbild zu integrieren.“ [78]. Anders formuliert: Neurotechnik kann unser gewohntes So-Sein ganz wesentlich erschüttern.

Im abschließenden siebten Kapitel widmet sich die Autorin dem zunehmend populärer werdenden Neuroenhancement, der Steigerung mit dem Ziel der Verbesserung von Stimmungen, kognitiven Fähigkeiten und moralischem Verhalten. Ob der Einsatz von Methylphenidat, Donepezil oder Modafinil, deren therapeutische Wirkung unbestritten ist, bei gesunden Menschen tatsächlich verbessernd wirkt, wird von Hildt deutlich als fragwürdig betont. Die Möglichkeit des Neuroenhancements rückt zudem die Frage nach dem freien Zugang zu Neuropharmaka in den Mittelpunkt. Damit einher gehen Überlegungen zum aufgeklärten, autonomen d.h. entscheidungsfähigen User [vgl. 97].

Fazit

Elisabeth Hildt gelingt es, in wenig mehr als 100 Seiten einen breiten und ausgesprochen informativen Überblick zu präsentieren. Die vielfältigen und weitläufigen Themenfelder der Neuroethik werden in einer Weise skizziert, die Lust auf mehr machen. In gewohnter UTB-Profile-Manier werden Fachbegriffe in einem anhängenden Glossar erläutert, Merksätze hervorgehoben und Literaturverweise zur vertiefenden Lektüre am Ende eines jeden Kapitels angeführt. „Neuroethik“ richtet sich vorwiegend an Studierende der Neurowissenschaften, der Medizin, der Psychologie und der Philosophie. Der angenehme, eingängige und mitnehmende Schreibstil ermöglicht es überdies ohne Probleme, dem interessierten Laien einen Einblick in dieses neue und höchst zukunftsträchtige Arbeitsgebiet zu geben.

Rezension von
Dr. Thomas Damberger
Professur für Bildungs- und Erziehungswissenschaften im Kontext der Digitalisierung an der Freien Hochschule Stuttgart
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Es gibt 19 Rezensionen von Thomas Damberger.

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Zitiervorschlag
Thomas Damberger. Rezension vom 24.07.2012 zu: Elisabeth Hildt: Neuroethik. Ernst Reinhardt Verlag (München) 2012. ISBN 978-3-8252-3660-1. Reihe: UTB - 3660. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13564.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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