Romy Reimer: Der "Blinde Fleck" der Anerkennungstheorie
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 05.12.2012

Romy Reimer: Der "Blinde Fleck" der Anerkennungstheorie. Zur Diskussion eines problematischen Theorems der Moderne, seiner historischen Vorläufer und seiner aktuellen Lösungsmöglichkeiten. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2012. 220 Seiten. ISBN 978-3-89691-905-2. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Thema
Die erstaunliche Karriere, die für den Begriff der Anerkennung in den letzten dreißig Jahren zu konstatieren ist, wird häufig darauf zurückgeführt, dass die Präsenz von Differenz noch nie so umfassend erfahren wurde wie heute. Der sozialwissenschaftliche Diskurs vollziehe nur nach, was in den Kämpfen um die Anerkennung von marginalisierten Identitäten vielfältig zum Ausdruck komme. Tatsächlich ist dies nicht einmal die halbe Wahrheit, lenkt sie doch davon ab, dass unser Zeitalter nicht durch die Diversität, sondern durch die Homogenität eines Weltsystems gekennzeichnet ist, dessen kapitalistische Funktionsweise eine nie zuvor dagewesene soziale Ungleichheit hervorgebracht hat. In dieser Verschiebung von gesellschaftlicher Ungleichheit zu kultureller Differenz sieht Romy Reimer das ideologische Potenzial – den „Blinden Fleck“ – des Anerkennungsdiskurses.
Autorin
Romy Reimer ist Soziologin und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn tätig. Bei der hier zu besprechenden Monografie handelt es sich um ihre Dissertation.
Aufbau und Inhalt
Während in der antiken Philosophie, namentlich der des Aristoteles, Anerkennung auf das gemeinsame politische Handeln von Freunden und damit auf ein aktives Freiheitsverständnis bezogen ist, zeigt Reimer im ersten Teil des Buches, dass es sich bei bürgerlichen Philosophen der Neuzeit, z. B. Locke oder Smith, geradezu spiegelverkehrt verhält. Anerkennung wird auf die Anerkennung von Privateigentum verengt und so zu einem apolitischen und legitimatorischen Begriff. Eine Ausnahme stellt Hegel dar. Er bestimmt Anerkennung als Grundprinzip aller Sittlichkeitsverhältnisse und das Verlangen nach Anerkennung als Anfang von Emanzipation. Dass diese innerhalb der bürgerlichen Ordnung möglich ist, bestreitet Marx. Im Unterschied zu den subjektbezogenen und anthropologischen Begründungen von Anerkennung in der bürgerlichen Philosophie ist bei Marx der Begriff strikt systembezogen. Ideologiekritisch weist Marx nach, dass Anerkennung in der bürgerlichen Gesellschaft die Anerkennung der Besitzenden und damit der bestehenden Machtverhältnisse, aber die systematische Nicht-Anerkennung der Lohnabhängigen bedeutet.
Die zeitgenössischen Anerkennungstheorien allerdings übergehen die Marxsche Kritik und knüpfen an Hegel an, so die These im zweiten Teil des Buches. Die Autorin bezieht sich hier vor allem auf die Gesellschaftstheorie von Axel Honneth und die politische Theorie von Charles Taylor, am Rande auch auf die Demokratietheorie von Jürgen Habermas, in der der Begriff der Anerkennung aber keinen systematischen Stellenwert hat. Der „Blinde Fleck“ dieser Anerkennungstheorien besteht für Reimer darin, dass sie sich – im Falle Honneths – auf gelungene Individualisierungsprozesse und subjektive Autonomie konzentrieren und – im Falle Taylors – Anerkennung auf die Anerkennung von Subjektidentitäten reduzieren, ohne dabei die sozioökonomische Bedingtheit von Identitätsentwicklung und Selbstentfaltung angemessen zu berücksichtigen. Der „innere Mechanismus der kapitalistischen Ordnung“ (S. 169), der der Verbindung von Anerkennung und sozialer Gleichheit zuwider läuft, werde ausgeblendet.
Führt der Versuch, Gesellschaftstheorie als Anerkennungstheorie zu betreiben, zu einer Verflachung von Gesellschaftskritik, so zeigt Reimer im dritten Teil des Buches, wie der Begriff der Anerkennung zu formulieren wäre, damit er zu einem Element einer theoretisch fundierten Gesellschaftskritik wird. Dazu knüpft sie an die Arbeiten von Pierre Bourdieu, Paul Ricoeur und Hannah Arendt an. Insbesondere über den Begriff des Politischen von Arendt lässt sich ein Weg zurück zur verschütteten aristotelischen Tradition eines Zusammenhangs von Anerkennung und politischem Handeln bahnen. Genau in dieser Ausblendung verbindender Anerkennung im gemeinsamen politischen Handeln besteht ein zweiter „Blinder Fleck“ des zeitgenössischen Anerkennungsdiskurses: „Zu fragen ist nach dem Verbindenden, dem, was alle aufeinander bezieht und durch das alle aufeinander bezogen sind: die gemeinsame Welt, die als solche Gegenstand gemeinsamer Politik sein kann – woran sich die Vorstellung einer positiven Freiheit knüpft“ (S. 170).
Diskussion
Die Autorin betont einleitend, dass die Überlegungen ihrer Arbeit auf die Debatte zwischen Nancy Fraser und Axel Honneth im Jahr 2003 zurückgehen. Fraser kritisierte damals die eindimensionale Ausrichtung der Gesellschaftstheorie von Honneth, der gesellschaftliche Verhältnisse auf Anerkennungsverhältnisse reduziere. Im Gegenzug plädierte Fraser für einen zweidimensionalen Ansatz von Gesellschaftskritik, die neben Anerkennung auch die Dimension der Umverteilung berücksichtigt. Es hätte nahe gelegen, dass Reimer diese Debatte genauer rekonstruiert, um darüber auch die Argumentationen beider Positionen besser zu konturieren. Dies aber macht sie nicht. Stattdessen wird die Anerkennungstheorie von Honneth derart oberflächlich präsentiert, dass sie fast travestorische Züge annimmt. Entsprechend leicht fällt dann die Kritik, die ihrem Gegenstand äußerlich bleibt. Eine immanente Kritik hingegen, die die innere Widersprüchlichkeit einer Gesellschaftstheorie als Anerkennungstheorie aufzeigt, wäre schwieriger, vermutlich aber auch überzeugender gewesen.
Fazit
Die inflationäre Verwendung, die der Begriff der Anerkennung gerade in sozialen Berufen und ihren Theorien erfährt, verweist auf die Ersatzfunktion, die er hat. Wenn man sich schon mit der Alternativlosigkeit des kapitalistischen Weltsystems abgefunden hat, dann möchte man wenigstens im lebensweltlichen Bereich ein wertschätzendes Miteinander pflegen und die Diversität von Identitätsentwürfen achten. Die Armen in ihrer Leistung, in Armut zu leben, anzuerkennen anstatt etwas an den ungerechten gesellschaftlichen Verteilungsverhältnissen zu ändern, das ist das sozialdemokratische Methadonprogramm zum neoliberalen Härtediskurs. Die zeitgenössischen Anerkennungstheorien liefern dafür die Legitimation, indem sie mit den gegebenen Differenzen und Identitäten zugleich die Machtordnungen festschreiben, die sich in diesen manifestieren. Ihr „Blinder Fleck“ besteht schließlich darin, dass sie das System der politischen Ökonomie, das die auf Anerkennung beruhende Welt moralischer Beziehungen systematisch unterminiert, ausblenden. Dies herausgearbeitet zu haben, ist das Verdienst der Arbeit von Romy Reimer.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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