Christa Maria Bauermeister: Sehnsucht nach Wahrheit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 31.07.2012

Christa Maria Bauermeister: Sehnsucht nach Wahrheit. Schüler befragen ihre Region und begreifen die Welt. Leinebergland Druck GmbH & Co. KG (Alfeld (Leine)) 2012. 672 Seiten. ISBN 978-3-9811183-4-6. 19,99 EUR.
„Wer zur Quelle will, muss gegen den Strom schwimmen“
Die Weisheit stammt von Hermann Hesse; und der deutsche Schriftsteller Peter Tille hat sie umformuliert in: „Wer mit dem Strom schwimmt, erreicht die Quelle nie“. In beiden Sprüchen steckt eine nicht selten ohne Anstrengung zu erreichende Wahrheit: Wahrheiten, Einsichten, Überzeugungen und Leitlinien über und für das Leben erhält man nicht, indem man mit den Mainstream schwimmt, sondern wenn man kompetent und kritisch fragt. Es sind nicht die obskuren, konformistischen und konservativen Einstellungen wie – „Das haben wir schon immer so gemacht!“, „Das haben wir noch nie so gemacht! und „Da könnt‘ ja jeder kommen!“ – die Verhaltensänderungen bewirken, sondern es ist der Mut, selbst zu denken und zu handeln (vgl. dazu auch: Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12903.php). Im „Merkur“, der Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken, 9/10, September/Oktober 2011, wird postuliert: „Sag die Wahrheit!“, und erläutert, „warum jeder ein Nonkonformist sein will, aber nur wenige es sind“ (hrsg. von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, S. 751 – 993, ISSN 0026-0096). In der „Gebrauchsanweisung für Nonkonformisten“, die Kurt Scheel in NDR Kultur als „Gedanken zur Zeit“ am 2. 10. 2011 brachte, heißt es u. a.: „Freimütig die Wahrheit sagen ist für den existentiellen Nonkonformisten edelstes Ziel“.
Entstehungshintergrund und Herausgeberin
Da sind wir dann schon bei dem edlen Ziel, in der Bildung und Erziehung den Sinn für Wahrheit zu ergründen und zu vermitteln. Denn Schule, so heißt es in allen Schulgesetzen, soll die Schülerinnen und Schüler zu selbstbewussten, selbstbestimmten und ein gutes, individuelles, soziales und gesellschaftliches Leben anstrebenden Menschen bilden; weil nämlich Lernen und Aneignung von Wissen nicht Selbstzweck sein kann, sondern einen Weg hin zur Verhaltensänderung weisen soll und „Lernen in Beziehung“ bedeutet (Tobias Künkler, Lernen in Beziehung. Zum Verhältnis von Subjektivität und Relationalität in Lernprozessen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12017.php). Dass dieser Anspruch und diese Anstrengung kein Selbstläufer ist, wird immer dann deutlich, wenn Lehrerinnen und Lehrer sich nicht nur als Unterrichts-„beamte“ und die Vermittlung der von den offiziellen Lehrplänen vorgegebenen Lerninhalte alleine als ihren Bildungs- und Erziehungsauftrag verstehen, sondern selbst denken und sich mit ihrer ganzen Person als Erzieher und Bildner in den Lernprozess einbringen.
Das lässt sich von einer Alfelder Lehrerin sagen: Die Oberstudienrätin am dortigen Gymnasium, Christa Maria Bauermeister, ist ohne Zweifel eine Querdenkerin im guten pädagogischen Sinn. Sie erfüllt damit in vorbildlicher Weise die Anforderungen, wie sie von Lehrkräften in den Zeiten der sich immer interdependenter und entgrenzender entwickelnden (Einen?) Welt erwartet werden können, nämlich Schülerinnen und Schüler dazu zu bringen, global denken und lokal handeln zu lernen. Dies vor allem angesichts des zunehmenden Zweck-Denkens und der Vernachlässigung der Frage nach der Sinngestaltung des Lebens, was mittlerweile scheinbar Alltag beim schulischen Lernen ist.
Christa Maria Bauermeister hat 2010 ein Projekt initiiert, das sie „Geld und Leben“ nennt; ein schulisches Vorhaben übrigens, bezüglich dessen der Schulleiter ihres Gymnasiums in Alfeld/L. in einer im Buch abgedruckten Erklärung glaubt feststellen zu müssen, dass „bei der inhaltlichen und organisatorischen Vorbereitung des genannten Projekts ( ) die Schule in keiner Weise beteiligt (war und ist)“ und zudem darauf verweist, dass „das genannte Projekt ( ) in keinem direkten Zusammenhang mit schulischem Unterricht (sic! JS) (steht)…“. Was für ein Armutszeugnis für eine (verwaltete) Schule! Dass das Projekt trotz dieser Widerstände zustande kam, erfolgreich durchgeführt werden konnte und nun als Buchform dokumentiert wird, zeigt, dass Lehrkräfte (außer Frau Bauermeister engagierten sich einige Kolleginnen und Kollegen des Alfelder Gymnasiums und zahlreiche von anderen Schulen in der Stadt und im Landkreis bei dem Lernvorhaben), wie auch der Projektverlauf und die -ergebnisse bei Eltern und in der Öffentlichkeit, u. a. auch durch den Hildesheimer Bürgerradio „Tonkuhle“ (Fm 105,3,www.tonkuhle.de, Kabel 97,85 und Livestream), wahr- genommen und gewürdigt wurden. Die ProjektteilnehmerInnen haben bei der Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung der Lernergebnisse zahlreiche Anregungen und begleitende Informationen erhalten, u. a. von dem in Hildesheim geborenen und an der Universität Braunschweig lehrenden (em.) Philosophen Bernhard H. F. Taureck (siehe dazu auch: Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von „Neid“ und „Gier“, www.socialnet.de/rezensionen/10159.php).
Aufbau und Inhalt
Neben dem Grußwort des Alfelder Bürgermeisters Bernd Beushausen, einem ehemaligen Schüler des Gymnasiums und gleichzeitig Interviewpartner des Projektes, steht das Vorwort des ehemaligen Niedersächsischen Kultusministers (1990 – 1998) und Präsidenten des Niedersächsischen Landtages (1998 – 2003), Rolf Wernstedt, der feststellt: „Das hier vorgelegte Buch ist ein Wagnis… Aber es ist ein ungeheurer Gewinn für die Region, sich in dieser Weise zu präsentieren, unzensiert, unfrisiert und voller Zukunftswillen“, und er drückt, wissend ob der Widerstände gegen das ungewöhnliche Lernprojekt, ergänzend die Hoffnung aus: „Das Ergebnis möge auch die anfänglichen Skeptiker überzeugen!“
Das Initiatorenteam – Max Remmert, Mascha Lange, Raja-Léon Hamann, Sören Rekel, Roman Kirk und Christa Maria Bauermeister – gliedert die Dokumentation der 55 Interviews beim Projekt der „freien Schülerinitiative ‚Geld und Leben‘“ in zwei Kapitel. Im ersten Teil werden drei Interviews mit der Überschrift „Weichenstellung“ abgedruckt, die SchülerInnen unter den Aspekten „Lebenserinnerung“ – „Bewältigung“ – „Zukunftsvisionen“ mit dem Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Hannover, Christian Pfeiffer, geführt haben und das er titelt mit: „Ein Student in London“; zum zweiten mit der Leiterin der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover-Leinhausen, Ingrid Wettberg, und das sie überschreibt mit: „Ein Kind im Kellerversteck“; und drittens mit dem Alfelder Bürgermeister Bernd Beushausen, in dem er sich erinnert: „Ein Schüler in Auschwitz“.
Im zweiten Kapitel werden „Sieben Kreise“ geordnet. Im Themenkreis „Leben“ äußern sich in einem (anonymen) Interview „zwei Hebammen zur Nachtzeit“. Sie berichten über ihre Arbeitsbedingungen, die mangelnde gesellschaftliche Anerkennung und erzählen von der Ignoranz, von unzureichender Aufklärung um ihr Arbeitsfeld herum. Weil Hebammen mehr und mehr zu „Dienstleistern“ werden, wird ihre eigentliche Aufgabe der „Geburtshilfe“ immer defizitärer. Im zweiten Interview zur Frage „Ein Kind als Armutsrisiko?“ kommt eine (anonyme) Sozialpädagogin aus der Region zu Wort. Es geht um die Problemfelder „Alleinerziehende“, „Langzeitarbeitslosigkeit“ und „Perspektivlosigkeit“ in einer immer egoistischer sich entwickelnden Gesellschaft. Das dritte Interview wird mit einer (wieder anonymen!) Krankenpflegehelferin geführt und mit dem kennzeichnenden Titel „Das Schweigen“ versehen. Es geht um Kostendruck, Sachleistungen, Privatisierung. Auf der Strecke bleiben der hilfsbedürftige Mensch und der ausgebeutete auf der anderen Seite. Die nächsten beiden Interviews geben eine (anonyme) Ärztin: „Das kranke Krankenhaus“ (I) und eine (anonyme) Krankenschwester (II). Sie stellen beide das Krankenhaus als ein System der „Selbstausbeutung der Pflege und Ärzte“ und als „Kostendurchlaufstation“ mit enormem Kostendruck dar. „Lebendig schon fast tot“, so charakterisiert ein Langzeitarbeitsloser seine Situation, die Chancenlosigkeit, Entwürdigung und Bürokratisierung kennzeichnet. Mit der resignativen Bestandsaufnahme: „Was bleibt, sind zwei Katzen“ erzählt ein weiterer Arbeitsloser, wie er „in ALG II gefallen“ ist, und zwar von gut bezahlten Jobs als Betriebsleiter in zwei Firmen, die Insolvenz anmelden mussten, nachdem die Herstellung der Produkte in China erheblich billiger war. In dem Gespräch wird deutlich, dass Arbeitslosigkeit nicht die Schuld der Berufstätigen ist, sondern des kapitalistischen, neoliberalen, globalisierten Systems – und Politik und Gesellschaft schauen weg! Der ehemalige Studentenpfarrer Gerjet Harms und seine Frau Luise, beide Pastoren der evangelischen Matthäuskirche in Hildesheim, berichten über ihre Erfahrungen beim „Kirchenasyl“. Sie haben mehrfach von der Abschiebung bedrohte Asylsuchende, mit Einverständnis der Kirchengemeinde, in deren Räumen aufgenommen und sie dadurch vor staatlichem Zugriff bewahren können; weil es darum geht, „Gott mehr zu gehorchen als den Menschen“. Verständnis für die Behörden einerseits, aber vor allem das Bewusstsein, dass Recht für die Menschen da sein muss und keinen Selbstzweck darstellen darf, das ist die Empathie, die Gerjet und Luise Harms antreibt. Das Gespräch mit dem Alfelder Verwaltungsrichter Ewald Hartmann kreist um die Fragen nach Recht, Gerechtigkeit und der Bedeutung des Geldes im Leben der Menschen: „Geld ist Lebensmittel, nicht Kultobjekt“. Dabei stellt er einen Zusammenhang zwischen Geld und Freiheit her. Er zeigt dabei nicht nur auf, dass „Geld und Freiheit ( ) immer wieder neu verdient werden (müssen)“, sondern auch, dass es notwendig ist, die enormen privaten und staatlichen Verschuldungen einzudämmen. „Chorsingen in Gefängnissen“ als Resozialisierungsmaßnahme wird von der Studentin Lia Bergmann, die in Berlin Musikwissenschaft studiert, erforscht und als eine Möglichkeit betrachtet, dass auch Gefangene Mensch sein können.
Im zweiten Themenkreis wird „Geld“ als Thema, Chance und Schicksal angesprochen. In dem Zusammenhang soll auf zwei Bücher hingewiesen werden, die indirekt die Problematik verdeutlichen und die Frage nach dem Sinn und der Bedeutung von Geld stellen (Jacques Le Goff, Geld im Mittelalter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13533.php sowie: Tilmann Moser. Geld, Gier & Betrug. Betrachtungen eines Psychoanalytikers, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13080.php). Die Lehrerin Angelika Fromm spricht über die „Fragwürdigkeit einer Bank“ und erzählt, wie sie durch die Geldpolitik ihrer Bank ihr Vermögen verloren hat, und als sie klagt, den Prozess verliert. „Manipulation“ wirft eine (anonyme) ehemalige Bankangestellte ihrer Bank vor. Sie berichtet über Bonizahlungen an die Bediensteten, wenn sie möglichst viele, oft fragwürdige und wertlose Finanzpapiere an die Bankkunden heranbringen konnten. Die Chefdramaturgin des Stadttheaters in Hildesheim, Astrid Reibstein, setzt sich im Interview mit „Wert und Wirkung des Theaters“ auseinander. In den Kürzungen von staatlichen finanziellen Zuschüssen zum Theaterbetrieb, wie sie allenthalben vorgenommen werden, sieht die Theaterfrau eine Gefahr für die kulturelle Vielfalt in der Gesellschaft. Den bitteren Weg in die Privatinsolvenz schildert ein (anonymer) Facharbeiter und vergleicht seine Situation mit Kafkas „Prozess“. Bei einem Aufenthalt in einem katholischen Kloster in der Nähe von Hildesheim hat er die Stille gefunden, um weiter leben zu können. Im Gespräch mit dem ehemaligen Gemeindepastor Martin Ulrich geht es um Ehrenamtlichenarbeit, um Kirche und Geld und die Mahnung, dass die Glaubensgemeinschaft(en) offene Türen haben, Räume der Geborgenheit anbieten und in Gottesdiensten Impulse für Achtsamieit geben. Der Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalpflege und Konservator Dr. Thomas Kellmann erzählt von der Rettung eines Kleinods, dem „Brunotteschen Hof“, ein einsturzgefährdeter Bauernhof in Wallenstedt und zeigt die Kontroverse auf, die sich im Dorf entwickelt hat. Die Stadtverbandsvorsitzende der CDU in Alfeld, Ute Bertram, sagt: „Unser Problem ist nicht die Einnahme-, sondern die Ausgabenseite“. Sie formuliert dabei überwiegend die Positionen ihrer Partei und plädiert z. B. dafür, die Gymnasien und nicht die Gesamtschulen zu stärken. Wie bereits erwähnt, hat der Hildesheimer Philosoph Bernhard Taureck das Projekt „Geld und Leben“ wohlwollend und fruchtbringend begleitet. Der ehemalige Schüler des Alfelder Gymnasiums, Raja-Léon Hamann, der in Leipzig studiert, reflektiert Texte, die Taureck dem Projektteam schickte: „Über die Macht des Geldes, die Lichter der Ethnologen und den Charakter des Geld-Besitzers“. Hamann erläutert sie in einem Gespräch mit Christa Maria Bauermeister.
Zum Themenkreis „Produktion“ äußert sich der Firmenleiter von AWA-Couvert, Michael Wegener, einer erfolgreichen Alfelder Firma, die Präzisionshüllen für die automatische Kuvertierung herstellt. Ein phantasievolles und effektives Management braucht mehr als nur eine professionelle Führung einer Firma; es braucht einen Ausgleich, den der Unternehmer bei einer Musikband findet: „Über Musik als Mitteilung – und Verantwortung, die nicht teilbar ist“. Vielen Menschen, die das mittlerweile als Weltkulturerbe der UNESCO anerkannte Fagus-Werk in Alfeld besuchen, kennen Irfan Dogan, den Hausmeister und manchmal auch Werksführer von Fagus-GreCon. Sein Engagement für die Firma drückt er so aus: „Viele haben Geld und Gold. Wir haben einen Diamanten. Und den müssen wir zur nächsten Generation weitergeben. Gropius ist einfach ein Traum“. Der Öffentlichkeitsarbeiter, Fotograf und Dokumentator bei Fagus, Karl Schünemann, bekennt: „Die Firma zum Beruf machen“. Er ist mehr als 50 Jahre im Betrieb tätig. Er singt ein hohes, engagiertes Lied auf „seine“ Firma. Die 90jährige Irmgart Wimmer, die in der Villa des Firmengründers der Fagus-Werke, Carl Benscheidt, als Haushaltshilfe gearbeitet hat, erzählt im Interview: „Als es noch Dienstmädchen gab und wie es ist, wenn Krieg ist“. Der heutige Firmenchef von Fagus-GreCon, Kai Greten bekennt in seinem Interview: „Denn mit der Verantwortung kommt die Freiheit“, und informiert über die Firmengeschichte und über Perspektiven für die Zukunft. Um Vergangenheit, Lebensentwürfe und -wirklichkeiten wieder lebendig werden zu lassen, können posthume Texte dienen, wie dies die SchülerInnen der Alfelder 11. Jahrgangsstufe, Christina Soyta, Guido Hartmann, Melissa Kaspari und Julia Kunzmann in einem Brief an Carl Benscheidt zeigen. Das Interview mit einem Beschäftigten in einem heutigen Konzern (anonym) thematisiert die „Arbeit im ‚Globalisierungsdruck‘“. Er schildert seine Erfahrungen über einen Zeitraum von zwanzig Jahren; sie erinnern an die Analysen, wie sie z. B. zu den Aspekten der Ehrlichkeit der Arbeit (Norbert Blüm, Ehrliche Arbeit. Ein Angriff auf den Finanzkapitalismusmus und seine Raffgier, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11382.php), zur Pathologie der Arbeit (Christoph Dejours, Hrsg., Klinische Studien zur Psychopathologie der Arbeit, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13188.php) und zur Prekarisierung (Rolf-Dieter Hepp, Hrsg., Prekarisierung und Flexibilisierung, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13527.php) diskutiert werden. Über die Rechte der Arbeitnehmer in Firmen spricht auch der Betriebsratsvorsitzende Bernd Kappei von der Firma Ammann Asphalt, einem Schweizer Konzern mit Niederlassungen in Alfeld, Italien, Frankreich und China. Weil das Schweizer Recht nicht dem deutschen entspricht, gibt es in seiner Firma keine Tarifbindung, und es bereitet der Alfelder Belegschaft Sorge, dass die unzulänglichen und unbefriedigenden Regelungen zur Leiharbeit Unruhe in den Betrieb bringen. Für Kappei ist es völlig unakzeptabel, dass durch Niedriglohn die Menschen ausgebeutet werden. Der ehemalige Lagerist Rainer Hartung wurde arbeitslos, weil die Firma schließen musste. Ehrenamtlich ist er Organist in einer Kirchengemeinde. Er reflektiert seine Lage als Arbeitsloser und findet in seiner ehrenamtlichen Tätigkeit Anerkennung und eine gewisse Zufriedenheit (siehe dazu auch: Lukas Neuhaus, Wie der Beruf das Denken formt. Berufliches Handeln und soziales Urteil in professionssoziologischer Perspektive, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12024.php). Das Interview mit dem Alfelder Gewerkschaftssekretär der IG-Metall, Henry Kirch, wird getitelt mit „Selbstlos für andere“. Er erzählt von seiner Arbeit und erklärt, „wie Kampf und Solidarität zusammenhängen“. Er setzt sich kritisch mit der vergangenen Arbeitspolitik der Sozialdemokraten genau so auseinander, wie mit der aktuellen. Sein Lebensweg vom Heimkind zum Knecht in der Landwirtschaft, bis hin zum studierten Arbeitnehmervertreter lässt ahnen, dass sein Lebensmotto „Solidarität“ heißt. Der Musiklehrer am Alfelder Gymnasium, Werner Nienhaus, bekennt: „Musik ist eine wunderbare Produktion“, und, etwa die jährlichen, öffentlichen Aufführungen, wie das Weihnachtskonzert, schaffen Befriedigung, Anerkennung und Selbstbewusstsein, bei Schülern und Lehrern.
Der vierte Themenkreis „Wasser“ als Lebensgrundlage wird eröffnet mit dem Gespräch, das Christa Bauermeister mit dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Gelsenkirchener „Gelsenwasser AG“, Helmut Zander, führt und als Motto die „Bewahrung des Wassers“ hat; denn Wasserwirtschaft und Wasserschutz gehören zusammen, wobei im Interview auch ein Bogen hin zur Bedeutung der Region Alfeld für die Wasserversorgung durch die Harzwasserwerke geschlagen wird. Von einer anderen Seite, der religiösen und ethischen, betrachtet die Alfelder Superintendentin Katharina Henking die Bedeutung von Wasser für das Leben der Menschen: „Bewusstsein trennt – Wasser verbindet“. Durch ihren Pfarrgarten fließt das kleine Alfelder Flüsschen, die „Warne“, beinahe ein Symbol dafür, dass es gilt, auf das Wasser in und um uns herum zu achten. Lebenswerten Lebensraum sichtbar und fühlbar zu machen, gilt als Motor dafür, das Motto „Global denken, lokal handeln“ erlebbar zu machen. Im Interview mit dem Alfelder Baudezernenten Mario Stellmacher und dem Mitglied der Bürgerinitiative „Ab in die Mitte“, Olaf Köhring, wird erzählt, wie es gelingen kann, einen Marktplatz in eine Oase zu verwandeln: „Über dem Pflaster ist der Sand“. Deutlich wird, dass eine „Oase“ kein Fluchtort sein darf, aber eine Besinnungs-, Auftank- und Motivationsgelegenheit sein kann.
Im fünften Themenkreis „Boden“ erzählt der Landwirt Fritz Heipke aus Freden bei Alfeld, der sich auf Rindfleischproduktion aus artgerechter Tierhaltung und den Anbau von Futtermitteln dafür spezialisiert hat. In der Billigproduktion sieht er die biologische, ökologische und landwirtschaftliche Vielfalt gefährdet (siehe dazu auch: Uli Burchardt, Ausgegeizt! Wertvoll ist besser – Das Manufactum-Prinzip, Campus-Verlag, Frankfurt/M., 2012, in Leinen gebunden, 285 S., 24,99 Euro, ISBN 978-3-593-39664-4). Martin Morisse wird im nächsten Interview als „Bauer und Rebell“ angekündigt. Er ist Gründungsmitglied des Bundes der Milchbauern und will das Bewusstsein zu den Menschen bringen, dass der Boden das wichtigste Kapital ist. Dabei mischt er sich als Vertreter des Verbandes der Milchbauern in Niedersachsen in die Politik ein und kämpft für eine neue, deutsche, europäische und weltweite Landwirtschaftsordnung (vgl. dazu auch: Wilfried Bommert, Bodenrausch. Die globale Jagd nach den Äckern der Welt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13381.php). Das Interview mit der (Alt-)Bäuerin Ursula Behre aus Wätzum/Algermissen erinnert mich an eine kürzliche Begegnung mit einem Tiroler Bauern, der beklagte, dass er keine Frau finde, weil die Arbeit auf dem Hof für die meisten zu anstrengend sei. Ursula Behre, die mit ihrem Mann den Hof vor einiger Zeit an ihren Sohn Kai übergeben hat, der den landwirtschaftlichen Betrieb zu einem Biohof umgebaut hat, engagiert sich weiterhin in der Landfrauenbewegung. In ihrem „Regenbogengarten“ schöpft sie Kraft und Mut, sich dafür einzusetzen, dass das Leben der Bäuerinnen sich sinnvoll und sachgerecht weiterentwickeln kann. „Ein Ort in der Welt jenseits ihrer Widersprüche“, so nennt die Priorin des Klosters Marienrode bei Hildesheim, Maria Elisabeth Bücker, ihren und ihrer Mitschwestern Lebensraum, der von Gott bestimmt ist, aber nicht außerhalb der Welt liegt. Die Interviewerinnen reflektieren die Begegnung, indem sie gemeinsam über den Sinn des Lebens nachdenken, und auch darüber, wie sich ihre eigenen Einstellungen und ihr Lernen in der Schule verändern müsste. Von China nach Hildesheim, und dort Stadtführerin – das ist ein ungewöhnlicher Weg. Zhejun Bunzel, in Hildesheim ist mit einem Protestanten verheiratet, auch ihre Kinder sind protestantisch; sie ist aber weiterhin Buddhistin, und es scheint ihr zu gelingen, beide Religionen und die verschiedenen Kulturauffassungen miteinander in Einklang zu bringen. Sie versteht sich als Vermittlerin zwischen den Völkern, die viel zu wenig voneinander wissen und entdecken könnten, dass es vielfältige Gemeinsamkeiten im Denken und Fühlen der Menschen gibt, etwa in der Lyrik, wie auch im Alltagsleben. Ganz sicher stellt das Interview mit dem ehemaligen Direktor des Gymnasiums Alfeld, Dr. Horst Berndt (der am 11. November 2011 starb) ein Vermächtnis dar. Er, der aus Zillertal-Erdmannsdorf im heutigen Polen stammt, bekennt: „Heimat hat man im Herzen – man kann sie nicht besitzen, wie man eine Sache besitzt“.
Im sechsten Themenkreis, den das Herausgeberteam mit „Ziel“ umschrieben haben, spricht die ehemalige Schülerin des Alfelder Gymnasiums, Angelika Fromm, darüber, in der katholischen Kirche „die Fenster weit zu öffnen“ Die in Mainz lebende Initiatorin der mittlerweile weltweiten katholischen Frauenordinations-Bewegung „Lila Stola“ und Mitglied der internationalen Vereinigung „Wir sind Kirche“ berichtet über ihr Anliegen, die Kirche zu erneuern und allen Gläubigen eine gleichberechtigte Stimme zu geben. Ingrid Wettberg von der Liberalen Jüdischen Gemeinde in Hannover spricht darüber, wie es gelingen kann, „zurück zu den Wurzeln einer liberalen Tradition“ zu finden. Sie erzählt von den Mühen und Erfolgen, eine liberale Gemeinde aufzubauen und ist voller Optimismus, dass der Zuspruch anhält. Ein jüdischer Bürger, der in Hildesheim lebt, erzählt (anonym) von seinen Erfahrungen mit Verfolgung und Vernichtung und beschreibt seine Lebenssituation so: „Ich habe keine Haut mehr!“. Professor Christian Pfeiffer beschreibt in dem erneuten Interview seine Arbeits- und Forschungsfelder und informiert über die zahlreichen Projekte aus den Bereichen der Zivilgesellschaft, wie etwa der Gründung von Bürgerstiftungen, von Initiativen gegen Demokratieverfall, für Zivilcourage, gegen Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, usw. Auch der Bürgermeister der Stadt Alfeld, Bernd Beushausen, stellt sich ein weiteres Mal einem Interview. Er wünscht sich mehr Bürgerbeteiligung und reflektiert über seine politische Arbeit, nennt die Probleme, zeigt Defizite auf und ist stolz auf die Erfolge. Denn: Ob eine Kleinstadt überlebt, hängt entscheidend von den Bürgern ab! Der ehemalige Schüler des Gymnasiums, Sören Rekel, wurde SPD- und Juso-Mitglied. Er denkt darüber nach, warum sich heute so wenig junge Menschen für die Mitarbeit in einer politischen Partei entscheiden können. „Ladensterben“ in einem Wohnort ist wie radikales Abholzen im Wald! Die Besitzerin der Alfelder Löwenapotheke, die jahrzehntelang im Alfelder Stadtzentrum vorhanden war, Birte Kasperzik, hat ihr Geschäft geschlossen, „weil wir zu wenig Kunden hatten, zu wenig Umsatz gemacht haben und weil sich die Apotheke so nicht mehr rentiert hat“.
Im siebten und letzten Themenkreis „Sinn“ werden zehn weitere Interviews und Gedanken formuliert, was „Geld und Leben“ miteinander zu tun haben. Der Architekt Bernhard Krätzig spricht über Wohn- und Lebensqualität und informiert über sein Projekt, das er „Glocalvisions“ nennt. Es ist der Versuch, die Notwendigkeiten des globalen Denkens mit den Möglichkeiten des lokalen Handelns in Einklang zu bringen, im Alltag wie in der Architektur und das Bruttosozialglück gegen den zerstörerischen ökonomischen Wachstumswahn auszutauschen (vgl. dazu auch: Petra Pinzler, Immer mehr ist nicht genug! Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13332.php). Christian Pfeiffer greift noch einmal in den Diskurs ein, indem er für „Bildung und Integration“ plädiert. Anstelle der pervertierten „Nürnberger-Trichter -Mentalität“ sollte es in der Schule den „Blickkontakts“ geben, der die Kreativität und Persönlichkeit der SchülerInnen fördert und ein anderes Bildungs- und Lebensdenken schafft. Die türkischstämmige Deutsch- und Englischlehrerin Hülya Aslan, die am Gymnasium in Springe unterrichtet, kann als ein gelungenes Beispiel für Integration angesehen werden. Sie erkennt, dass Integration nicht Anpassung oder Assimilation sein kann, sondern das Zusammenbringen von eigenständigen kulturellen Identitäten zu einem gemeinsamen Selbstständigen (vgl. dazu auch: Mehmet Gürcan Daimagüler, Kein schönes Land in dieser Zeit. Das Märchen von der gescheiterten Integration, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12723.php). Winfried Wegener (Eddy), der über Jahrzehnte als Sozialarbeiter in Alfeld das Jugendzentrum „Treff“ aufgebaut und geleitet hat und jetzt im (Un-)Ruhestand ist, erkennt eine Reihe von Defiziten, die den Zusammenhalt und das Gemeinschaftsverständnis in der Gesellschaft behindern, etwa eine Medien-(Handy-)dominierte Kommunikation; und vielfältige, präventive Herausforderungen für die Kinder- und Jugendarbeit. „Die Maske soll die Menschheit symbolisieren“, so kennzeichnet Max Remmert seine Auftritte als Jazzer und Gründer der politischen Indie-Rock-Band „sofatumblers“. Er, der Musik studiert, ist davon überzeugt, dass Musik ein Mittel sein kann, die Menschen gut und fair zu machen. Der Lehrer Hubertus Mascher leitet, zusammen mit einer Kollegin die Theater-AG des Alfelder Gymnasiums. Für ihn ist „Schultheater (ein) Abbild des Lebens“ – wenn genug Zeit, Muse und Engagement der Schule und der Schülerinnen und Schüler vorhanden ist; das sieht er jedoch in der Zweckhaftigkeit und beim Nutzendenken des schulischen Lernens gefährdet. Der Grundschulrektor der Alfelder Grundschule, Heiko Lanclée, sieht „Empathie, Struktur und Gelassenheit“ als die drei wichtigsten Grundlagen an, eine Schule zu leiten. Seine Überzeugung – „Es sind … keine materiellen Werte, sondern Menschen, die einander tragen“ ist sicherlich eine gute Voraussetzung für seine Arbeit. Der Lehrer und Kreisheimatpfleger Gerhard Kraus ist überzeugt, dass „be-greifen“ im wahrsten Sinne des Wortes Lernen bedeutet. Mit seiner „Buddel-AG“ in der Schule hat er dieses Gefühl seinen SchülerInnen vermittelt. Einen zweiten „Gedenkstein“ an den verstorbenen ehemaligen Schulleiter Horst Berndt setzt das Interview mit ihm: „Scholae heißt doch eigentlich Muße“, sagte er, als die Interviewer ihn fragten, was er von der heutigen Entwicklung der Schule, insbesondere des Gymnasiums, halte. Er kritisierte, dass „Bildung in der Schule nur unter dem Gesichtspunkt der Verwertbarkeit für die Wirtschaftsgesellschaft gesehen“ werde. Den Abschluss der dokumentierten Interviewtexte bildet ein (Reflexions-)Gespräch zwischen Christa Maria Bauermeister und Roman Kirk, der sich als Interviewer mehrfach in die Projektarbeit eingebracht hat und dem Herausgeberteam angehört. Die Autorin und der Autor nennen ihren Text „Nachgetragene Liebe“. Es sind Erinnerungen und Reflexionen über die Arbeit des Alfelder Lehrers Henning Bode, der am 17. November 2005 in Alfeld starb, und an den ehemaligen Schüler des Gymnasiums, dem Journalisten und Panorama-Redakteur Thomas Berndt, der am 14. Mai 2011 in Hamburg den Tod fand.
Fazit
Die äußerst sensibel verfasste, informative, anregende und aufregende Dokumentation der Projektarbeit der Alfelder Arbeitsgemeinschaft „Geld und Leben“ ist mehr als nur ein Nachvollzug einer ohne Zweifel aus dem Schulalltag herausragenden Lernarbeit. Die Fragen an die 55 Interviewten, die Vor- und Nachdenklichkeiten der Schülerinnen, Schüler und der Initiatorin des (leider von ihrer Schule bzw. vom Schulleiter „nicht wohl gelittenen“) Projektes zeigen, dass hier nicht eine Sache nach vorgegebenem Lehrplan „abgespult“ wurde, sondern gewachsen ist aus einem Bedürfnis, die Welt anders anzuschauen und zu erkennen lernen, als dies im Mainstream oder im Diktat vorgegeben ist. Die Dokumentation sollte vielen Lehrerinnen, Lehrern, Schülerinnen und Schülern Exempel sein, Lernprojekte wie diese anzugehen – trotz oder gerade wegen einer unbefriedigenden Schul- und Lernsituation.
Es ist zu hören, dass Christa Maria Bauermeister, sicherlich nicht zuletzt wegen der Widerstände, die sie bezüglich ihres Engagements bei der Projektkonzeption und -durchführung erleben musste, einen Antrag auf Versetzung an eine andere Schule gestellt hat. Die Schule, in der Christa Maria Bauermeister künftig unterrichten wird, kann sich glücklich schätzen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 31.07.2012 zu:
Christa Maria Bauermeister: Sehnsucht nach Wahrheit. Schüler befragen ihre Region und begreifen die Welt. Leinebergland Druck GmbH & Co. KG
(Alfeld (Leine)) 2012.
ISBN 978-3-9811183-4-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13662.php, Datum des Zugriffs 06.12.2023.
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