Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I
Rezensiert von Dr. Georg Singe, 14.09.2012

Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2012. 494 Seiten. ISBN 978-3-525-40185-9. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 53,90 sFr.
Thema und Überblick
Als Arist von Schlippe und Jochen Schweitzer 1996 ihr Lehrbuch in der ersten Auflage veröffentlichten, war noch nicht klar, dass Systemische Therapie und Beratung in Praxis und Wissenschaft eine so breite Resonanz und Anerkennung finden würden, wie dies heute der Fall ist. Das Anliegen von damals, fundiert und anschauliche in die Systemische Therapie und Beratung einzuführen, ist geblieben. Der Erfolg des Buches zeigt sich in den bisherigen zehn Auflagen. Nun liegt aufgrund der Veränderungen und Weiterentwicklungen des Themas in Wissenschaft, Forschung, Lehre und Praxis eine völlige Neubearbeitung des Werkes vor, die der breiteren Aufstellung des Ansatzes systemischer Therapie und Beratung gerecht werden will. Dabei sind bewährte Teile aus den Themenbereichen Theorie, Haltungen und Methoden nur mit geringfügigen Änderungen übernommen worden.
Autoren
In das Werk fließen die vielseitigen Erfahrungen aus den unterschiedlichen beruflichen Kontexten der beiden Autoren, die wohl zu den renommiertesten Vertretern systemischer Theorie und Praxis in Deutschland gehören, immer wieder ein. Arist von Schlippe hat als Professor an der Privatuniversität Witten/Herdecke den Lehrstuhl für Führung und Dynamik von Familienunternehmen inne. Als Psychologe und Psychotherapeut hat er zuvor lange Jahre an der Universität Osnabrück klinische Psychologie gelehrt.
Jochen Schweitzer ist Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichentherapeut sowie als Professor für Medizinische Psychologie und Psychotherapie am Universitätsklinikum in Heidelberg tätig und leitet dort die Sektion Medizinische Organisationspsychologie.
Beide Autoren sind auch als Lehrtherapeuten in der Ausbildung systemischer Therapeutinnen und Therapeuten an verschiedenen Instituten tätig und fachpolitisch in der Systemischen Gesellschaft und der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie als Vorsitzende aktiv. Verschiedene Vorworte von Helm Stierlin, Eia Asen, Anette Kreuz und Zhao Xudong zeigen die Bedeutung des Werkes, das weit über den deutschen Sprachraum hinausreicht.
Aufbau und Inhalt
Das Buch ist stringent gegliedert. So finden sich geschichtliche Entwicklungen und theoretische Hintergründe in den ersten Kapiteln, dann schließen sich praktische Konzepte, Methoden und Handlungsfelder, sowie ein umfassendes Literaturverzeichnis und ein Sachwortregister an.
Zunächst werden nach einer ausführlichen Einleitung im ersten Kapitel (S. 29- 86) die Entwicklung der systemischen Therapie und Beratung, ihre Geschichte, die verschiedenen Schulen und maßgebende Vertreter vorgestellt und kritisch beleuchtet. Im Anschluss daran wird die Entwicklung des systemischen Ansatzes ausgehend von den Konzepten auf der Grundlage der Kybernetik 1. Ordnung bis hin zu Konzepten auf der Basis des sozialen Konstruktivismus dargelegt. Dabei findet sich zu Beginn des Kapitels ein Abschnitt „Definitionen“, in dem die Begriffe „System“ und „Systemtheorie“ definiert werden. Die Autoren verstehen Systemische Therapie bzw. die systemische Psychotherapie als als einen “besonderen Kontext systemischer Beratung, nämlich als ein Heilverfahren im Gesundheitswesen“ (S. 31). Systemische Familientherapie wird dann wiederum als spezifisches Setting der Systemischen Therapie verstanden.
Diese Definitionen prägen dann die weiteren Ausführungen, so dass aufgrund der engen, aber klaren Begriffsdefinitionen zum Beispiel der Ansatz von Virginia Satir in die Rubrik „frühe/nicht systemische Modelle der Familientherapie“ eingeordnet wird. An diesem Beispiel und ähnlichen Stellen zeigt sich das Ergebnis der Überarbeitung des Buches, in dem insgesamt klarer und präziser mit den heute ja fast schon inflationär verwendeten Systembegriffen umgegangen wird. Insgesamt ist die tabellarische Aufstellung der unterschiedlichen Systemtherapeutischen Modelle (S. 34f) breiter und differenzierter ausgefallen als dies in den früheren Auflagen des Buches der Fall war. Nicht zu kurz kommen im ersten Kapitel auch die neueren Ansätze der aufsuchenden und multiperspektivischen systemischen Arbeit. Auch die Rezeption der Systemtheorie in die Pädagogik, Sozialarbeits- und Gesundheitswissenschaft sowie in die Kontexte von Arbeitsorganisationen, wird eigens dargestellt.
Das zweite große Kapitel (S. 87- 171) widmet sich der „Systemtheorie für Praktiker“. In einem Abschnitt wird umfassend der Systembegriff nicht zuletzt auf dem Hintergrund der philosophiegeschichtlichen Entwicklung bis ins 21. Jahrhundert hinein beschrieben. Weitere Differenzierungen im Hinblick auf „soziale Systeme“, das Verständnis von „Realität“ und „Kausalität“, und die jeweiligen gemeinschaftlichen Leistungen der Erzeugung von Problemen runden dieses Kapitel ab.
Die drei weiteren Kapitel widmen sich dann der systemischen Praxis untergliedert in „Grundlagen“ (S. 173-222), „Methoden“ (S. 223-346) und „Settings“ (S. 347-436). Im Kapitel „Grundlagen“ werden Kontextfaktoren von Zeit, Raum, Energie, Wirksamkeit, Sinn und Gefühle als Orientierungslandkarte für die systemische Praxis erläutert und eine umfassende Einführung in die Themen „systemische Haltungen“, „systemische Kompetenz“ und „therapeutische Beziehung“ geboten.
Die Systematik der umfassenden Darstellung der einzelnen methodischen Möglichkeiten richtet sich an einem klassischen Ablauf einer Beratung bzw. einer Therapie aus. Joining, Kontraktklärung, systemische Fragetechniken, handlungs- und gefühlsorientierte Methoden, systemische Kommentare sowie Ansätze systemischer Fallreflexionen geben einen umfassenden Einblick in die systemische Praxis. Die jeweiligen Literaturhinweise ermöglichen eine gezielte Vertiefung einzelner Themen.
Die vielfältigen Praxisfelder des systemischen Arbeitens werden anschließend beschrieben. Über die einzel-, paar- und familientherapeutischen Settings hinaus werden unter dem Kapitel „Ökosystemische Interventionen“ (S. 395ff) Helferkonferenzen, Ansätze multisystemischer und aufsuchender Familientherapie sowie netzwerkorientierte und gemeinwesenorientierte Konzepte beleuchtet. Ein eigenes Kapitel ist der „Systemischen Beratung in der Arbeitswelt“ gewidmet (S. 405ff), in dem unter anderem Ansätze von Coaching, Team- und Organisationsberatung unter systemischen Prämissen dargestellt werden.
Das Lehrbuch integriert bewusst nicht die neurobiologischen Aspekte der Psychotherapie, sondern beschränkt sich nicht zuletzt aus Gründen des Buchumfangs auf die Arbeit mit sozialen und psychischen Systemen. Auch im Hinblick auf die systemische Forschung werden in klarer Ausrichtung auf die Zielsetzung des Lehrbuches nur praxisrelevante Ansätze und Ergebnisse aufgenommen. Zu diesem Thema wir auf andere aktuelle Literatur verwiesen.
Das fast 40 Seiten umfassende Literaturverzeichnis enthält eine sehr reichhaltige, aktuelle und umfassende Sammlung wesentlicher Bücher und Fachbeiträge zum Thema. Ein sich anschließendes Stichwortverzeichnis ist hilfreich, um sich zu einzelnen Fachbegriffen gezielt zu informieren.
Zahlreiche Praxisbeispiele und Cartoons verdeutlichen die Themen, lockern den Text immer wieder auf und helfen dem Leser, die Inhalte vertieft zu verstehen. Nicht zuletzt trifft dies auch auf die immer wiederkehrenden Abschnitte grundlegender Definitionen zentraler Begriffe statt, auf die dann der weitere Text jeweils Bezug nimmt.
Zielgruppen und Fazit
Das Buch ist in seiner umfassenden Darstellung von Geschichte, Theorie und Praxis systemischer Beratung und Therapie weiterhin ein Standardwerk für alle systemischen Berater und Therapeuten, für Lehrende und Lernende sowie für alle Praktiker in den angrenzenden Handlungsfeldern. Die umfassende Bearbeitung aktueller Themen in der Neuauflage gibt den aktuellen Stand der Theorie und Praxis systemischer Ansätze wieder und lädt ein, die begonnene Integration verschiedener systemischer Ansätze schulen- und settingübergreifend voranzutreiben. Dabei bleibt, wie dies die Autoren in einem Abschlusskapitel „Zukunftsmusik“ (S. 437ff) betonen, natürlich auch vieles ungesagt und stellt eine Herausforderung für die zukünftige Fachdiskussion dar. Fünf Themen werden angesprochen: der Brückenschlag systemsicher Ansätze zu biopsychosozialen, körperorientierten Konzepten sowie zu der psychosomatischen Medizin, die Integration schulenübergreifender Therapieverfahren, offene Fragen zu adäquaten Organisationsformen und ethischen Implikationen systemischer Praxis sowie die politische Dimension des systemischen Ansatzes.
So bleibt an dieser Stelle nur der Dank an die Autoren, diese umfassendes Lehrbuch neu überarbeitet zu haben, damit es als Standardwerk weiterhin genutzt werden kann.
Rezension von
Dr. Georg Singe
Dipl.-Sozialarbeiter, Dipl.-Theologe
Systemischer Familientherapeut, Supervisor und Lehrtherapeut (DGSF)
Dozent an der Fakultät I für Bildungs- und Gesellschaftswissenschaften, Fachbereich Soziale Arbeit der Universität Vechta
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Zitiervorschlag
Georg Singe. Rezension vom 14.09.2012 zu:
Arist von Schlippe, Jochen Schweitzer: Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2012.
ISBN 978-3-525-40185-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13565.php, Datum des Zugriffs 26.03.2023.
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