Frank Schulz-Nieswandt: Gemeinschaftliches Wohnen im Alter in der Kommune
Rezensiert von Mag.(FH) DSA MSc Doris Lang-Lepschy, 12.10.2012

Frank Schulz-Nieswandt: Gemeinschaftliches Wohnen im Alter in der Kommune. Das Problem der kommunalen Gastfreundschaftskultur gegenüber dem homo patiens.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2012.
198 Seiten.
ISBN 978-3-428-13754-1.
D: 58,00 EUR,
A: 59,70 EUR.
Reihe: Gesellschaft für Sozialen Fortschritt: Schriften der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt - Band 29.
Autor
Prof. Frank Schulz-Nieswandt unterrichtet Sozialpolitik an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Deutschen Zentrums für Altersfragen, Mitglied der Zweiten und Dritten Altenberichtskommission der Bundesregierung. Vorsitzender der Gesellschaft für Sozialen Fortschritt, Herausgeber der Zeitschrift „Sozialer Fortschritt“, Vorsitzender des methodischen Beirates des Deutschen Zentrums für Altersfragen. Weiters ist er im Herausgeberbeirat der „Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie“ und Mitherausgeber der „Kölner Schriften zur Sozial- und Wirtschaftspolitik“, Herausgeber der „Schriften zur Sozialpolitik“, Mitherausgeber der „Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft“ und (zusammen mit Heinrich R. Schradin) Herausgeber der Reihe „Genossenschaft und Versicherung“, Mitglied im „Ausschuss für Sozialpolitik“ im Verein für Socialpolitik sowie dem Wissenschaftlichen Beirat der Gesellschaft für Öffentliche Wirtschaft an. Im Beirat der GÖW leitet er einen Arbeitskreis „Gesundheit und Soziales“.
Thema und Entstehungsgrund
Das Buch, zuerst geplant als theoretische Vertiefung einer empirischen Studie in politischer Absicht zum Wohnen im Alter, beinhaltet eine kulturwissenschaftliche Studie zu kulturgrammatischen Regeln und psychogrammatischen Prozeduren von Inklusion und Exklusion. Erkenntnisse aus einschlägigen Forschungen u.a. zum Wohnen im Alter, zur Anthropologie der Gastfreundschaft und zum Binärismus des Strukturalismus werden unter interdisziplinären Gesichtspunkten verdichtet und verknüpft. Blockaden und Hindernisse bei der Einbindung gemeinschaftlicher Wohnformen von und für alte Menschen mit chronischen Krankheiten, Behinderungen sowie Hilfe- und Pflegebedürftigkeiten bilden den Ausgangspunkt des Buches. (vgl. Schulz- Nieswandt, Vorwort)
Aufbau und Inhalt
Einleitende Vorbemerkungen. Der Autor beschreibt in den einleitenden Vorbemerkungen die Grundlagen seiner ganzen Argumentation: historische Anthropologie und verweist auf seine umfangreiche Abhandlung „Wandel in der Medizinkultur“. Der Autor beschäftigt sich mit den Begriffen „das Fremde“, „Angst“, „Ontologischer Status und anthropologische Hermeneutik des Wohnens“, „Pädagogische Anthropologie“, „Kommune und „Kommunion„“, „Form-Inhalts-Metaphysik“, „Kommunalität und Gabe“, „Chimäre der Privatheit“, „Transzendenzsequenzen“, „Transaktionale Theorie des Raumes“, „Soziale Integration: die Angst, der Ekel, die Scham“ und „Hermeneutik-eben nicht leicht gemacht“.
Vertiefende Einleitungen. Schulz-Nieswandt beschreibt hier Gerontophobie als Unterfall der Xenophobie (vgl. Vertiefende Einleitung). „Binäre Codes und verschachtelte binäre Ordnungen“, „Analogien zur Xenophobie“ sowie „Weiblichkeitskonstruktionen“ sowie „Verschachtelung binärer Ordnungscodes“ sind weitere Themen.
Exkurs: Strukturale Analyse bei Edmund Leach und der pathologische Blick bei Viktor von Weizsäcker. Die Sichtweisen des Autors werden mit den Erkenntnissen von Leach und von Weizsäcker verbunden und untermauert.
Kapitel 1 Eine empirische Studie und ihre kulturtheoretische und politische Fragen abstellende Reflexion. Der Autor stellt die zentrale Befunde der explorativen Studie inklusive der Ausgangshypothesen vor. Im Anschluss zeigt er Ohne Romantik und Dogmatik- die Befunde im konkreten Betrachtungszusammenhang. Dabei wird besonderes Augenmerk gelegt auf: „Artenvielfalt fördern“ sowie „Familialismus“.
Kapitel 2 Politische Schlussfolgerungen. Als zentrale Erkenntnis formuliert Schulz-Nieswandt „Wenn eine Gesellschaft trotz wissenschaftlicher Forschungseinsichten letztendlich nicht einfache und eindeutige Antworten finden kann und in oftmals ersehnter Einfachheit „die“ absolut beste Wohnformen im Alter(n) definieren kann, dann gibt es eine überaus redliche Lösung: Vielfalt anbieten. Politisch bedeutet das: Vielfalt ermöglichen.“ (Schulz-Nieswandt, S. 80). Beim Punkt Rechtliche Situation und politischer Wille werden folgende Themen behandelt: „Rolle der Wohngemeinschaften“ sowie die „Rolle der kommunalen Politik“. Kulturelle Voraussetzungen werden in „Rolle der Anwohner“, „Rolle der Einrichtungsträger, einschließlich der Professionen“, „Rolle der Angehörigen“, „Mitverantwortung des betroffenen Menschen in seiner lebensgeschichtlichen Rechtzeitigkeit“, „Die Herausforderung für die gesamte kommunale Akteurskonstellation“ sowie „Was Kommunen benötigen: kommunale Agenturen für Sozialkapitalförderung“ genau beleuchtet. Bei Altersbilder- Behindertenbilder: Wahrnehmungs-Skripte und kollektive Denkstile bekräftigt der Autor die Notwendigkeit von kulturgeschichtlich überholten Modellen der Hilfe Abstand zu nehmen, da diese dem Schutz der personalen Würde widersprechen und Selbsthilfe-Kompetenzen zerstören. (vgl. Schulz-Nieswandt, S.90)
Kapitel 3 Die anthropoliogische Herausforderung. “Politik und Tugenden, polis und paideia“, „Das Prinzip der Liebe im Christentum: Ermöglichungsbasis menschlicher Zukunft und ihr kirchenpolitischer Anti- Humanismus in der verfehlten Geschichte“ führen schließlich zu „Politik und Liebe“.
Kapitel 4 Die kulturelle Tiefengrammatik und die Psychogrammatik des Problems: Historische Epistemologie der Alterität . „Gastfreundschaft versus Angst vor dem Dämonischen“ und „De-Konstruktion der Dionysos-Kontroverse in der religionsgeschichtlichen Altertumswissenschaft“ führen „Nochmals zur Anthropologie der Gastfreundschaft“. Die Themen „Gemeinde und die universal Liebesethik“ sowie „Trampelpfade der Anstaltslogik“ bilden den Abschluss des Kapitels.
Kapitel 5 Kommunikative Choreographie statt „social engineering“. Die „Logik der „Pflanzung“ unter der Prämisse einer „Kultur der Gastfreundschaft“ ist Thema dieses Kapitels.
Kapitel 6 Vernetzung mit Absicht auf abgestimmte Verbindlichkeit im kommunalen Raum – Eine sehr unwahrscheinliche, aber nicht unmögliche Aufgabe: Die Studie von Grunow u.a. Die empirische longitudinale Studie von Grunow u.a. zur Kommunalisierung im hessischen Sozialsektor bietet die Grundlage für diese Abhandlung. Genau betrachtet werden „Verminte Felder“, „Frames und Denkstile“, „Pfadabhängigkeit“, „Arbeit an der Haltung“, „Kapitalien und „Sinn“.
Kapitel 7 Das „Gesundheitsnetz 2025“ der Stadt Zürich
In diesem Kapitel spannt Schulz-Nieswandt den Bogen zur Praxis. Strukturelle Hintergründe der Genese.Der Autor beschreibt das Gesundheitsnetz 2025, ein langfristiges strategische Politik der Stadt Zürich und wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Projektbegleitung. „Soziale Morphologie im Wandel“ und „Diskursentwicklungen“ werden als eigenständige Punkte betrachtet. Weitere Themen sind: „Die Implementation der DRG-Finanzierung im Hospitalsektor“, „Orientierungen an integrierter Versorgung“ sowie „Formen der Vernetzung“.
Die Konturen der Politik der Impulse zur Veränderung des Feldes.Dieser Unterpunkt des Kapitels stellt „Die Innovationsstrategie der Stadt Zürich“ vor. Die Pilotprojekte „LEILA, SIL, KOMPASS, SALUTE“ sowie die dazu gehörende Begleitforschung werden genau beschrieben. „Die Ausgangslage der schwierigen Strategieimplementationen“, „Aspekte projektbiographischer Erfahrungen im Feld der komplizierten Akteurskonstellation“ führen schließlich zum „Allgemeines Fazit mit Blick auf Theorieaspekte einer Politik der Impulse zur Veränderung von „Versorgungslandschaften“. Das „Prinzip des Sisyphos“ bildet den Abschluss.
Kapitel 8 Die Hausärzte – warum kooperieren sie nicht? Die Arzt-Patientenbeziehung als große Herausforderung sowie interdisziplinäre Kooperationsanforderungen stehen in diesem Kapitel im Mittelpunkt. Mit den Punkten „Ängste und Kränkungen“, „Performativitäten“, „Soziogramm und Psychogramm“ sowie „Drehbücher“ analysiert der Autor die Herausforderungen der Kooperation der Hausärzte.
Kapitel 9 Achtsamkeit und Gelassenheit: Zukunftsdenken zwischen Gemütsruhe und Gleichgültigkeit. Empfehlenswerte Voraussetzungen für Sozialreformer wie „Haltung und Tugendlehre“, „Gelassenheit“ und „Achtsamkeit“ werden vom Autor analysiert. Das Kapitel endet mit der Aufforderung „Gegen die Ingenieursmentalität der sozialen Reform“.
Fazit und Ausblick (des Autors). „Das Buch behandelte die Probleme der Re-Integration gemeinschaftlicher Wohnformen im Alter für Menschen mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen sowie Hilfe- und Pflegebedürftigkeit in den kommunalen Lebensweltraum. Dabei blieb die Analyse nicht auf der Ebene oberflächlicher interessenszentrierter Stakeholder- Betrachtungen stehen, sondern analysierte die tiefere kulturelle Grammatik von Ein- und Ausgrenzung im sozialen Raum als Problem einer „Gastfreundschaftskultur“ gegenüber dem Anderen und berücksichtigt dabei die psychischen Dispositionen der Akteure. (Schulz-Nieswandt, S. 145) „Soziale Phantasie“, „Politik als Arbeit an der Kultur“, „Aufbrechen dispositionaler Zusammenhänge“ sowie „Sysiphos als glücklicher Mensch“ sind weitere Themen.
Schlusswort im Lichte der hermeneutischen Anthropologie von Bollnow
Literaturverzeichnis
Sachverzeichnis
Fazit
Schulz-Nieswandt verdichtet in diesem Buch wissenschaftliche Erkenntnisse aus einer empirischen Studie, die bereits in einem Buch zum Thema „Wohnen und Alter“ beschrieben wurde. Die theoretische Vertiefung ist beeindruckend, was auch zahlreiche Fußnoten unterstreichen. Interdisziplinäre Verknüpfungen gelingen ebenso wie die Koppelung an die Praxis. Trotzdem oder gerade deswegen kann die immense Dichte die Leserschaft überfordern, ist aber für ExpertInnen für Erkenntnisgewinn sehr empfehlenswert. „Die vorliegende Studie ist intellektuell eventuell anstrengend und moralisch anspruchsvoll.“ (Schulz-Nieswandt, Vorwort)
Mitreißend ist die Begeisterung des Autors an der Thematik, die sich durch das Buch wie ein roter Faden zieht.
Rezension von
Mag.(FH) DSA MSc Doris Lang-Lepschy
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