Heiko Hoffmann: Das Handeln der Behandelten
Rezensiert von Manfred Zaumseil, 31.10.2012
Heiko Hoffmann: Das Handeln der Behandelten. Eine rekonstruktionslogische Analyse der Agency von Psychoseerfahrenen. FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre (Freiburg) 2011. 127 Seiten. ISBN 978-3-932650-46-8. D: 17,00 EUR, A: 17,50 EUR.
Thema und Zielsetzung
Bei dem Obertitel des Buches dachte ich zunächst an Empowerment, also die Stärkung des kollektiven und individuellen Einflusses der Behandelten auf ihre Lebenssituation. Was hier aber gemeint ist, offenbart sich im Untertitel: „Agency“. Dieser Anglizismus, wie er aktuell vermehrt im deutschen Sprachgebrauch Verwendung findet, ist weniger als Handlungskonzept oder Grundhaltung zu verstehen, sondern als Etikette für eine vielfältige sozialtheoretische Frage: Dieser Diskurs zielt zuvorderst auf eine Analyse der Bedingungen des Handelns, um Menschen im Rahmen sozialer Unterstützung zu stärken (vgl. u.a. Homfeldt, Schröer, Schweppe 2007) oder in der Gesundheitsförderung mit Konzepten der Salutogenese zu verbinden (vgl. von Kardorff 2010). Die Agency, um die es hier gehen soll, ist nun die von Menschen mit Psychoseerfahrung, also einer Gruppe, deren Agency angesichts von Beeinflussungswahn und struktureller Zwänge (Totale Institution, vgl. Goffman 1972) als außergewöhnlich bezeichnet werden kann.
Ziel des Autors ist es, herauszuarbeiten, dass auch das Handeln von Menschen mit Psychoseerfahrung sinnhaft ist und wirkmächtig sein kann. Aus diesem Grund wird die Fragestellung auch nicht sozialtheoretisch zu beantworten versucht; auch erfolgt nicht ausschließlich eine Diskussion förderlicher oder begrenzender Faktoren für das Handeln von Betroffenen. Der Zugang ist ein empirischer: Der Autor lässt die Menschen in offenen Interviews von ihrem Leben berichten und rekonstruiert daraus die subjektive Selbstsicht auf den eigenen Einfluss und den subjektiven Sinn des eigenen Tuns. Er steht damit im Kontext einer mit ihm assoziierten Gruppe rekonstruktiv Forschender (vgl. Bethmann et al. 2012), von denen Cornelia Helfferich im Vorwort eine Einordnung dieses Ansatzes etwa auch in Abgrenzung zu Konzepten der Kontrollüberzeugung (vgl. Rotter 1966) und der Selbstwirksamkeitserwartung (vgl. Bandura 1997, Schwarzer 1997) vornimmt. Auch stellt sie die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Selbstzuschreibungen und tatsächlicher Handlungsfähigkeit.
Autor
Heiko Hoffmann ist Dipl.-Sozialpädagoge (B.A.) und Master of Arts (in Social Work). Er war als Sozialarbeiter in der Gemeindepsychiatrie tätig und arbeitet heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Ravensburg-Weingarten, Fachbereich Soziale Arbeit, Gesundheit und Pflege.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst nach Vorwort und einer Einleitung, in der sich der Autor sozialarbeitswissenschaftlich/ sozialpsychiatrisch verortet, sieben weitere Kapitel.
Nach der Einleitung schließt sich der Autor in Kapitel 2 einem biopsychosozialen Krankheitsverständnis an. Er geht von „entsubjektivierenden“ Tendenzen psychiatrisch medizinischer Ursprünge aus , und kommt über psychologische Weiterentwicklungen zu sozialwissenschaftlicher Psychiatriekritik. Seiner sozialwissenschaftlichen Position hätte möglicherweise eine Relativierung und des objektivierenden Anspruchs näher gelegen, der mit Diagnosen verbunden ist. So hat Leferink (2012) kürzlich sehr überzeugend analysiert, dass das „Selbst (…) bei der Diagnose einer psychischen Krankheit implizit immer mitdiagnostiziert“ und bewertet wird. Die Psychiatrie hat schon immer an dieser Stelle eine übergriffige Sprache und Praxis gezeigt. Zusätzlich wird das Selbst durch das Leben in psychiatrischen Institutionen geformt, und es gab und gibt in der Psychiatrie eine Tendenz, die Ergebnisse dieser Formungen der Diagnose zuzuschlagen. Hoffmann weist auf diese Problematik hin; allerdings werden die Probleme in dem von ihm genutzten biopsychosozialen Krankheitsmodell, das sich in vielen psychiatrischen Lehrbüchern findet, nur dürftig verdeckt.
Kapitel 3 besteht in einer Bestimmung des Agency-Begriffs. Der Autor zeigt dabei zunächst drei Diskussionsstränge auf, die er prägnant voneinander abgrenzt. Der Ausgangspunkt besteht in einer kritischen Würdigung Giddens‘, der Agency als Wahlmöglichkeit zwischen unterschiedlichen kulturellen Routinen versteht. Mit Barnes stellt der Autor diese freien Wahl individualistisch dargestellter Akteure in Frage und folgt dessen Konzept von kollektiver Agency : Menschen seien danach zwar nicht durch bestehende Normen und Regeln determiniert, die Entscheidung für eine von mehreren Handlungsalternativen erfolge aber niemals unabhängig vom sozialen Kontext und damit auch nicht als freie Wahl: Agency kann ihm zufolge „immer nur ein Produkt von Verständigung kollektiver Akteure sein“. Beide Bedingungen des Handelns, kulturelle Routinen wie auch soziale Beziehungen, sieht Hoffmann integriert im interaktionistischen Agency-Verständnis: Die Möglichkeit zu freier Wahl und innovativem Handeln, welche Barnes bei Giddens kritisiert, wird in diesem dritten Ansatz auf die vermittelnde Rolle von intersubjektiver Identitätsarbeit zurückgeführt. Nachdem er seinen Ansatz auf diese Weise sozialtheoretische eingeordnet hat stellt der Autor seinen Zugang zur Agency als erzählte Identität, „als kognitive Repräsentation der eigenen Handlungsfähigkeit und Wirkmächtigkeit“ dar.
Im vierten Kapitel wird der aktuelle Kenntnisstand zur Agency im Feld der Schizophrenie-Forschung eingeführt. Er versteht diese Vorstellungen als „sensitizing concepts“; mit dieser Sprachregelung qualitativer Forschung grenzt sich Heiko Hoffmann vom deduktiven Vorgehen ab, da er seine Konzepte möglichst induktiv auf Grundlage des Materials erarbeiten will. Im Verlauf des Forschungsprozesses werden weitere psychopathologische und sozialwissenschaftliche Erkenntnisse einbezogen. Er geht insbesondere von „Prozessstrukturen des Lebenslaufs“ aus, die die Biographie von Kranken „nicht auf den biologischen Prozeß des Krankheitsverlaufs als solchen, sondern auf diesen als Bedingung von medizinisch-professionellen Handlungsschemata und Kontrollpraktiken, (…) Kontrollprozessen des Patienten sowie von konfliktreichen Interaktionsprozessen“ bezieht.
Im fünften Kapitel charakterisiert Heiko Hoffmann seine Methodik (Agency-Analyse) als Rekonstruktion narrativer Identität (vgl. Lucius-Hoene/ Deppermann 2004). Er zeigt, auf welche Weise er Fälle auswählt, die sich möglichst weitgehend unterscheiden. Der erzählanalytische Zugang zur Handlungsmächtigkeit erschließt interessante Differenzierungen. Diese würden bei quantifizierenden Erhebungen etwa der Kontrollüberzeugungen oder der Selbstwirksamkeit verloren gehen. So bereichert die Untersuchung die Möglichkeiten qualitativer Bewältigungsforschung. Die Ergänzung durch einen Selbsteinschätzungsfragebogen zur momentanen Belastung mit Basisstörungssymptomatik erlaubt die Kombination mit einem quantitativen dimensional angelegten Maß.
Die Darstellung der Einzelfälle im Kapitel 6 kulminiert in Fallstrukturhypothesen, die Typen bestimmter Agency sinnhaft miteinander in Verbindung bringen sollen. Das Handeln der Behandelten wird so, wie es sich in der Form der erzählerischen Selbstdarstellung verrät, aufgedeckt und rekonstruiert. Es wird typisierend in Form eines Dispositionskonstrukts (Agency) zugeschrieben und mit den Basisstörungen in Beziehung gesetzt. Das gut dokumentierte Fallmaterial ist sehr anschaulich. Man versteht den Alltag und die Probleme aus der Perspektive von Menschen besser, die als psychisch Kranke mit Beeinträchtigungen leben. Es scheint allerdings schwer zu sein, der Sprache kategorisierender psychiatrischer Einordnungen zu entrinnen: Die Fallbeschreibungen zeugen zwar von großem Respekt vor dem Eigensinn der Betroffenen, der gut herausgearbeitet wird, sind aber stellenweise durchmischt mit beurteilenden psychopathologische Zuschreibungen: „Frau K. wirkt orientiert und kohärent.“
Auf Grundlage eines ständigen Vergleichs arbeitet der Autor in Kapitel 7 schließlich einzelfallübergreifende Motive und Konstellationen von Agency heraus, um Regelmäßigkeiten und Rahmenbedingungen für das Handeln von Behandelten zur Diskussion zu stellen: Alle Interviewpartner/innen fühlen sich der Krankheitsdynamik ausgeliefert. „Wahnhaftes“ lässt sich auf Grundlage der Fallrekonstruktionen so verstehen, dass es den Zweck erfüllt, subjektive Handlungsmächtigkeit zu ermöglichen, wenn diese auch prekär erscheint. Die Medikation kann in Abhängigkeit von der Verordnungspraxis als Beherrschung erlebt werden oder als Mittel, das die eigene Agency erweitert. Dasselbe gilt für den Einfluss von Institutionen, die aktive Agency fördern oder behindern können. Der Sinn hinter dem, was zunächst beliebig erscheint, erschließe „sich erst bei Einbettung in die jeweilige Fallstruktur“. Gleiches gilt auch für Effekte des sozialen Umfeldes, wenn hier Stabilität auch grundsätzlich mit aktiver Agency korrespondiert.
Die deutliche Betonung, die „einzelnen Motive nicht losgelöst von der Gesamtlogik des Falls zu betrachten“ verbindet der Autor im abschließenden Kapitel 8 mit einem Plädoyer für rekonstruktive Sozialarbeit und ethnographische Methoden des Fremdverstehens in der Praxis. Er verknüpft das Agencykonzept und konkrete Ergebnisse mit sozialarbeitswissenschaftlicher Theoriebildung – insbesondere mit dem Bewältigungsparadigma – und zeigt Konsequenzen für die sozialpsychiatrische Praxis auf.
Fazit
Das Buch ist ein interessantes Beispiel gut gemachter und durchdachter qualitativer Bewältigungsforschung. Es liefert anregende Impulse für die sozialpsychiatrische Forschung und stellt mit dem Agency-Ansatz ein vielversprechendes Konzept zur Diskussion. Die subjektive Perspektive und der soziale Kontext werden so aufeinander bezogen, dass der Leser versteht, wie sie sich wechselseitig konstituieren. Lesenswert und aufschlussreich sind insbesondere die belegenden Fallbeispiele, welche dem Leser/der Leserin Einblicke in die Eigenlogik des Handelns der Behandelten eröffnen. Der Autor zeigt die Interviewten differenziert in ihrer Ambivalenz, ihrer begleitenden Reflexivität, ihren Bewältigungsbemühungen und sozialen Bezügen. Zusätzlich ertragreich wäre es m. E. gewesen wenn Heiko Hoffmann seine eigene Rolle als Interviewer und Auswerter selbstrefexiv als weitere Datenquelle genutzt hätte. Zudem sollten kognitive Repräsentationen auch an (sozialen) Ressourcen festgemacht werden. Dies ist eine Rückbindung, auf die sowohl von Helfferich (in ihrem Vorwort) als auch vom Autor selbst ausdrücklich verwiesen wird, die aber noch nicht in der verwandten Forschungslogik steckt. Diese Anmerkungen sind weniger als Kritik am Buch, sondern als Anregung zu verstehen, wie sich der Fokus um andere Perspektiven erweitern ließe. Das Buch ist eine interessante und anregende Lektüre für Leser, die im psychosozialen Feld tätig sind oder tätig werden wollen.
Literatur
- Bandura, A. (1997): Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen: dgvt-Verlag.
- Bethmann, Stephanie; Helfferich, Cornelia; Hoffmann, Heiko; Niermann, Debora (Hg.) (2012): Agency. Qualitative Rekonstruktionen und gesellschaftstheoretische Bezüge von Handlungsmächtigkeit. 1. Aufl. Weinheim: Juventa (Edition Soziologie).
- Goffman, Erving (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Homfeldt, Hans Günther; Schröer, Wolfgang; Schweppe, Cornelia (Hg.) (2008): Vom Adressaten zum Akteur. Soziale Arbeit und Agency. Opladen: Budrich.
- Kardorff, Ernst von (2010): Soziale Netzwerke in der Rehabilitation und im Gesundheitswesen. In: Christian Stegbauer und Roger Häußling (Hg.): Handbuch Netzwerkforschung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 715-724.
- Leferink, K. (2012): Zur Intersubjektivität psychiatrischer Diagnosen. Die Rolle des Selbst. Journal für Philosophie und Psychiatrie. www.jfpp.org/104.html?&no_cache=1&sword_list[]=diagnosen [30.05.2012]
- Lucius-Hoene, Gabriele; Deppermann, Arnulf (2004): Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews. 2. Aufl. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.
- Rotter, J. B.: 1966: Generalized expectancies for internal versus external control of reinforcement. Psychological Monographs, 33 (1), 300-303.
- Schwarzer, R. (1996): Psychologie des Gesundheitsverhaltens. Görringen: Hogrefe.
Rezension von
Manfred Zaumseil
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Zitiervorschlag
Manfred Zaumseil. Rezension vom 31.10.2012 zu:
Heiko Hoffmann: Das Handeln der Behandelten. Eine rekonstruktionslogische Analyse der Agency von Psychoseerfahrenen. FEL Verlag Forschung Entwicklung Lehre
(Freiburg) 2011.
ISBN 978-3-932650-46-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13609.php, Datum des Zugriffs 07.12.2024.
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