Michael Gehler: Europa. Ideen - Institutionen - Vereinigung
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 02.08.2012
Michael Gehler: Europa. Ideen - Institutionen - Vereinigung. Olzog Verlag (München) 2010. 750 Seiten. ISBN 978-3-7892-8195-2. 39,90 EUR.
„Wie Gott Janus hat Europa zwei Gesichter“,
so formulierte es der damalige Präsident des Europa-Parlaments zur Eröffnung der internationalen Konferenz „Weltkultur und Europa – ein Dialog der Zivilisationen“, die vom Europäischen Parlament in Straßburg vom 21. – 22. November 1991durchgeführt wurde (vgl.: UNESCO-Kurier 7/8-1992, „Universalität – eine europäische Vision?, S. 6). Und der französische Historiker Fernand Braudel (1902 – 1985) verglich Europa in seinem Werden und seiner Geschichte mit Hölle und Paradies zugleich. In dem vom Europäischen Konvent verfassten – und bis heute nicht ratifizierten – Entwurf eines „Vertrags über eine Verfassung für Europa“ (2003), heißt es in der Präambel u.a., dass der „Kontinent Europa ein Träger der Zivilisation ist und dass seine Bewohner, die ihn seit den Anfängen der Menschheit in immer neuen Schüben besiedelt haben, im Laufe der Jahrhunderte die Werte entwickelt haben, die den Humanismus begründen: Gleichheit der Menschen, Freiheit, Geltung der Vernunft“. Die Geschichte Europas verbindet sich mit Grauen und Aufklärung (Manfred Geier, Aufklärung. Das europäische Projekt, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13289.php), zwischen Entwicklung und Verwicklungen, zwischen Kriegen und Revolutionen, Kolonialherrschaft und Befriedung, Totalitarismus und Freiheit. Und Europa ist eingebunden in die Geschichte der Menschheit zwischen „der Unendlichkeit des Vergangenen und den schwindelerregenden Möglichkeiten der Zukunft“ (UNESCO-Kurier 12/1983).
Entstehungshintergrund und Autor
Von der universitären „Europa-Schmiede“, dem Jean Monnet-Lehrstuhl für vergleichende europäische Zeitgeschichte und die Geschichte der europäischen Integration an der Stiftung Universität Hildesheim, gibt es bereits mehrere Wegweiser darüber, wie das historische Entstehen und das aktuelle Werden Europas im intellektuellen Prozess der kulturellen und politischen Entwicklung des Kontinents betrachtet und gehandhabt werden kann (Michael Gehler, Silvio Vietta, Hrsg., Europa – Europäisierung – Europäistik. Neue wissenschaftliche Ansätze, Methoden und Inhalte, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/9268.php; Michael Gehler, Deutschland. Von der Teilung zur Einigung. 1945 bis heute, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/13169.php; Michael Gehler, Maddalena Guiotto, Hrsg., Italien, Österreich und die Bundesrepublik Deutschland in Europa, www.socialnet.de/rezensionen/12803.php; Michael Gehler, Hrsg., Die Macht der Städte. Von der Antike bis zur Gegenwart, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/10743.php). Der Hildesheimer Institutsleiter, gleichzeitig Senior Fellow am Zentrum für Europäische Integrationsforschung der Universität Bonn und Mitglied der Historischen Kommission der Österreichischen Akademie der Wissenschaft in Wien, Michael Gehler, zeigt in dem umfangreichen Buch „die historischen Hintergründe und größeren Zusammenhänge zwischen den über Jahrhunderte entwickelten Europa-Ideen und den nach 1945 geschaffenen Institutionen Europas auf“. Nach der Erstauflage des Buches, 2005, folgte 2010 die erweiterte und ergänzte Neuauflage, die der rapiden politischen und kulturellen Entwicklung in Europa und in der (Einen?) Welt Rechnung trägt. Grundlegend dabei bleibt die These, „dass die Entwicklung und Propagierung von Ideen sowie ihre Umsetzung, also die daraus folgenden Institutionenbildungen nicht nur entscheidend für die wirtschaftliche Integration, sondern letztlich auch für die politische Vereinigung des Kontinents waren, zumal die Ideen von Anfang an so motivierend gewesen sind“. Der Autor folgt dabei dem Bewusstsein von der „longue durée“ (Braudel) der Geschichte.
Aufbau und Inhalt
Das Buch, das am besten nicht „an einem Stück“ zu lesen ist, sondern gewissermaßen die einzelnen, epochalen Entwicklungen in Europa aufzeigt, stellt somit auch ein Nachschlagewerk dar, das für Studium und wissenschaftliches Arbeiten, wie für das alltägliche politische Handeln Informationen und Leitlinien bereit hält. Der Autor gliedert das Buch in vier Kapitel: Im ersten Teil werden „Ursprünge und Charakteristika“ dargestellt. Es wird der Frage nach der (mythologischen und historischen) Entstehung des Begriffs „Europa“ von der Antike an nachgegangen, es werden die kulturellen Einflüsse „von außen“ auf Europa thematisiert, die Bedeutung des Christentums in diesem Prozess der Europäisierung diskutiert, personelle Herrschergestalten thematisiert, Hegemoniestrebungen, Kriege, Reichsbildungen und Machtkonstellationen aufgezeigt, die Wirkungen und Mächtigkeiten von Architektur, Kunst, Musik und Literatur herausgearbeitet und die Entdeckungs- und Bildungsgeschichten erzählt.
Im zweiten Kapitel begibt sich der Autor auf die Suche nach „historische(n) Europa-Ideen im Spannungsfeld von Vision und Wirklichkeit“, beginnend mit dem zeitgenössischem Denken und (Macht-)Handeln im Mittelalter, den christlichen Ansprüchen, wie sie mit den Kreuzzügen zum Ausdruck kamen, mit den monarchischen und ständischen Bündnissen Tatsachen schufen, im 17. Jahrhundert mit den Versuchen eines Art europäischen Völkerbundes scheiterten, mit der Leibnizschen Formel von der „Einheit in der Vielfalt“, die an die von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 neu aufgenommene Vorstellung von der „kreativen Vielfalt“ erinnert, dem Machiavellismus der Fürsten, der Kantischen Maxime, den Auswirkungen der Französischen Revolution und des Wiener Kongresses, dem Prozess der Industrialisierung, bis hin zu den Leninschen Visionen von den „Vereinigten Staaten von Europa“ unter kommunistischer Herrschaft, dem Gegenmodell des Völkerbundes und paneuropäischen Ideen und Konzepten. In diese Auflistung gehört selbstverständlich auch die Phase, die sich in den widerstreitenden Ideologien zwischen Nationalismus und Kommunismus verdeutlichen und im Zweiten Weltkrieg und in der Shoa den unmenschlichen Höhepunkt in der europäischen Geschichte fanden. Die Suche nach d e r europäischen Idee findet in Jean Omer Marie Gabriel Monnet (1888 – 1979) eine große Leitfigur für die Institutionalisierung und Zusammenschlüsse in den Europäischen Gemeinschaften.
Im dritten, umfangreichsten Kapitel beschreibt Gehler den „Weg vom Europa der Institutionen zur Vereinigung des Kontinents“, von den politischen und ideologischen Auseinandersetzungen, wie sie sich im Ost-West-Konflikt darstellten und, wie der Autor formuliert, so etwas wie ein „Integrationsmotor“ für den Einigungsprozess wirkten, dem Marshall-Plan, den Römischen Verträgen, dem Europäischen Währungssystem, den Direktwahlen zum Europäischen Parlament, den Nord-, Süd- und Osterweiterungen der Europäischen Union, dem Fall der Mauer mit der Auflösung des Ost-West-Konflikts, der Vereinigung Deutschlands, aber auch der Katastrophe am Balkan (vgl. dazu: Kurt Gritsch, Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der „Kosovo-Krieg“ 1999, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/13691.php), sowie der Spagat, der sich aus dem (bisher gescheiterten) Bemühungen des Europäischen Konvents um eine Europäische Verfassung ergibt, bis hin zu den aktuellen Finanz- und Weltwirtschaftskrisen als Bewährungsprobe für den Euro. Inwieweit die Beschlüsse, die sich aus dem Inkrafttreten des Unionsvertrags von Lissabon vom 1. 12. 2009 ergeben, den europäischen Einigungsprozess voranbringen können, etwa auch dadurch, dass die Kompetenzen des Europäischen Parlaments gestärkt wurden, wird die Zukunft zeigen. Dazwischen sind die Probleme zu lösen, die sich aus der Schuldenkrise ergeben, die sich als „Krise des Eurosystems“ darstellt.
Nicht ohne geopolitische Bedeutung ist, wie sich das politische Europa im Konzert der Weltmächte etabliert, das transatlantische Verhältnis Europa – USA regelt und die euro-asiatischen Verbindungen in der globalisierten (Einen?) Welt verlaufen. Vorhersagen dazu sind unmöglich, doch die Hoffnungen bleiben, dass sich aus der Entwicklung einer „europäischen Identität“ ein Bewusstsein bildet, dass, wie es in der Präambel der von den Vereinten Nationen am 10. 12. 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt, „die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet“.
Fazit
Mit dem „Versuch einer Synthese“ beschließt Michael Gehler sein Konvolut, indem er mit dem „Triumph einer Trias: Ideen – Institutionen – Vereinigung“ deutlich macht, dass der europäische Integrationsprozess darauf beruht, „dass die Kombination aus bewusster Entwicklung und der gezielten Propagierung von Ideen mit ihrer gewollten Verwirklichung und konkreten Umsetzung durch dauerhaft gebildete Institutionen erst zur Einigung des Kontinents führen konnte“. Zwar ist dieser Einigungsprozess noch nicht zufriedenstellend vollzogen, und es bedarf erhöhter politischer und gesellschaftlicher Anstrengungen, um die Einigung Europas zu vollenden; aber die Visionen sind mit der Agenda „Europa 2020“ vorhanden, mit der, mit der lokalen, regionalen, europäischen und globalen Blickrichtung, Zukunftsstrategien formuliert werden, die sich in der Erhöhung der Beschäftigungsquoten für die europäische, erwerbstätige Bevölkerung zeigt, in den Anstrengungen zum Klimaschutz artikuliert, das Bildungsniveau steigert, die Forschungsbemühungen voranbringt und die Armutsbekämpfung forciert. Für die praktische Arbeit hilfreich ist auch das Glossarium, in dem die europäischen Institutionen erläutert und die Begrifflichkeiten zum europäischen Integrationsprozess definiert werden, ebenso wie eine „Chronologie der Geschichte des Europas der Institutionen“ ein wichtiges Serviceangebot darstellt und eine Liste der Webadressen zu den Themen „Europa“ und „europäische Integration“ Forschung, Lehre und Information bereichert.
Das Buch von Michael Gehler „Europa“ gehört in jede schulische, universitäre und öffentliche Bibliothek und sollte auf den Schreibtischen von (nicht nur Europa-)Politikern liegen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 02.08.2012 zu:
Michael Gehler: Europa. Ideen - Institutionen - Vereinigung. Olzog Verlag
(München) 2010.
ISBN 978-3-7892-8195-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13724.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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