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Richard Klein (Hrsg.): Adorno-Handbuch

Rezensiert von Prof. Dr. Gregor Husi, 14.03.2013

Cover Richard Klein (Hrsg.): Adorno-Handbuch ISBN 978-3-476-02254-7

Richard Klein (Hrsg.): Adorno-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2011. 568 Seiten. ISBN 978-3-476-02254-7. D: 64,95 EUR, A: 66,80 EUR, CH: 100,00 sFr.

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Thema

Theodor Wiesengrund Adorno – Musiker, Komponist, Philosoph, Soziologe, öffentlicher Intellektueller, von den einen bewundert, von den anderen bekämpft, ein Denker, der polarisiert. Adorno wird 1903 in Frankfurt am Main geboren, der Vater jüdischer Weinhändler, die Mutter katholische ehemalige Sängerin. Katholisch getauft, wird Adorno 1935 durch die Nürnberger Gesetze zum Halbjuden gestempelt. Die Mutter besteht bei der Taufe darauf, dass ihr Nachname den väterlichen ergänzt, weshalb Adorno tatsächlich später Gebrauch von der Kombination «Wiesengrund-Adorno» macht. 1934 geht er nach der nationalsozialistischen Machtergreifung und dem Verlust seiner Privatdozentur als Promotionsstudent nach Oxford, kehrt aber bis 1937 regelmässig für Besuche nach Deutschland zurück. 1938 übersiedelt er nach New York, 1941 nach Los Angeles, seine Eltern emigrieren 1939 über Kuba in die USA. Hier schreibt er zwei seiner bekanntesten Werke: mit Max Horkheimer die «Dialektik der Aufklärung» sowie seine – bereits 1935 begonnene – Aphorismensammlung «Minima Moralia» und wird zum empirischen Sozialforscher, indem er zunächst beim aus Wien stammenden Paul Lazarsfeld in dessen Radio Research Project mitarbeitet und sodann in einem Projekt über Antisemitismus, aus dem später «The Authoritarian Personality» hervorgeht. Seit der Einbürgerung im kalifornischen Exil veröffentlicht er als Theodor W. Adorno. Erst 1949 soll er an den Main nach Frankfurt heimkehren, 1955 wird er wieder deutscher Staatsbürger. 1966 erscheint ein weiteres Hauptwerk, die «Negative Dialektik». Adorno beginnt seine Laufbahn indessen als Musikkritiker, bereits 1926 werden auch eigene Kompositionen aufgeführt, nachdem er ein Jahr zuvor bei Alban Berg Komposition studiert hat. Er verfasst bis zum Lebensende unzählige Schriften zur Musik, wirkt während Jahren an den berühmten Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik mit, sorgt daselbst für Kontroversen und entwirft das Projekt einer informellen Musik zur Weiterentwicklung freier Atonalität. Adorno stirbt 1969 während eines Sommerferienaufenthalts im Kanton Wallis in der südwestlichen Schweiz an einem Herzinfarkt. Das Handbuch gewährt biografische Einblicke, gibt einen umfassenden, transdisziplinären Überblick über sein Werk und untersucht, inwiefern sein Denken noch aktuell ist.

Herausgeber und Herausgeberin

Richard Klein ist Herausgeber von «Musik & Ästhetik».

Johann Kreuzer ist Professor für Geschichte der Philosophie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Leiter der dortigen Adorno-Forschungsstelle.

Stefan Müller-Doohm ist emeritierter Professor für Soziologie an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und Gründer der dortigen Adorno-Forschungsstelle.

Aufbau

Das Handbuch beginnt mit einem kurzen Vorwort der drei Herausgeber und einem siebenseitigen Werkverzeichnis. Dieses führt nicht nur die zwanzig Bände der Gesammelten Schriften, sechzehn Bände der Nachgelassenen Schriften und sieben Bände des Briefwechsels auf, sondern auch weitere einzelne Materialien, Gespräche und Adornos Kompositionen und CD-Einspielungen.

Es folgen sechs Kapitel, deren Gliederung bzw. Inhalte die Herausgeber im Vorwort gleich relativieren: vieles hätte auch an einem anderen Ort im Handbuch platziert werden können, da sich Adornos Denken ohnehin nicht eindeutig disziplinär verorten lässt.

Das Kapitel «Voraussetzungen, Wahlverwandtschaften» führt von Adornos erstem Mentor, Siegfried Kracauer, über Ernst Bloch und Georg Lukács zu Max Horkheimer.

Das Kapitel «Musik» enthält ein Dutzend Beiträge. Sie widmen sich Themen wie dem Fortschritt des Materials, der musikalischen Zeit, philosophischer Musikkritik, Interpretation und Reproduktion, Filmmusik, Musikpädagogik, der Beziehung von Musik und Sprache oder aber Adornos Verhältnis zu einzelnen Komponisten, namentlich Beethoven, Wagner, Mahler, Schönberg, Strawinsky und Ravel. In den einzelnen Texten werden zudem noch viele andere Komponisten von den Autorinnen und Autoren thematisiert.

Das Kapitel «Literatur und Sprache» betrachtet neben dem Zusammenhang von Lyrik und Sprache Adornos Sichtweise von Autoren wie Goethe, Hölderlin, Heine, Kafka, Beckett und Thomas Mann.

Im Kapitel «Gesellschaft» beziehen sich die neun Beiträge auf Methode, empirische Sozialforschung, Zeitdiagnose, Kulturindustrie, Radio Theory, Antisemitismus, das Ende des Individuums, Freud und Messianismus.

Mit dreizehn Artikeln bildet das Kapitel «Philosophie» das umfangreichste. Zunächst werden Adornos Bezüge zu Kant, Hegel, Kierkegaard, Marx, Nietzsche, Husserl, Heidegger und Benjamin dargestellt. Die weiteren Beiträge beziehen sich auf die Dialektik der Aufklärung, Metaphysikkritik, ästhetische Theorie und das Verhältnis von Essay und System.

Das letzte Kapitel verfolgt, welche Wirkung Adorno zuerst in Deutschland entfaltete, und dies als Intellektueller, politisch relevanter Philosoph und Theoretiker wie Praktiker der Ästhetik. Sodann werden seine Wirkungen in Grossbritannien, Italien, Spanien, den USA und Brasilien untersucht.

Am Ende folgt ein Anhang mit einer mehrseitigen Zeittafel, einer Übersicht über Adornos Vorlesungen und Seminare sowie einer 64-seitigen Bibliografie. Angaben zu den Autorinnen und Autoren sowie Sach- und Personenregister bilden den Schluss.

Inhalt

Adornos Diktum ist bekannt, wonach Philosophie «wesentlich nicht referierbar» sei. Weniger bekannt dürfte seine Einschätzung sein, die «Erleichterung, welche die Lexika bieten», sei «unschätzbar». Mit Blick auf diese – Adornos – Ambivalenz legen die Herausgeber in ihrem Vorwort das Ziel des Handbuchs dar. Es sei ein «Versuch, entlang der Unterscheidung von historischem und gegenwärtigem Gehalt ein möglichst vielseitiges und komplexes Bild des Gegenstands zu entwerfen. (…) Dokumentation und Bestandsaufnahme hie, Kritik und Neudeutung da sind die Axiome des Unternehmens, in dem es primär nicht um eine Auslegung heiliger Texte geht, sondern um die Konstruktion der Problemstellungen und Denkmöglichkeiten, die in diesen Texten enthalten oder zumindest angelegt sind» (S. VII). Zu beobachten ist denn auch, wie sich die Rezeption von Adornos Werk wandelt: «Die Gewichte haben sich nachhaltig verschoben: weg von einem innermarxistischen Streit um Theorie und Praxis (siebziger Jahre) über Kantische und rationalitätstheoretische Domestizierungsversuche, aber auch einzelne originelle Neuansätze (achtziger Jahre) hin zu einer sukzessiv anwachsenden hermeneutischen Pluralisierung, die Adorno immer wieder neu sehen und begreifen lässt (seit Anfang bis Mitte der neunziger Jahre). Dass der Kollaps von Lagermentalitäten ein gewisses Mass an entpolitisiertem Akademismus mit sich führt, trifft wohl zu, ändert aber nichts daran, dass die Freiheit gegenüber Adorno unterm Strich heute grösser sein dürfte als in den Jahren nach seinem Tod oder noch in der Zeit der ersten Symposien» (s. VIIf.).

Die Inhalte von Adornos Denken seien hier also auch nicht im Ansatz referiert. Das Handbuch scheut indessen nicht vor Kommentaren zur Persönlichkeit des Denkers zurück. Adorno hielt sich selber für «unväterlich», und viele erkannten an ihm Kindliches. Habermas schreibt über ihn in seinen «philosophisch-politischen Profilen»: «Gegenüber ‹Teddie› konnte man umstandslos die Rolle des ‹richtigen› Erwachsenen ausspielen; denn dessen realitätsgerechte Immunisierungs- und Anpassungsstrategien sich anzueignen ist Adorno nie im Stande gewesen» (S. 431). Adorno gratuliert seinem Freund Horkheimer zu dessen 70. Geburtstag mit den Worten: «Der Impuls, der uns zusammenbrachte, lehnt sich auf gegen das Erwachsenensein» (S. 432). Und über Alban Berg berichtet er, dieser sei «der unväterlichste (gewesen), den man sich erhoffen kann», und weiter: «Ihm gelang es, kein Erwachsener zu werden, ohne dass er infantil geblieben wäre» (S. 433). Im Deutschland der Nachkriegszeit trifft er auf eine Generation junger Intellektueller, die sich nach unverdächtiger Identifikation sehnt: «Adorno wurde nicht zuletzt zu ihrem Leitstern, weil seine Philosophie das Prinzip der ‹Unväterlichkeit› mit der Weigerung verband, erwachsen zu werden. Wie kein zweiter beharrte er darauf, den kindlichen, von keinerlei Realitätsanpassung entstellten Impuls auf schonungslose Wahrheit gegen den Konformismus der Erwachsenenwelt zu verteidigen» (S. 433). Leo Löwenthal schreibt er 1950 einmal, sein Seminar gleiche einer «Talmudschule». Dieses Bild widerspiegelt den tiefen Wunsch der damaligen jungen deutschen Intellektuellen, «unschuldig zu sein und den Schrecken ungeschehen zu machen, der aus ihrer Genealogie nicht zu tilgen war» (S. 434).

Adorno wächst wohlbehütet, in emotionaler und materieller Sicherheit auf. Die Rebellion der damaligen Jugendbewegung ist ihm fremd. Seine familiäre Position könnte narzisstische Züge gefördert haben, und damit zusammenhängend: «Auf der einen Seite seine innere Unruhe und Rastlosigkeit, seine enorme Produktivität, die unerschütterliche Selbstgewissheit in der Präsentation gänzlich unkonventioneller Gedankengänge, aber auch das starke Bedürfnis nach Bestätigung der eigenen Grossartigkeit, auf der anderen Seite die leichte Verletzbarkeit und die daraus resultierende Angstbereitschaft, das Gefühl der Einsamkeit und Melancholie sowie das periodische Leiden unter Depressionen» (S. 1).

Diskussion

Ein jedes Handbuch bleibt wohl unvollständig. Die Herausgeber räumen selber Auslassungen ein: «Proust, Valéry, der Erzähler im zeitgenössischen Roman, Franz Schubert, Richard Strauss, Alban Berg, Anton Webern, der Komponist Adorno, die Oper, der Jazz, die Popularmusik, das strukturelle und das regressive Hören, die materialistische Erkenntniskritik, die feministische Rezeption, der Körper und auch das Tier – ein Thema, dessen besonderes Gewicht Jacques Derrida in seiner Dankesrede zur Verleihung des Adornopreises 2001 herausgestellt hat» (S. VIII). Besonders schmerzen hier fehlende Beiträge über den Komponisten und Berg-Schüler sowie über Anschlüsse in der feministischen Philosophie und Soziologie – immerhin nahm Judith Butler 2012 in Frankfurt am Main den Adorno-Preis entgegen. Die Wirkungen, die Adornos Werk in Ländern wie Italien, Spanien oder Brasilien zu entfalten vermochte, überraschen. Interessant wäre aber auch ein Blick nach Frankreich gewesen. Ein Detail am Rande: Schade, wird bei dieser Gelegenheit nicht die «Negative Anthropologie» von Ulrich Sonnemann der Vergessenheit entrissen. Überhaupt bleibt der zeitgeschichtliche Hintergrund der 60er Jahre seltsam unterbelichtet.

Dennoch versammelt das vorliegende Handbuch einen so grossen Reichtum an Betrachtungen, dass man es kaum wieder aus der Hand legen möchte. Auf stilistische Manierismen, die Adorno selber und seine Adeptinnen und Adepten in der unmittelbaren Nachfolge zuweilen pflegten, wird verzichtet.

Fazit

Gewiss sind Vorkenntnisse von Adornos Werk unabdingbar für einen aufschlussreichen Gebrauch des Adorno-Handbuchs. «Das Potential des Adornoschen Denkens liegt in seinem ‹interdisziplinären› Charakter, d. h. in der Verschränkung von Kunst, respektive Musik, Philosophie und Wissenschaft, im kritischen Übergang dieser Sphären ineinander, nicht in ihnen allein und für sich», schreiben die Herausgeber im Vorwort richtigerweise (S. VII). Es ist ihnen trotz der selber eingestandenen Auslassungen ausgezeichnet gelungen, dieses Potential zu entfalten. Wer sich als Leser oder Leserin bislang in der einen oder anderen Domäne – Musik, Literatur, Philosophie, Gesellschaftstheorie – mehr als in der anderen zuhause fühlt, wird bei der Handbuchlektüre lustvoll Grenzen überschreiten können. Wie es sich für Adornos «Denken in Konstellationen» und wie es sich für ein Handbuch gehört, sind die Beiträge ebenso anspruchsvoll wie kompakt. Fast schon ergibt sich aus der Ordnung der Texte ihrerseits eine «Konstellation» und aus deren Lektüre ein Stück richtiges Leben im falschen.

Rezension von
Prof. Dr. Gregor Husi
Professor an der Hochschule Luzern (Schweiz). Ko-Autor von „Der Geist des Demokratismus – Modernisierung als Verwirklichung von Freiheit, Gleichheit und Sicherheit“. Aktuelle Publikation (zusammen mit Simone Villiger): „Sozialarbeit, Sozialpädagogik, Soziokulturelle Animation“ (http://interact.hslu.ch)
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Es gibt 41 Rezensionen von Gregor Husi.

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Zitiervorschlag
Gregor Husi. Rezension vom 14.03.2013 zu: Richard Klein (Hrsg.): Adorno-Handbuch. Leben - Werk - Wirkung. J. B. Metzler’sche Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH (Stuttgart, Weimar) 2011. ISBN 978-3-476-02254-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13705.php, Datum des Zugriffs 31.05.2023.


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