Klaus Jost: Gefährliche Gewalttäter? [...] Kriminalprognose
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfgang Klug, 29.08.2012
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Klaus Jost: Gefährliche Gewalttäter? Grundlagen und Praxis der Kriminalprognose. Kohlhammer Verlag (Stuttgart) 2012. 204 Seiten. ISBN 978-3-17-022079-9. 49,90 EUR.
Siehe auch Replik oder Kommentar am Ende der Rezension
Autor
Dr. phil. Klaus Jost arbeitete über zwei Jahrzehnte an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Frankfurt am Main. Er ist Fachpsychologe und Supervisor für Rechtspsychologie und als Dozent für Psychologie in der Erwachsenenbildung tätig. (Klappentext)
Thema
„Sowohl ein anwachsendes Sicherheitsbedürfnis als auch Gesetzesänderungen verlangen Aufklärung in Fragen der Verhaltensprognose von Menschen mit schweren Straftaten. Statt auf Intuitionen hat sich der Sachverständige auf wissenschaftliche Methoden zu verlassen. Das Buch stellt nicht nur zahlreiche moderne, international anerkannte Verfahren zur Kriminalprognose vor, sondern beleuchtet auch ausführlich zwei Fallbeispiele und greift grundlegende Fragen der Prognoseproblematik sowie des Gewalthandelns auf. Dem Leser erschließt sich somit ein unverzichtbarer Wissenshintergrund für eine überaus schwierige und verantwortungsvolle Art forensischer Begutachtungstätigkeit.“ (Klappentext)
Aufbau und Inhalt
Das Buch beginnt im ersten Kapitel mit „Gewalttaten – Hintergründe und der Umgang mit den Tätern“. Nach einer etymologischen und statistischen Einleitung beschäftigt sich der Autor mit den Ursachen von Gewalt, die er in der Trias Person – Umwelt – Situation verortet. Im Unterkapitel über die Person werden hauptsächlich die Fragen der Impulskontrolle und der Dissozialität beschrieben, hier folgt der Autor weitgehend Reinhard Hallers Diktion der „Person des Bösen“, die dieser vor einiger Zeit in „Psychologie heute“ dargelegt hat. Die Rolle der Umwelt wird durch Sozialisation (Familie), Risikofaktoren und Medien beschrieben, zur „Situation“ erfolgen keine weiteren Erläuterungen. Stattdessen wird das erste Kapitel mit einem Beitrag zu „school shooting“ beschlossen, also den Amokläufen an Schulen. Das letzte Teilkapitel ist zwar mit „Anmerkungen zur Prävention von Gewaltdelinquenz und zur Therapie von Tätern“ überschrieben, befasst sich aber nur sehr allgemein mit Sekundärprävention von Schulattentätern.
Im zweiten Kapitel geht es um die „Gefährlichkeit von Gewalttätern“. Hauptsächlich werden hier die Rückfallgefahren von dissozialen Tätern thematisiert. Betont werden auch Notwendigkeit und Inhalte einer Gefährlichkeitsprognose.
Das dritte Kapitel ist überschrieben mit „Anlässe und Ziele sowie gesetzliche Vorgaben kriminalprognostischer Beurteilung von Straftätern“ und handelt von den gesetzlichen Rahmenbedingungen von Prognosebeurteilungen.
Das Thema des vierten Kapitels lautet: „Grundsätzliches zur Kriminalprognose von Straftätern“. Betrachtet wird zunächst die Möglichkeit valider Kriminalprognosen. Sujets sind der Unterschied zwischen Prognoseirrtum und Prognosefehler, Probleme der Prognoseerstellung sowie Schwierigkeiten mit dem Prognosezeitraum. Im nächsten Abschnitt werden (sehr allgemein) fachliche Standards sachverständiger Kriminalprognosen referiert, die allerdings erst im 7. Kapitel konkretisiert werden. Schließlich ist (in diesem Buch zum wiederholten Male) etwas über die „Bedeutung von verhaltensbestimmenden Persönlichkeits- und Situationsfaktoren für Prognosebeurteilungen“ zu lesen.
Das fünfte Kapitel behandelt die „Rückfallrisiken von Straftätern“. Es werden rückfallrelevante Merkmale wie Alter, Geschlecht und Deliktgruppen ebenso beschrieben wie die Basisrate, Rückfallprävention und (ausführlich) Rückfälligkeit von Sexualstraftäter. Zum Schluss des Kapitels geht es um die Frage der Therapiemöglichkeiten von Sexualstraftätern.
Im sechsten Kapitel schließlich werden „Vorgehensweisen und Methoden der Kriminalprognose“ abgehandelt. Hier werden die drei klassischen Gruppen von Vorhersagemethoden referiert: die intuitive (nur sehr kurz erwähnt), die statistische und die klinische. Auf ca. 20 Seiten werden als statistische Instrumente u. a. LSI-R (1995), HCR-20 (1997), SVR-20 (1997), SORAG (1998) und der VRAG (1998) vorgestellt. Es folgen die klinischen Instrumente, zunächst die mit beschränktem, dann die mit größerem Anwendungsbereich. Hier werden die beiden Prognoseinstrumente von Rasch/Konrad (2004) und Dahle (2005) dargelegt. Schließlich werden die „Dittmannliste“ und einige weitere Instrumente aufgezeigt. Der Autor vergisst nicht zu erwähnen, dass „das Gespräch mit dem Probanden, seine Exploration, die trotz der Möglichkeit, die strukturierte Interviews und Checklisten zur Fremdbeurteilung bieten, unverzichtbar ist“. Er fährt fort: „Freie Explorationen erfolgen nicht unstrukturiert, jedenfalls in der Durchführung erfahrener Gutachter. Hier ist der Sachverständige gleichsam die Untersuchungsmethode.“ (S.123) Interessant wäre sicherlich, wie sich diese „freie Exploration“ mit den detailreichen Standards der Begutachtung verträgt, und was Qualitätskriterien einer solchen Exploration sind. Hierüber erfahren wir freilich nichts.
Im siebten Kapitel folgen „Mindestanforderungen und aktuelle Qualitätskriterien für kriminalprognostische Begutachtungen“. Hier zitiert der Autor auf den nächsten sieben Seiten den Text einer Arbeitsgruppe, die diese Mindestanforderungen formuliert hat.
Das achte Kapitel beschließt den inhaltlichen Teil des Buches mit zwei eigenen Begutachtungsfällen.
Diskussion
Wenn ein Autor auffallend oft immer wieder die gleichen Autoren zitiert, stolpert der Leser irgendwann darüber. Konkret: Im vorliegenden Buch werden überdurchschnittlich häufig die Namen Egg, Endres und Dahle zitiert, bei den ersten beiden gar Artikel von nur ca. 20 Seiten. Wenn also diese Autoren so häufig zitiert oder auch auf mehreren Seiten die Texte einer Arbeitsgruppe (Boetticher et al.) abgedruckt werden, stellt sich zwangsläufig die Frage, was denn der Autor für einen eigenen Beitrag zu seinem Buch leistet, da man das, was er schreibt, so oder so ähnlich schon bei Egg, Endres und u. a. gelesen hat. Die situative Sinnfrage des Lesers mündet in quälenden Ungewissheiten: Warum und für wen wurde dieses Buch eigentlich geschrieben?
So richtig wird der Leser erst im letzten Kapitel neugierig, wenn uns der Autor zwei seiner Begutachtungen vorstellt. Wir können uns ausmalen, wie interessant es hätte sein können, in die „Werkstatt“ des Autors, in seine gutachterliche Praxis zu schauen, um von dort aus verschiedene von ihm verwendete Instrumente differenziert anhand der Fälle dargelegt zu bekommen. Dass er einen breiten Praxisfundus besitzt, zeigen die Begutachtungen. Hätte … könnte … sollte: Stattdessen also wird uns eine schier unendliche Vielzahl von nebeneinander gestellten Instrumenten präsentiert, die für den, der mit der Materie vertraut ist, altbekannt sind, für den nicht vorinformierten Leser aber ein Gefühl der Überfrachtung hervorrufen mögen. Hinzu kommt, dass der Autor bei der Darstellung der Instrumente diese ihrer Hintergrundtheorie entkleidet (beispielsweise hätte man für das LSI-R natürlich zwingend Andrews/Bonta?s „Psychology of Criminal Conduct“ heranziehen müssen), sich kaum mit Fragen empirischer Validierung aufhält (die man bei Dahle gut nachlesen kann) und sich noch dazu in der Gesamtbewertung widerspricht (S. 81: Die klinische Methode ist zu bevorzugen, S. 114: Der Methodenstreit ist beigelegt, keine der Methoden ist zu bevorzugen).
Wenn sich der Autor für ein „Theoriebuch“ entscheidet, dann müssen zudem die Maßstäbe eines theoretisch adäquaten Fachbuches angelegt werden. Einer dieser Maßstäbe ist die Aktualität der Ausführungen. Der Autor stützt sich häufig auf Quellen, die Anfang bis Mitte des letzten Jahrzehnts datiert sind. Ist es vermessen zu erwarten, dass angesichts des ohnedies sehr eingegrenzten Themas der verfügbare Wissenshintergrund (so ja immerhin der Selbstanspruch) referiert wird? Wäre nicht – um nur ein Beispiel zu nennen – die Publikation von Boetticher/Dittmann et al. (2009) „Zum richtigen Umgang mit Prognoseinstrumenten durch psychiatrische und psychologische Sachverständige und Gerichte“ einschlägig und zu verarbeiten gewesen? Jedenfalls fehlen verbesserte Neuauflagen von gewichtigen Wissenschaftlern, z. B. Nedopil und Rasch. Neuerscheinungen wie Volbert/Dahle (2010), Kröber et al. (2010) werden nicht zur Kenntnis genommen, ebenso ist es kaum verständlich, dass eine Neuentwicklung wie der FORTRES in einer Fußnote abgehandelt wird. Dagegen ist es fast schon marginal, dass der Autor das in der neueren Literatur immer wichtiger werdende Thema der protektiven Faktoren kaum erschöpfend in seine Überlegungen einbezieht.
Fazit
Der Praxisteil gefällt dem Rezensenten gut, sodass sich von hier aus viele Bezüge auch zur Wissenschaft hätten ergeben könnten. An dem eigenen Anspruch des Autors gemessen („unverzichtbarer Wissenshintergrund“), ist das Buch eine zwar fleißige Sammlung, weil um die Darstellung der Vielfalt prognostischer Instrumente bemüht, letztlich aber doch nicht gänzlich überzeugend.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfgang Klug
Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt
Fakultät Soziale Arbeit
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