Maxi Berger, Tobias Reichardt et al. (Hrsg.): „Der Geist geistloser Zustände“
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.10.2012
Maxi Berger, Tobias Reichardt, Michael Städtler (Hrsg.): „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie. Verlag Westfälisches Dampfboot (Münster) 2012. 200 Seiten. ISBN 978-3-89691-892-5. D: 24,90 EUR, A: 25,60 EUR.
Religionskritik ist Kirchenkritik ist Glaubenskritik ist Ideologiekritik ist Gesellschaftskritik
Von der Rückkehr des Religiösen wird allenthalben gesprochen, aber auch gekontert, dass es der Rückkehr gar nicht bedürfe, weil Religion nie weg gewesen sei. Nun, die Frage, ob es Gott gibt, oder ob dies eine Erfindung der Menschen sei, wird in der alltäglichen wie philosophischen Auseinandersetzung gestellt, seit es wohl Menschen gibt. Der anthrôpos, der Mensch, so stellt Aristoteles fest, ist ein vernunft- und sprachbegabtes Lebewesen, weil nur der Mensch „Anteil am unvergänglichen und göttlichen Geist“ habe (Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 47). Die (monotheistischen) Religionsgemeinschaften haben immer versucht, den Gottes- und damit den Religionsanspruch, als ihre eigene, unabdingbare und nicht in Frage stellende Wahrheit zu postulieren. Es hat immer schon Denker gegeben, die gegen solche „Unumstößlichkeiten“ angegangen sind. Dem „Credo ergo sum“ – Ich glaube, also bin ich“ – wird das „Ego cogito, ergo sum“ – „Ich denke, also bin ich“ – eines René Descartes entgegen gesetzt. Der bekannte Psychologe, Psychoanalytiker und Atheist C. G. Jung hat dies mit seinem „Ich glaube nicht, ich weiß“ ausgedrückt. Die Kritik an der Gottgläubigkeit ist immer auch eine Kritik an den weltlichen Agenten dieser Ideologie, den Religionsgemeinschaften. Systemimmanent, als Kritik der ideologischen und institutionellen Verfasstheit der organisierten Gottgläubigen, wird nicht grundsätzlich die Existenz eines Gottes oder von Göttern in Frage gestellt, wie etwa, wenn der Schriftsteller Hugo Ernst Käufer schreibt: „Er trat aus der Kirche aus und wurde Christ“; oder wenn die Schriftstellerin Gertrud von Le Fort formuliert: „Es sind nicht die Gottlosen, es sind die Frommen seiner Zeit gewesen, die Christus ans Kreuz schlugen“. Oder auch, wenn in der Schahāda, dem Glaubensbekenntnis des Islams, apodiktisch festgestellt wird: Es gibt keinen Gott außer Gott. Es wird noch viel komplizierter und verworrener, wenn wir die neueren Erkenntnisse aus der Gehirnforschung betrachten; etwa, wenn es um das Ich, um die eigene Persönlichkeit geht, die von Spiegelneuronen im Gehirn gesteuert werden und ein „Selbstmodell“ bilden, das signalisiert: „Ich nehme die Welt aus der Mitte meines Körpers wahr“. Was hat da ein Gott zu suchen? (vgl. dazu auch: Richard Dawkins, Der Gotteswahn, 7. Aufl., Berlin 2007, 575 S.). Rede und Gegenrede, Gedachtes und Verdächtigungen bestimmen die Auseinandersetzungen um Glauben und Unglauben. Sie reichen vom Persönlichen bis in das Gesellschaftliche hinein (Paul Nolte, Religion und Bürgergesellschaft. Brauchen wir einen religionsfreundlichen Staat?, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8677.php), und die Differenzierungen, die zwischen „Religion“ und „Weltanschauung“ vorgenommen werden, unterliegen genau dem Diktum: Glauben oder Nichtglauben (siehe dazu auch: Gerhard Szczesny, Die Zukunft des Unglaubens, München 1958, 220 S.).
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
„Was politisch in einer Gesellschaft geschieht, muss grundsätzlich an den prinzipiellen Formen und Gesetzen dieser Gesellschaft reflektiert werden“. Wer wollte behaupten, dass religiöse Überzeugungen nicht politisch wären; und zwar nicht nur in dem aristotelischen Sinne, dass jeder Mensch ein „zôon politikon“, ein politisches Lebewesen sei, sondern auch in den gesellschaftlichen Verfasstheiten, vom laizistischen bis zum fundamentalistischen Denken. Die wissenschaftliche Nachschau, was religiöses Bewusstsein ist, wie es entsteht, sich äußert, eint oder spaltet, ist ohne Zweifel allein mit dem moralischen Impetus und schon gar mit Polemik nicht zu machen. Es bedarf also einer Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Wirklichkeiten, z. B. „durch direkte Einordnung religiöser Vorstellungen und ihrer politischen Kraft in gesellschaftliche Zusammenhänge“, wie auch die Reflexion des „religionskritischen Denkens im Rahmen historischer Bedingung“, wie auch durch „Kritik unzureichender Religionskritik in der (erkenntnistheoretischen und geistesgeschichtlichen, JS) Theorie“; und nicht zuletzt „durch die Überprüfung der Motivation von politischen Phänomenen, die gemeinhin für religiös motiviert gehalten werden“.
Der Sammelband stellt die Ergebnisse einer vom Gesellschaftswissenschaftlichen Institut Hannover (GI), einem vereinsrechtlichen, interdisziplinären Zusammenschluss von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, und der Marxistischen Abendschule Hamburg- Forum für Politik und Kultur e.V (Masch)., vom 7. – 8. Mai 2010 in Hannover durchgeführten Konferenz über „Religionskritik und Gesellschaftstheorie“ vor. Das Herausgeberteam – Maxi Berger, M.A. und Michael Städtler gehören dem Vorstand von GI an, der Hamburger Tobias Reichardt ist hauptberuflich in der Erwachsenenbildung tätig – legt den Tagungsband vor, der in Zusammenarbeit mit der Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen e. V. publiziert wird.
Aufbau und Inhalt
Der Tagungsband wird in drei Kapitel gegliedert. Im ersten Teil werden Beiträge „zur gesellschaftlichen Funktion von Religion“ gebracht; im zweiten Kapitel geht es um „theoriegeschichtliche Aspekte von Religionskritik“; im dritten Teil werden Aspekte „zur politischen Funktion von Religion“ diskutiert.
Der Hannöversche Sozialwissenschaftler Heiko Vollmann nimmt den Marxschen Ausspruch – „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes“ – um über „Religionskritik als Kritik gesellschaftlicher Entfremdung“ nachzudenken und den Bogen von der philosophischen Religionskritik hin zur Ideologiekritik zu spannen. Es sind die neoliberalen, kapitalistischen und egoistischen Zustände, die die „Kritik der politischen Ökonomie“ herausfordern und dem Autor formulieren lassen: „Die einmalige Einheit des religiösen Bewusstseins ist… unwiederbringlich verloren. Objektiv kann sie angesichts naturwissenschaftlicher Aufklärung, philosophischer Gotteswiderlegung und marxistischer Philosophiekritik in ihrer traditionellen Gestalt keinen Anspruch auf Wahrheit mehr erheben“.
Der Wiener Romancier und Publizist Robert Menasse bringt ein Essay zu „Landnahme und Erlösung. Die Kapitalismusreligion“, mit dem er mit dem „entfesselten, Land nehmenden, ein Land nach dem anderen nehmenden globalen Kapitalismus“ abrechnet und dabei Goethes Faust und die leibhaftige, real existierende Religion betrachtet und feststellt, dass „die von der Religion verwaltete gottgewollte Welt und … die menschengemachte Welt… identisch“ sind. Das nennt er „Kapitalismusreligion“.
Im zweiten Kapitel referiert Tobias Reichardt über „Religionskritik in der Antike“. Die Vorsokratiker, Xenophanes und andere Denker etwa kritisierten, dass die Menschen die Götter nach ihrem eigenen Bild gestalten würden, oder die für sie unbegreiflichen Naturphänomene als Götterwerk interpretierten; und die in den folgenden Jahrtausenden perfektionierten Praktiken, dass die Eliten die religiösen Bedürfnisse der ungebildeten Massen für ihre Herrscher- und Machtinteressen missbrauchen, verdeutlichen sich in Platons Staatslehre, indem er die drei Arten des (Untertanen-)Frevels aufzählt. Erstens die Behauptung, es gäbe keine Götter, zum Zweiten, es gäbe zwar Götter, aber diese würden sich nicht um die Menschen kümmern, und dritten, die Götter seien durch Opfergaben zu manipulieren.
Der Hannöversche Philosoph Günter Mensching fragt: Welcher Geist beendet die geistlosen Zustände?“, indem er über die theologische Kritik des Diesseits im Mittelalter reflektiert und den Bogen schlägt hin zur Kritik der politischen Ökonomie. Atheistisches Denken, so der Autor, fehlte völlig im Mittelalter, nicht jedoch oppositionelle Bewegungen gegen die Interpretationsmacht der christlichen Kirche, was die Vorstellung erlaube, „dass der Geist, der die geistlosen Zustände beendet, … ( ) aus der Menschheit (stammt)“.
Der wissenschaftliche Mitarbeiter der Kant-Forschungsstelle in Trier, Dieter Hüning, setzt sich mit „Hegels Kritik der Aufklärungsphilosophie in der Phänomenologie des Geistes“ auseinander. Der Autor geht dabei einen differenzierten und selektiven Weg, indem er Hegels Antikritik der aufklärerischen Religionskritik betrachtet und herausarbeitet, dass die Hegelsche Sichtweise, Religion und Aufklärung „zwar der Form nach verschieden, dem Inhalt nach aber identisch“ seien., was bedeutet, dass Hegel Religion nicht kritisiert, sondern sie philosophisch würdigt, um „Sinnstiftung und Versöhnung… zu gewährleisten“.
Der Münsteraner Michael Stadtler referiert über „Religion und Staat. Und Gesellschaft“ und stellt fest, dass deren Verhältnis ein vernachlässigtes Element in der neuzeitlichen Staatsdebatte darstellt. In der dezidierten Punkt-Absetzung der Überschrift wird schon deutlich, dass im ersteren Zwiegespann die historischen theoretischen Ver- und Entbindungen in vielfältiger Weise differenzieren und, etwa von Habermas, anders als von Hegel bewertet und von den Frühsozialisten unterschiedlich aufgenommen werden, als Gesellschaftstheorien jedoch nur unzulänglich wirksam wurden.
Der Philosoph und Historiker von der Universität Tel-Aviv, Moshe Zuckermann stellt fest: „Religionskritik nach wie vor“. Bei den verschiedenen Ausprägungen, wie sich Religions-, Glaubens- und Ideologiekritik äußert, vermisst der Autor vielfach Radikalität bei der „Erörterung von Wesen, Funktion und Wirkung des Religiösen in außerreligiösem Zusammenhang mit dem Ziel der Entkräftigung religiöser Wirkmächtigkeit bzw. ihrer totalen Abschaffung“. Mit dem Marxschen Hinweis, dass das religiöse gleichbedeutend mit dem real gesellschaftlichen Elend sei, zitiert er auch Heinrich Heine als bedeutenden Stichwortgeber für Marx und sein „Eiapopeia vom Himmel“.
Die Mitbegründerin der Forschungsstelle kritische Naturphilosophie an der Carl -von Ossietzky Universität Oldenburg, Christine Zunke, reflektiert über „Meaning Of Life“. Sie untersucht zwei Formen von geistlosen Zuständen: Darwin im Sinne einer positivistischen Biologie und den vulgärchristlich inspirierten Kreationismus. Während zum einen mit Darwins Theorie der Mensch zum Affen gemacht und ihm dadurch für sein endliches, erdenhaftes Leben Hoffnung gegeben wurde, entwickelt sich zum anderen die krampfhafte (biologische) Hoffnung der Kreationisten, dass mit der Theorie des Intelligent Design (ID) die Schöpferschaft Gottes beweisbar sei. Die Autorin mahnt die Biologie an, sich auf ihre Kraft als Wissenschaft des Lebendigen zu besinnen.
Im dritten Kapitel informiert Leo Šešerko aus Ljubljana über „Religion und die jugoslawischen Nachfolgekriege. Er widerspricht der gängigen Deutung von der Wiederbelebung der Religionen als Ursache für die Balkankriege in den neunziger Jahren. Mit seiner Analyse greift der Autor in den Diskurs um „Glaubens“-, „Religions“ – , „Gerechte“ – und „Heilige“ Kriege ein( vgl. dazu auch: Kurt Gritsch, Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der „Kosovo-Krieg“ 1999, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/13691.php ).
Der Münsteraner Promotionsstipendiat Maik Puzić stellt „die Rolle der Religion im Jugoslawienkrieg (1991 – 1995) am Beispiel von Bosnien-Herzegowina“ dar und bedauert „die verspielte Chance der Etablierung eines sich zu Europa bekennenden Islam“. Er weist darauf hin, dass die virulent etablierten Freund-Feindbild-Stereotypen, wie sie sich in Westeuropa gegenüber den Islam aufgebaut haben, nicht den historischen und aktuellen Wirklichkeiten in der Region Bosnien-Herzegowina entsprechen. Mit dem eindeutigen Bekenntnis zu Europa „gehört der bosnische Islam schon allein aufgrund seiner geographischen und soziohistorischen Verortung zum europäischen Kulturkreis, hier hat er seine Wurzeln und auch hier ist er gewachsen“.
Moshe Zuckermann nimmt erneut Bezug auf die Rolle des Judentums und die Bedeutung, die Juden dem Staat Israel zumessen. Es sind die unterschiedlichen, orthodoxen wie säkularen Positionen, die „die Auserwählten (als) Volk ohne Grenzen“ zeigt und das Verhältnis zwischen jüdischer Religion und Zionismus bestimmt (und belastet).und die Religion zu einem unabdingbaren Faktor bei der Gestaltung einer „solidarischen Einheit“ macht und es erschwert (oder gar unmöglich macht), „auch in anderen Kategorien (zu) denken – Kategorien einer Identität, die aus realen, gemeinsam erfahrenen sozialen und kulturellen Lebenspraktiken erwachsen“.
Der palästinensische Journalist Khalil Toama, Mitglied der Deutsch-Palästinensischen Gesellschaft und der Gruppe Palästina-Forum-Nahost, stellt die Frage: „Ist der Islam die Lösung?“. Er will damit deutlich machen, dass mit der als Ausrufezeichen und nicht mit einem Fragezeichen versehenen Kampfparole ein „undetailliertes und undefinierbares Programm gemeint“ ist, weil es d e n Islam nicht gibt und auch „eine islamische Gesellschaft oder ein islamisches Land nicht existiert“. Ob es im Nahen Osten zu einer Entwicklung kommt, die ein Staats- und Regierungsmodell denkbar werden lässt, das „islamistisch, liberal, demokratisch, offen und die Streitkräfte als Garant für die Verfassung und die Demokratie“ bietet, ist bisher ungewiss.
Der in Kabul geborene Hamburger Sozialpädagoge Dehqan Zehma führt mit seinem Beitrag „Religionskritik im persischsprachigen Raum“ eine Auseinandersetzung mit dem 1931 in Teheran geborenen Aramech Dustdar, der in Bonn Philosophie, Psychologie und vergleichende Religionswissenschaften studierte im Exil in Deutschland lebt und dessen Schriften im Iran verboten sind und als Raubkopien kursieren („Die Unmöglichkeit des Denkens in der religiösen Kultur“, Paris 2004). Auch wenn der Autor in Dustdars Reflexionen über die Strukturen der herrschenden Kultur im Iran weitgehend die Darstellung der real existierenden sozialen Bedingungen außer Acht lässt, bleibt sein Verdienst, „zu einer Enttabuisierung der Kritik von Religion und Nationalhelden in der iranischen Gesellschaft“ beigetragen zu haben.
Fazit
Der Sammelband greift ein bis heute vernachlässigtes (tabuisiertes?) Thema innerhalb der Religionskritik und Gesellschaftstheorie auf, nämlich die Aufmerksamkeit innerhalb der Religions- und Gesellschaftskritik darauf zu lenken, „dass diese Reflexion keine bloße Beschreibung ihres Gegenstandes intendiert, sondern die Aufdeckung der ihn bestimmenden Zweckkonstellationen“ erforderlich macht. Mit den Beiträgen wollen die Autorinnen und Autoren auf den Zusammenhang von Religion, Politik und gesellschaftlichen Lebensbedingungen hinweisen und dazu beitragen, Aufklärung zu befördern.
Um den „Geist geistloser Zustände“ aufzudecken, sind historische, philosophische, theoretische und politische Reflexionen erforderlich, die von den Autorinnen und Autoren in ihrer idealisierten und zweckbestimmten Bedeutung dargestellt werden.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.10.2012 zu:
Maxi Berger, Tobias Reichardt, Michael Städtler (Hrsg.): „Der Geist geistloser Zustände“. Religionskritik und Gesellschaftstheorie. Verlag Westfälisches Dampfboot
(Münster) 2012.
ISBN 978-3-89691-892-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13711.php, Datum des Zugriffs 14.01.2025.
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