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Hans-Rudolf Wicker: Migration, Differenz, Recht und Schmerz

Rezensiert von Dr. Mehmet Sekeroglu, 09.01.2013

Cover Hans-Rudolf Wicker: Migration, Differenz, Recht und Schmerz ISBN 978-3-03-777110-5

Hans-Rudolf Wicker: Migration, Differenz, Recht und Schmerz. Sozialanthropologische Essays zu einer sich verflüchtigenden Moderne, 1990 - 2010. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2012. 367 Seiten. ISBN 978-3-03-777110-5. 37,00 EUR. CH: 48,00 sFr.
Reihe: Sozialer Zusammenhalt und kultureller Pluralismus.

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Thema

Die in diesem Werk behandelten Themen befassen sich mit Migrationsforschungen zwischen den Jahren 1990 und 2010. Es handelt sich hierbei um Texte, „deren gemeinsamer Focus im Fremden und im Umgang mit demselben angelegt ist”, so Hans-Rudolf Wicker. Es wird allgemein über transnationale Mobilität bzw. über verschiedene Projekte diskutiert, an denen vor allem Studierende mitgewirkt haben, die sich an einer vom Autor geleiteten Forschung aktiv beteiligten.

Es handelt sich um ein Werk, das im Diskurs über Migration mehrere Ansprüche erfüllen kann: sowohl den, den allgemeinen Wissenstand über das Migrationphänomen zu erhellen als auch einen Überblick über die aktuellen akademischen Diskurse zu diesen Themen zu geben.

Die behandelten Aspekte bieten ein breites Spektrum, das ich zunächst grob in drei Bereiche unterteilen möchte:

  1. Vordergründig haben die Essays einen sozialanthropologischen theoretischen Anspruch über das Migrationsphänomen.
  2. Ein historischer Überblick zu den Erfahrungen über Migrationspozesse in den europäischen Ländern bzw. in den USA wird vermittelt.
  3. Ergebnisse über die Teilaspekte der Migrationsforschung allgemein in der Welt, in Europa und speziell in der Schweiz werden den Lesern auch in Fakten und Zahlen dargestellt.

Aufbau und Inhalt

Der erste von vier Teilen des Buches befasst sich mit dem Zusammenhang von Migration und Bürgerrechten aus unterschiedlichen Perspektiven, wobei sich die Beiträge mehrheitlich auf die Schweiz beziehen. Hier wird sowohl die „negative Differenzierung von Ausländerkategorien” als auch die Integrations- und Einbürgerungsthematik diskutiert. Eine der wichtigsten Ansätze dieses Kapitels ist die sozialwissenschaftliche Feststellung, dass die sogenannten „Zuwanderer” nicht – wie ein bekanntes Sprichtwort beschreibt – über einen Kamm zu scheren seien. An mehreren Stellen seines Buches beschreibt Wicker, dass die Lebensformen, Schichtenzugehörigkeiten und Ressourcenzugänge innerhalb der Migrantengruppen unterschiedlich sind. In diesem Teil wird noch darüber diskutiert, dass sowohl der „Bürger” als auch der „Ausländer”/ „Fremde” von dem jeweiligen Aufnahmeland konstituiert wird. Wer Fremder und wer Bürger ist bestimmt also das Aufnahmeland. Die unter dem ständigen Verdacht der Illoyalität zum Einwanderungsland stehenden „Ausländer” erfüllen durch ihre fast zwangsläufige Identifikation mit ihrer Ursprungsheimat eine sich selbst erfüllende Prophezeiung.

Im zweiten Teil widmet sich Wicker dem Thema Einbindung bzw. Ausgrenzung von Migranten in die Aufnahmegesellschaft, wobei er vor allem nach der Reichweite von Konzepten zum interkulturellen Zusammenleben sucht. Der Autor beschäftigt sich mit dem seit Mitte der neunziger Jahre intensiv diskutierten Begriff des Multikulturalismus bzw. mit seinen ideologischen Interpretationen. Auch der Terminus Xenophobie wird in diesem Teil distutiert. Eine der wichtigen Feststellungen hierbei ist, dass die nicht verwirklichte Integration in den USA mit dem Scheitern der Assimilation erklärt wird. Die Pluralisierung der Gesellschaft in den westlichen Migrationsländern wird weder von den „Illegalen” noch von denen, die ein unsicheres Bleiberecht haben, gewollt, sondern von denjenigen, die über genügend Rechte und Ressourcen verfügen. Gerade letztere sind es, die „das Recht auf Differenz” auf ihre Fahnen schreiben, so dass desintegrierende Pluralisierungsprozesse der Gesellschaft vorangetrieben werden.

In diesem Zusammenhang nimmt der zwischen den Jahren 1980-2000 das Migrationsthema beherrschende Diskurs über die „Multikulturelle Gesellschaft” im Buch einen besonderen Stellenwert ein. Wicker stellt dazu immer wieder treffend fest, dass die ethnischen und kulturellen/ religiösen Differenzierungen in Bezug auf Migrantengruppen durch eine besondere Zuwanderungspolitik konstituiert werden. Ohne diese Tatsache zu verstehen, kann man die relevanten sozialen und wirtschaftlichen Zusammenhänge weder im Aufnahmeland- noch im Ursprungsland begreifen. Die Kulturalisierung bzw. die Politisierung der sozialen und wirtschaftlichen Interessen bedingen sogar die Strafprozesse innerhalb der europäischen Länder. Das endet damit, dass die sogenannten kulturellen Differenzen verfestigt werden.

Der dritte Teil des Buches befasst sich mit der Strafjustiz und der Frage der Gleichbehandlung ausländischer Straftäter vor Gericht und in den Gefängnissen des Aufnahmelandes. Wickers sozialanthropologisches Interesse an diesem Thema wurde vor allem dadurch begründet, dass er von Strafrichterinnen- und richtern des öfteren mit dem Erstellen von Gerichtsgutachten beauftragt wurde. Im Verlauf dieser Gutachtertätigkeit kam der Autor mit Angeklagten mit ausländischem Pass in Kontakt, die wegen schwerer Gewalttaten angeklagt worden waren, und musste sich so mit „ethnologisch-psychiatrischen Explorationen” befassen. Einerseits durch seine spezialisierte „Logik der Praxis”, andererseit durch sein sozialwissenschaftliches Engagement kommt Wicker zum Ergebnis, dass die ausländischen Gefängnisinsassen sowohl eine „verdoppelte Exklusion” als auch eine „Inklusion am falschen Ort” erleben.

Im abschließenden vierten Teil des Buches steht „der malträtierte und schmerzende Körper”, so Wicker, im Vordergrund. Dieser am stärksten anthropologisch geprägte Teil des Buches ist für ihn auch von persönlicher Bedeutung: er ist nämlich in seinem ethnologischen Berufsleben einer ganzen Reihe von Menschen begegnet, „die im Schmerz gefangen waren und starben, und solchen, die gefoltert worden sind”. Hier handelt es sich sowohl um Gewalt- und Folterzustände im damaligen (1975-1981) – von dem Militärdiktator Alfredo Stroessner regierten – Paraguay, wo Wicker ein Projekt der internationalen Zusammenarbeit leitete, als auch um Erfahrungen mit südostasiatischen Flüchtlingen. Eine weitere Begegnung des Autors war mit gefolterten und traumatisierten Menschen aus Vietnam, Kambodscha und Laos, die „boat people” genannt wurden.

Spätestens in diesem vierten Teil kommt die eigentliche sozialwissenschaftliche Methode Wickers, nämlich die der „doppelten Hermeneutik” Antony Giddens' zum Vorschein, worin „ein Großteil der universitär getätigten Forschungen ihren Ursprung vermutlich in der privaten Sphäre hat”.

Genau in diesem Kontext wird das vorliegende Buch von Wicker nicht nur seinem wissenschaftlichen Anspruch des Verstehens gerecht, sondern ist ein gelungener Versuch des mindestens seit Mills (The soziological imagination) diskutiertes Konzepts, dass die nur auf Daten und Fakten fixierte Soziologie (besser: „Soziometrie”) nicht in der Lage sein kann, die Gesellschaft in ihrer Einheit mit dem Menschen im anthropologischen Sinne zu verstehen. Der Autor geht diesen Weg: Er hat, mit Anwendung der sozial- und geisteswissenschaftlichen Methoden den Anspruch, der Komplexität einer Gesellschaft, die einem Globalisierungs- und Universalisierungsprozess unterliegt, entgegen zu wirken. Auf diesem Wege versucht er, die Konstruktion des Menschen und die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Beziehungen zu analysieren und zu verstehen.

Diskussion

Im Zuge meiner Begeisterung über dieses Buch könnte ich mir jedoch eine anregende Diskussion mit dem Autor an einem Punkt vorstellen, und zwar bezüglich seiner Feststellung über den eigentlichen Charakter des modernen liberalen Staates. Einerseits stellt Wicker treffend fest, dass sowohl Zuwanderungsgesellschaften als auch Zuwandernde gemeinsam (desintegrative) kulturelle Diversität erzeugen. Andererseits aber merkt er an: „Ich würde nun sagen, dass jene Rechts- oder Ordnungssysteme, welche zu Zeiten Durkheims noch gesellschaftlichen Zusammenhang sichern konnten, inzwischen viel an Kraft eingebüßt haben. Immer weniger gelingt es liberalen Staaten, ihren emanzipierten und sich selbst verwirklichenden Bürgerinnen und Bürgern die Vorstellung von einem Leben zu vermitteln, das Gemeinschaftlichkeit erzeugt.” (S. 17).

Ich würde hier entgegen halten, dass eine der altbekannten Herrschaftsstrategien des „liberalen Staates” die „Teile- und- herrsche”- Politik ist, welche die Duldung, Zersplitterung und das gegeneinander Ausspielen der kommunitaristisch gesinnten ethnischen und religiösen Migranntengruppierungen gerade zulässt. Diese eine besondere Form der „negativen Integration” hat wiederum die Funktion, Feinbilder, Stigmatisierungen und Diskriminierungen gegenüber diesen Gruppen aufrechtzuerhalten: Wir wissen ja schon aus verschiedenen sozialpsychologischen Untersuchungen (z. B. Muzaffer Sherif bzw. Mario Erdheims), dass die Repräsentanz der negativ markierten Fremden die Funktion des gesellschaftlichen Zusammenhalts der eigenen Gruppe (Ethnie/ Religion) hat.

Fazit

Ich empfehle dieses einzigartige Buch aus mehreren Gründen: Hier können nicht nur diejenigen Leserinnen und Leser, die das Migrationsthema aus persönlicher Motivation für wichtig halten, ihr Wissen erweitern oder ihre Neugier stillen möchten. Auch diejenigen, die forschen wollen, aus welchen Gründen die sogenannte Integration der Migranten zum Scheitern verurteilt ist bzw. unter welchen Rahmenbedingungen sie gelingen könnte, werden hier ihren Horizont erweitern.

Hier haben wir es mit einem Werk zu tun, das dermaßen vieldimensional in seinem Themenspektrum und intensiv in seinem gesellschaftlichen – ja auch ethischen – Engagement ist, wie es im deutschrachigen Raum selten anzutreffen ist.

Jeder, der sich mit Migration bzw. Diversity beschätigt, sollte dieses Buch ernst nehmen.

Rezension von
Dr. Mehmet Sekeroglu
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Es gibt 2 Rezensionen von Mehmet Sekeroglu.

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Zitiervorschlag
Mehmet Sekeroglu. Rezension vom 09.01.2013 zu: Hans-Rudolf Wicker: Migration, Differenz, Recht und Schmerz. Sozialanthropologische Essays zu einer sich verflüchtigenden Moderne, 1990 - 2010. Seismo-Verlag Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen AG (Zürich) 2012. ISBN 978-3-03-777110-5. Reihe: Sozialer Zusammenhalt und kultureller Pluralismus. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13648.php, Datum des Zugriffs 23.01.2025.


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