Hilarion G. Petzold (Hrsg.): Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie
Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 25.09.2012

Hilarion G. Petzold (Hrsg.): Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie.
Springer VS
(Wiesbaden) 2012.
613 Seiten.
ISBN 978-3-531-17693-2.
59,95 EUR.
Reihe: Integrative Modelle in Psychotherapie, Supervision und Beratung.
Thema
Identität gehört zu den wichtigsten sozialwissenschaftlichen Konzepten zum Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das Thema wird zunächst in seinen psychologischen, soziologischen, philosophischen und gendertheoretischen Dimensionen behandelt, um daran anschließend seine therapeutische Relevanz in verschiedenen Therapieschulen zu beleuchten.
Herausgeber und Autoren
Prof. Hilarion Petzold, Leiter des Fritz-Perls-Institutes und der Europäischen Akademie für psychosoziale Gesundheit, ist Emeritus für Psychologie und klinische Bewegungstherapie der FU Amsterdam.
Das Autorenverzeichnis umfasst weitere zwanzig namhafte Verfasser, die dem Anliegen des Werkes entsprechend aus verschiedenen Disziplinen und Fachrichtungen kommen.
Aufbau
Nach einem umfangreichen Vorwort von Petzold finden sich zwei große Abschnitte mit je 9 bzw. 8 Beiträgen:
- I Interdisziplinäre Perspektiven und
- II Identität in der Sicht der psychotherapeutischen Richtungen – Theorie und Praxis, sowie
- das Verzeichnis der Autorinnen und Autoren.
Literaturverzeichnisse finden sich jeweils am Ende der Beiträge.
Vorwort
Petzold skizziert in seinem Vorwort die Behandlung des Identitätsthemas und die seiner Ansicht nach notwendige Neuorientierung. In den Sozialwissenschaften ist Identität eines der breitest untersuchten Konstrukte, und dennoch – so ist es in dem von Petzold zitierten Handbook of Identity Theory and Research (Schwartz 2011) zu lesen – bleiben fundamentale Fragen offen: Was ist Identität, ist sie persönlich oder sozial konstruiert, auf das Individuum oder das Kollektiv gerichtet … Dass die klinische Sicht in dem erwähnten (angloamerikanischen) Handbuch eher schwach vertreten ist, entspricht – so Petzold – der Behandlung des Themas in der europäischen Psychotherapietheorie. Diese Lücke zu schließen ist Anliegen des vorliegenden Bandes.
Es sind nicht nur die dissoziativen Identitätsstörungen in der Folge schwerer Traumaerlebnisse, die das Thema Identität zu einer (neuen?) Herausforderung werden lassen, sondern auch und besonders die An- und Überforderungen im Kontext der Globalisierung, die Identität verunsichern und Reorientierungen erfordern. Die interdisziplinäre Sicht dieses Bandes soll deutlich machen, dass die Behandlung dieses Themas aus der Sicht einer einzelnen Schule unzureichend ist und durch andere Perspektiven ergänzt werden muss.
I Interdisziplinäre Perspektiven
Personale Identität und personale Identitäten – Ein Problemfeld der Philosophie (Tim Henning, Dr. phil., Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Philosophie)
Henning unterscheidet drei verschiedene Begriffe von Identität: qualitative Identität, numerische Identität, und personales Selbstverständnis, und diskutiert in seinem Beitrag ausführlich die beiden letzteren Facetten. Numerische Identität ist sowohl diachron ( bin ich mit der Person identisch, die ich vor zehn, zwanzig oder dreißig Jahren war, und mit der, die ich in Zukunft sein werde?) als auch synchron (können mehrere Personen zum gleichen Zeitpunkt im gleichen Körper vorhanden sein?) zu denken und eröffnet weitreichende Einsichten in unsere Vorstellungen über die Natur von Personen als auch in – mit diesen verbundene – Wertvorstellungen.
Für die Psychotherapie und Psychiatrie ist die Frage nach der synchronen Identität von besonderer Bedeutung. Dabei – so Henning – ist zu beachten, dass ein Akteur zu verschiedenen Zeiten radikal verschiedene Eigenschaften (und Gedächtnisinhalte) aufweisen kann und dennoch ein und derselbe Akteur sein: eine Person mit verschiedenen Persönlichkeiten. Allerdings: der Unterschied zwischen "Personen in einem Körper" und "verschiedene Persönlichkeiten in derselben Person" ist (bislang?) nicht definierbar. Vor diesem Hintergrund zu schließen, dass dissoziative Störungen mit einer Vielzahl von Persönlichkeiten, nicht von Personen zu tun hätten, erscheint mir doch voluntaristisch und nicht recht begründbar.
Identität als personales Selbstverständnis meint das System der zentralen Werte und Überzeugungen einer Person, einschließlich ihrer Selbstbewertung (practical identity; Korsgaard 1996, S. 101, praktische Identität nach Henning, S 29). Praktische Identität wird von den internen Wünschen einer Person, von denjenigen, zu denen sie positiv Stellung nimmt, gebildet; diese sind kohärent, d.h. fügen sich gut "in das System des Charakters" ein – und sie sind Teil langfristiger diachroner Strukturen. Eine weitere wichtige Dimension der Identität ist ihre soziale Natur, für ihre Ausbildung bedarf es der Interaktion und Anerkennung durch andere. Dies führt auch hin zur politischen Dimension der Identität und zur Forderung, die Bedingungen für die Ausbildung solcher Identität, d.h. auch kulturelle Besonderheiten zu erhalten.
Identität – ethnologische Perspektiven (Martin Sökefeld, Prof. Dr. phil., Lehrstuhl für Ethnologie, LMU München)
Identität, ein populäres und – auch deswegen – schwieriges Konzept ist auch in der Ethologie zentral geworden. Sökefeld benennt Besonderheiten in der ethologischen Diskussion: die Unterscheidung des kollektiven vom individuellen Aspekt der Identität, die Debatte um Ethnizität oder ethische Identität und Identität nicht nur als Analysekonzept, sondern auch als Begriff der untersuchenden Akteure. Des Weiteren betrachtet er in seinem Beitrag die analytische Verschiebung von Identität zu Differenz und die Verknüpfung von Identität, Anerkennung und Macht. Illustriert werden diese Zusammenhänge am Beispiel der Identitätspolitik in Pakistan.
Eine im strengen Sinne individuelle Identität ohne Bezug auf den gesellschaftlichen und kulturellen Kontext, in dem sie entstand, ist in ethologischer Sicht nicht denkbar. Die Grundidee der (stark von der Psychoanalyse geprägten) US-amerikanischen Kultur- und Persönlichkeitsforschung (z.B. Margaret Mead), dass bestimmte kulturelle Verhältnisse bestimmte Formen von Persönlichkeit hervorbringen, geriet nach den 1940er Jahren in massive Kritik; kulturdeterministische Konzeptionen und die Vorstellung homogener, klar abgegrenzter kultureller Einheiten wurde zugunsten einer Auffassung von Kultur als Produkt einer gesellschaftlichen Praxis aufgegeben. So wurde die Frage nach der Entstehung und Veränderlichkeit ethnischer Identitäten zentral. Hier standen sich Primordialisten (mit ihrer Annahme, dass ethnische Identität auf unmittelbarer, ursprünglicher Zugehörigkeit beruht) und Konstruktivisten (Identitäten als Artefakte sozialer und diskursiver Praxis und daher auch Gegenstand von Auseinandersetzungen um Macht und Dominanz) gegenüber. Heute – so Söker – ist die konstruktivistische Überzeugung von der Wirkmächtigkeit sozialer Diskurse die dominante Perspektive.
Die Idee von Gleichheit in der Konzeptualisierung kollektiver Identität wurde durch die Vorstellung einer Vielzahl differenter Subjektpositionen mit den Aspekten Differenz, Pluralität und Überschneidung ersetzt:
- Differenz ist wichtiger als Gleichheit, denn der Unterschied zu anderen ist Voraussetzung für die Behauptung von Gleichheit;
- Identität existiert nur, weil es andere Identitäten gibt, die Menschen zu unterschiedlichen Kollektiven vereinen, und es gibt verschiedene Arten von Differenzen und damit gleichzeitige Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Kollektiven, z.B. durch Geschlecht, Religion usw.
- verschiedene Identitäten eines Menschen stehen zueinander in Beziehung und können Konflikt, Inkonsistenzen usw. auslösen.
Kindheit, Jugend und Gesellschaft. Identität in Zeiten des schnellen sozialen Umbruchs – soziologische Perspektiven (Klaus Hurrelmann, Professor of Public Health and Education, Hertie School of Governance, Berlin)
Die Abgrenzung zwischen den Lebensphasen Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter gab es bis zum 15. Jahrhundert nicht, sie entstand mit der uns heute geläufigen Form der Familie als Erziehungsinstanz mit der Aufgabe, die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder und Jugendlichen zu fördern und den Eintritt in die Gesellschaft vorzubereiten. Allerdings haben sich mit dem sozialen Wandel die Lebensphasen von Kindern und Jugendlichen stark verändert, in vielen Bereichen sind sie den gleichen Anforderungen und Belastungen ausgesetzt wie Erwachsene – ähnlich wie im Mittelalter, jedoch unter erheblich veränderten sozialen, kulturellen, ökonomischen und ökologischen Bedingungen, und – so Hurrelmann – sie reagieren mit erwachsenenähnlichen psychischen Störungen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Hurrelmann geht in seinem Beitrag der Frage nach, welche sozialen Kompetenzen notwendig sind, um diese Veränderungen zu bewältigen, und welche Rolle dabei die Herstellung einer Identität spielt.
In ihren Shell-Jugendstudien haben Hurrelmann u.a. die Reaktion auf diese Situation untersucht und eine Typologie von Wertorientierungen und Selbstwahrnehmung aufgestellt:
- Eine „Leistungselite“ aufstiegsorientierter selbstbewusster Macher mit etwa gleich großen Anteilen von Männern und Frauen.
- Bei den „pragmatische Idealisten“ mit humanistisch
geprägten Motiven für soziales Engagement sind die Frauen in der
Überzahl.
Neben diesen selbstbewussten und erfolgreichen Gruppen finden sich
- eine Gruppe resignativer, skeptischer und unauffälliger Jugendlicher ohne großen Erfolg in Schule und Ausbildung, sowie
- eine Gruppe „robuster Materialisten“, in der die jungen Männer überwiegen. Sie streben nach Macht und Lebensstandard, sehen aber, dass ihre leistungsmäßigen und sozialen Kompetenzen dafür nicht ausreichen. Es entwickeln sich Verlierer- und Versagerängste, Dispositionen für Aggression und Gewalt, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus.
Je mehr Kompetenzen zur Bewältigung psychischer und sozialer (Entwicklungs)Aufgaben eine Person besitzt, je sicherer sie in Beziehungsstrukturen und Rollenzusammenhänge eingebunden ist, um so besser sind die Voraussetzungen für die Entwicklung einer gesicherten Identität und damit für selbständige und autonome Handlungsfähigkeit.
Identität und Individualisierung: Riskante Chancen zwischen Selbstsorge und Zonen der Verwundbarkeit – sozialpsychologische Perspektiven (Heiner Keupp, Department Psychologie, Arbeitsgruppe Reflexive Sozialpsychologie, LMU München)
Der Beitrag beginnt spannend: Die „soziale Amnesie“ (Jacoby, 1978), die Unterrepräsentation der kultur- und gesellschaftskritischen Seite, der Psychotherapie scheint nach und nach durch zunehmende Problemsensibilität von Psychotherapeuten ersetzt zu werden. Die Herausforderung aber bleibt: Die Aufnahme der Folgen gesellschaftlicher Veränderungen für Identitätsbildung in den fachlichen Diskurs der psychotherapeutischen Schulen. Keupp will mit seinem Beitrag zu dieser theoretischen Bearbeitung beitragen.
Zunächst vollzieht er die Dekonstruktion klassischer Identitätsvorstellungen anhand des Konzepts von Erikson, das einem Ordnungsmodell regelhaft-linearer Entwicklungsverläufe folgt, nach. Gesellschaftliche Prozesse wie Individualisierung, Pluralisierung und Globalisierung brechen mit diesen Vorstellungen von der Möglichkeit einer stabilen und gesicherten Identität, mit Vorstellungen von Einheit, Kontinuität, Kohärenz oder Entwicklungslogik. Insbesondere die Individualisierung erscheint als Voraussetzung spätmoderner Identitätsarbeit. Individualisierung akzentuiert Selbstkontrolle, Selbstverantwortung und Selbststeuerung, aber eben nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Verpflichtung dazu: Autonomie wird nicht nur zugestanden, sondern sie wird den Individuen abverlangt. Für ihre Gesundheit, für Fitness und für die Passung (und ihr Scheitern) in die Anforderungen der Gesellschaft sind sie selbst zuständig. In der Sozialpolitik stellt sich das als Verschiebung von einem kollektiven zu einem individuellen Risikomanagement dar.
Für Identitätsarbeit bedeutet die Verantwortlichkeit für die Passung in die Gesellschaft eine hohe Eigenleistung, Erfahrungsfragmente müssen in einen sinnhaften Zusammenhang gestellt werden. Für das Resultat solcher Arbeit hat Keupp (1988) die Metapher der Patchwork-Identität geprägt. Als notwendige Ressourcen für eine erfolgreiche Identitätsarbeit nennt und erläutert er nun (ohne Vollständigkeitsanspruch) Urvertrauen zum Leben, Dialektik von Bezogenheit und Autonomie, Entwicklung von Lebenskohärenz, Schöpfung sozialer Ressourcen durch Netzwerkbildung, materielles Kapital als Bedingung für Beziehungskapital, demokratische Alltagskultur und Selbstwirksamkeitserfahrung durch Engagement.
Um auf die soziale Amnesie der Psychotherapie zurück zu kommen: Offen bleibt – in dieser sozialpsychologischen Perspektive notwendigerweise – wie sich diese Identitätsarbeit in psychotherapeutischen Kontexten zeigt und wie auf Störungen und Verwerfungen psychotherapeutisch reagiert werden kann, was nicht einfach der individuellen Verwertungsarbeit von Therapeuten und Klienten überlassen bleiben sollte, sondern eine – m.E. hochwichtige – Aufgabe psychotherapeutischer Theoriebildung ist. Einiges Werkzeug dafür ist hier ausgelegt.
Der Beitrag von Rolf Schwendter (Professor für Subkultur-Forschung, Universität Kassel): Beschädigte Identität – aus der Sicht politischer Kulturarbeit kommt wortgewandt und mit bildreicher Sprache. Für den Verfasser ist soziale Kulturarbeit eine der Beschädigung der Identität entgegenwirkende Tendenz, die in einer durch Warenförmigkeit, Hierarchien, Konkurrenz, Zwang zum Erwerb des Lebensunterhalts und eine sich weiter öffnende Schere zwischen Armut und Reichtum kennzeichneten Gesellschaft allerdings stark beeinträchtigt ist. Als konstitutiven sozialen Mechanismus der Identitätsbildung benennt er die Gruppennormativität, die logischerweise zugleich einen Anfang für Schädigungen bietet. Auf der psychischen Ebene nähert sich der Identität und ihren Schädigungen – so Schwendter – am ehesten Freuds Begriff des psychischen Apparates mit dem Konstrukt des Ich und mit den Abwehrmechanismen – letztere zugleich (was es kompliziert macht) beteiligt an der Konstitution von Identität (vor ihrer Schädigung?) Schwendter benennt weitere Mechanismen zur Konstitution von (un)beschädigter Identität, wobei deutlich wird, dass die Vorstellung unbeschädigter Identität „beinahe denkunmöglich“ ist und zugleich ein hohes realutopisches Potential besitzt.
Geschlecht und Identität. Implikationen für Beratung und Psychotherapie – gendertheoretische Perspektiven (Claudia Höfner, Mag. Dr., Donau Universität Krems; Brigitte Schigl, Dr., Donau Universität Krems)
Die Autorinnen skizzieren zunächst die wichtigsten Positionen zu Geschlecht und Identität in Frauenforschung, Männerforschung und Queer Studies und übertragen diese anschließend als Perspektiven und Analysefragen auf den therapeutischen Prozess. Drei Traditionslinien der Sozialisationsforschung werden identifiziert: Sozialisation als hauptsächlich biologisch determiniert, sozialdeterministische, strukturfunktionalistische, prägungs- sowie lerntheoretische Ansätze und systemtheoretisch-ökologisch Perspektiven. Aktuell – so die Autorinnen – wird Geschlecht als Ergebnis der Auseinandersetzung mit Umwelt, Macht, sozialen Zuschreibungen und Normen, historisch-kulturellen Codierungen oder symbolisch-diskursiver Ordnung betrachtet. Identität wird zunehmend beliebiger und dabei brüchiger. Was die Bedeutung dieser Überlegungen für die psychotherapeutische Praxis betrifft, so bleibt vieles noch ungeklärt. Die Autorinnen plädieren für die Perspektive des „Doing gender“ und fordern die Reflexion der weiblichen und männlichen Identitätsentwicklung in der Selbsterfahrung der psychotherapeutischen Schulen.
Identität – eine psychiatrische Sicht (Jann E. Schlimme, Dr. med., Dr. phil., Privatdozent für Psychiatrie und Psychotherapie an der Medizinischen Hochschule Hannover)
Aus psychiatrischer Sicht stellt sich (so der Autor) die Frage nach der Identität in (mindestens) viererlei Hinsicht: die Identität
- des Faches Psychiatrie,
- der psychiatrischen Erkrankungen,
- des psychiatrisch und psychotherapeutisch tätigen Arztes,
- Identität des Patienten.
Dass – und in welcher Weise – neben der zentralen Identität des Patienten – die anderen Bereiche für die psychiatrische Identitätsarbeit bedeutend sind, erläutert Schlimme im ersten Teil seines Beitrages. Wesentliches Anliegen ist ihm jedoch die Identität des Patienten, die er als Übereinstimmung von „Träger“ der Identität (d.i. die präreflexive Vorstruktur, der „Leib“) und der durch Lebensgeschichte erarbeiteten personalen Identität bestimmt. Es lässt sich vermuten, dass bei psychischen Störungen Änderungen der Identität als Veränderungen des „Trägers“ verstanden werden können, durch die bestimmte Aspekte dieses Trägers ausgeblendet, vermieden oder verkannt werden (Beispiel: wahnhafte Identitätsverkennungen).
Schlimme benennt fünf Merkmale personaler Identität: eine leibliche , eine habituelle, eine weltliche, eine intersubjektive und eine selbstbezügliche Qualität. Ziel therapeutischer Bemühungen ist, dass der Betroffene seine Identitätsarbeit wieder selbständig auf seine Art und Weise leisten kann.
„Das Ganze ist das Unwahre“ (Th. Adorno). Theologische Anmerkungen zu Identitätsthematik (Michael Klessmann, emeritierter Professor am Lehrstuhl für Praktische Theologie der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel)
Klessmann ordnet das Wort von „Identitätsarbeit“ in die spätmoderne Tendenz ein, alles als Gegenstand menschlicher Arbeit zu betrachten, und diese Machbarkeit bedeutet auch, dass es weitgehend an den Subjekten liegt, ob sie das Ziel einer kohärenten und stabilen Identität erreichen. Religiöse Traditionselemente werden mit Blick auf deren Bedeutung für die eigene Identität betrachtet und ausgewählt oder verworfen. Wenn der christliche Glaube darauf beharrt, dass der letzte Grund des Lebens nicht im Individuum liegt, sondern ihm von außen entgegengebracht und geschenkt wird, dann bleibt auch Identität trotz aller notwendigen Identitätsarbeit „immer auch Geschenk und Widerfahrnis“. Der Begriff Gottes als transzendente Quelle des Lebens impliziert auch eine Kenntnis der Identität, die so niemandem sonst zukommt. Eine religiöse Perspektive konterkariert damit auch eine auf Leistung, Machbarkeit und Arbeit bezogene Identitätsvorstellung.
Kontroverse Identitäten – Disparate Identitäten. Einige kulturtheoretische Anmerkungen zu Integrationsproblemen von Muslimen (Hans Waldemar Schuch, Dr., Vis.Professor an der Donau-Universität Krems)
Am Beispiel der Integrationsprobleme in der Folge muslimischer Zuwanderung behandelt Schuch die Schwierigkeiten der Integration qualitativ unterschiedlicher Identitäten. Er betrachtet Identität aus erlebnistheoretisch-phänomenologischer Sicht, in der Identität zunächst eine Form leiblicher Wahrnehmung mit einem Gefühl innerer Stimmigkeit. Sie entsteht im sozialen Netzwerk und ist – so Schuch – ein „polylogisch generiertes Kulturprodukt“. Die mit religiöser Identität verbundene Evidenz ist unmittelbar an den Lebenswert geknüpft und deshalb radikal, ihre Kränkungen werden radikal beantwortet. Nach einigen Anmerkungen über die Auswirkungen des Kapitalismus auf die westliche Kultur, auf Lebensstile und Denkweisen folgen – vom Verfasser angesichts der Heterogenität des Islam im Geltungsbereich eingeschränkte – Ausführungen zum Islam und zur islamischen Identität.
Die kulturgebundenen Erwartungen unserer Gesellschaft fordern eingewanderte Muslime letzten Endes dazu auf, wesentliche Gehalte ihrer Religion aufzugeben und ein relativierendes, kritisches Verhältnis zu ihrer Religion einzunehmen, was dem unbedingten Geltungsanspruch des Koran widerspricht. Ein integrativer Kulturdialog ist für Schuch nicht in Sicht. Chancen zu einer Verständigung setzen die Anerkennung von Differenz und vor allem guten Willen, Toleranz und Ambiguitätstoleranz voraus.
II Identität in der Sicht der psychotherapeutischen Richtungen – Theorie und Praxis
Das Konzept Identität in der Verhaltenstherapie – Theorie und Praxis (Gerhard Zarbrock, Dr., Psychologischer Pychotherapeut/Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Institut für Verhaltenstherapie-Ausbildung, Hamburg)
In seinem Entwurf eines verhaltenstherapeutischen Identitätskonzeptes sieht Zarbrock Identität als relativ zeitstabile Invarianz, die der Person im Selbsterleben zugänglich ist, verbalisiert werden kann und zusätzlich Identifizierungen der eigenen Person mit einem Dritten beinhaltet. Gestützt wird sie durch fünf Pfeiler, die im Beitrag näher erläutert werden: Selbstpräsenz-Erfahrung, metakognitive Selbstkontrolle, Selbsterzeugung von Realität, Identifikation mit Bewusstseinsinhalten und Selbsteinbindung in die Realität.
Psychisches Leid ist Identitätsbeschädigung, im Falle von z.B. Depressionen oder Zwängen durch Verlust von Selbstkontrolle. Persönlichkeitsstörungen werden im Gegensatz dazu als ich-synton erlebt, das Leid entsteht meist sekundär durch Krisen, Konflikte u.a. Durch Psychotherapie „soll die identitätsverstörende Tatsache einer psychischen Symptomatik wieder in eine schlüssig zu erzählende Identitätsgeschichte eingegliedert werden“ (S. 238), am besten gelingt das, wenn Veränderung als logische Konsequenz der bisherigen Identität erscheint.
Zum Schluss seines Beitrages geht Zarbrock auf Veränderungen im Selbstverständnis der Verhaltenstherapie und der Verhaltenstherapeuten ein, deren Identität zwischen kreativer Innovation und wissenschaftlicher Überprüfung angesiedelt ist.
Das Konzept der Identität in Theorie und Praxis der Individualpsychologie Alfred Adlers (Michael Titze, Dr.rer.soc., Psychologischer Psychotherapeut; Rolf Kühn, Dr., Dozent Universität Wien)
Adlers Identitätsbegriff meint die Gewissheit, durch alle Lebensabschnitte ich selbst zu sein. Adler hat in diesem Zusammenhang verschiedene Bezeichnungen verwendet, von denen der des Lebensstils zentral wurde. Er enthält zwei Bezugssysteme, das gesellschaftliche und das private, die zusammen die personale und soziale Identität bilden. Ist diese Synthese nicht harmonisch und ausgeglichen, kann es zu konfliktspezifischen Äußerungen eines „unausgeglichenen Lebensstils kommen. Das Streben nach Selbstverwirklichung kann nicht mit den Forderungen der sozialen Umwelt in Einklang gebracht werden. Daher ist die Analyse des Lebensstils Voraussetzung für alle therapeutischen Maßnahmen, durch die die Konflikthaftigkeit der Beziehung dieser Orientierungssysteme aufgelöst werden soll.
Ich weiß nicht, was ich bin, ich bin nicht, was ich weiß … Identität in Theorie und Praxis der Analytischen Psychologie C. G. Jungs (Lutz Müller, Dr., Psychotherapeut für Analytische Psychotherapeut)
Bei genauer Betrachtung – so Müller – stellt sich Identitätserleben als diffuser und widersprüchlicher heraus als gedacht. Die Stabilität der Identität scheint darin zu liegen, „dass man sich als überaus fließend, komplex und unbekannt erlebt“ (S. 277). Nach Jung sind es die angeborenen Archetypen, die die Basis unseres Welt- und Selbsterlebens bilden, allerdings ist der Mensch – nicht nur der Klient – im Prozess der Identitätsfindung auf einen Interaktionspartner angewiesen, der ihn dabei unterstützt, ein stimmiges Selbstkonzept zu entwickeln. Nach Auffassung der Analytischen Psychologie ist eine „seelische Störung“ oft Ausdruck einer Entfernung von den archetypischen Wurzeln und damit vom Verlust gesunder Selbstregulation. Therapieziel ist es dann, durch einen besseren Zugang zu unbewussten Vorgängen starre Vorstellungen über sich selbst und die Welt aufzulockern.
Das Selbst – über den Individualismus hinaus. Einige Befunde der Säuglingsforschung – neuere psychoanalytische Perspektiven (Michael B. Buchholz, Dr.; apl. Prof. am Fachbereich Sozialwissenschaften, Universität Göttingen)
Die überwiegend triebtheoretisch fundierte Psychoanalyse von Freud tat sich mit der Frage nach der Beziehung des Einen zum Anderen schwer; obwohl von Objektbeziehungen gesprochen wird, kann es in ihrer theoretischen Konstruktion nur Beziehungen zu Objektrepräsentanzen geben, und die Frage, wie diese ausgebildet werden könnten, blieb unbeantwortbar. Für das Thema dieses Buches heißt dann die Frage, wie kann dort, wo ES war, Ich werden.
Buchholz geht den verschiedenen Lösungsmöglichkeiten differenziert nach und geht dabei besonders auf Erik Eriksons Identitätsbegriff ein, in welchem durch die Aufnahme sozialer Momente der individualistische Bezugsrahmen verlassen wird. Dieser Ansatz wird von der Theorie der Selbst-Entwicklung von Daniel Stern, die Buchholz ausführlich darlegt, weitergeführt. An die These, dass das individuelle Selbst in seiner Kohärenz von der Präsenz anderer abhängt, findet die Psychoanalyse damit Anschluss; das theoretische Bezugssystem verschiebt sich von der individuellen „Tiefe“ zur interpersonellen Bezogenheit.
Das Identitätsthema in Theorie und Praxis der Gestalttherapie (Almut Ladisich-Raine, Dipl.Psych., Psychologische Psychotherapeutin; Georg Pernter, Mag. theol.)
Hier handelt es sich eigentlich um zwei verschiedene Beiträge zum Identitätsverständnis der Gestalttherapie: Ladisich-Raine schreibt über „Gelungene Identität ist eine gute Gestalt – vorläufig“, Pernter über „In der praktischen Welt den eigenen Stil finden. Eine wachrüttelnde Aufgabe“.
Für die Frage nach „Identität“ sind – so Almut Ladisich-Raine – zwei von der Berliner Schule der Gestaltpsychologie aufgestellte sog. Gestaltgesetze wichtig: das der Prägnanz und das der Geschlossenheit von Gestalten. Identitätsentwicklung strukturiert sich durch Figur und Hintergrund, Identität ist um so erkennbarer, je prägnanter sich ein Mensch vom jeweiligen Feld abgrenzt. Identität als gute Gestalt ist immer etwas Vorläufiges und kann nicht (nur) durch die Aufzählung von Eigenschaften, Verhaltensweisen usw. bestimmt werden. „Die Arbeit des Selbst schafft temporäre Identitäten“ (S. 335) in der Polarität zwischen dem eigenen Feld und der Andersartigkeit des anderen. Identitätsformierung in der Gestalttherapie besteht darin, dem Klienten neue Einsichten erfahrbar zu machen, die sein Bild von sich selbst zu einer besseren Entsprechung mit der inneren und/oder äußeren Realität bringen können.
„Die Identität ist zu Ruhm gekommen, weil sie unsicher geworden ist“ – so zitiert Georg Pernter den französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann (2005, S, 62) und bezieht sich auf die postmodernen Anforderungen an Identitätsarbeit. Die Gestalttherapie – so Pernter – hat bislang keine ausdrückliche Identitätstheorie formuliert, es lässt sich jedoch eine konzeptueller Rahmen aufzeigen, in welchem sich subjektive und soziale Aspekte eines Identitätsprozesses finden, der sich im Wechselspiel zwischen Ich und anderen und in Abhängigkeit vom historisch-sozialen Lebenskontext realisiert. Gestalttherapie will Experimente mit passenden Identitäts-Konzepten ermöglichen.
Identität aus der Sicht der Gesprächspsychotherapie (Jobst Finke, Dr., Facharzt für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie; Gerhard Stumm, Dr., Personzentrierter Psychotherapeut)
In der von C. R. Rogers begründeten Personzentrierten (Gesprächs)Psychotherapie ist Identität kein explizites Konzept, die impliziten Bezüge jedoch, die sich herstellen lassen, sollen in diesem Beitrag aufgezeigt werden. Die Autoren gehen von drei Aspekten personaler Identität aus, von Konstanz, Kohärenz und Einzigartigkeit der Person und zeigen deren Entsprechung in der Gesprächspsychotherapie. Ein Schlüsselbegriff der Personzentrierten Persönlichkeits- und Therapietheorie ist die dem Begriff Kohärenz entsprechende „Kongruenz“ und ihr Gegenbegriff, die „Inkongruenz“, was die Bedeutung des Identitätsthemas für die Gesprächspsychotherapie unterstreicht.
Kritisch betrachtet wird ein Ideal persönlicher Identität, wie es im Menschenbild der Moderne zu finden ist. Der damit einhergehende Konsistenzzwang führt zur Einengung der „emotionalen Fülle“ der Person, in der Sprache der Gesprächspsychotherapie zur Inkongruenz, zum Ausgrenzen von Erfahrungen zur Aufrechterhaltung des Selbstbildes und damit des Identitätserlebens.
Hingewiesen wird auch auf eine Gefahr, die in der Vorstellung von Konsistenz und Individualität liegt, und der Rogers (zeitweise) erlag, nämlich der Unterschätzung der soziokulturellen Vorgaben, die in die Identitätsbildung eingehen.
Differenz und Vielfalt statt Einheit: Identität in Theorie und Praxis der systemischen Therapie (Tom Levold, Paartherapeut, Institut für psychoanalytisch-systemische Praxis)
Auch in systemisch orientierten Ansätzen ist Identität als eigenständiger Themenkomplex so gut wie nicht existent (S. 381). Gleichwohl lassen sich unterschiedliche Positionen identifizieren, die Levold in seinem Beitrag anhand der theoretischen Entwicklungslinien darlegt. Diese beginnt mit der Familientherapie, in der die personale Identität keinen Stellenwert hatte. In der Theorie autopoietischer Systeme (Maturana & Varela 1982) ist Wirklichkeit eine subjektive Konstruktion von Beobachter, Identität also eine Beobachterkategorie. Levold weist darauf hin, dass eine therapeutische Operationalisierung dieses Identitätskonzeptes angesichts seiner Allgemeinheit zu misslingen droht. In Luhmanns Theorie sozialer Systeme (Luhmann 1994) ist der Begriff der Identität für die Selbstreflexion eines Systems reserviert, sie dient der Organisierung von Selbstreferenz. Die Idee einer zeitüberdauernden Struktur ist damit obsolet. In sozialkonstruktivistischen und narrativen Ansätzen tritt die Eigendynamik sozialer Diskurse und Praktiken in den Fokus, der Ort der Konstruktion von Identität ist die Erzählung. Da der Kontext für relevante Erzählungen sich fortwährend ändert, kann nicht mehr von einer personalen Identität im Sinne einer fortdauernden Einheit gesprochen werden. Wenn Identität durch Erzählungen konstituiert wird, liegen die therapeutischen Möglichkeiten in der Schaffung neuer Texte und damit neuer Identität. Allerdings blendet diese Reduktion von Identität auf Texte die körperliche Konstitution des Menschen und die materiellen und machtbezogenen Randbedingungen für die Konstruktion von Wirklichkeit weitgehend aus. Abschließend geht Levold auf den bislang wenig rezipierten Ansatz von S. J. Schmidt (Geschichten und Diskurse) ein, wonach Identitätsentwürfe sich nicht ausschließlich durch Sprache konstituieren, sondern aufgrund der affektiven und körperlichen Fundierung sozialer Prozesse auch affektive und moralische Aspekte aufweisen.
„Transversale Identität und Identitätsarbeit“. Die Integrative Identitätstheorie als Grundlage für eine entwicklungspsychologisch und sozialisationstheoretisch begründete Persönlichkeitstheorie und Psychotherapie – Perspektiven „klinischer Sozialpsychologie“ (Hilarion Petzold)
Petzold will mit seinem Modell einer transversalen (i.e. quer sich entwickelnden, querliegenden) Identität eine wesentliche Grundlage für Unterstützungsleistungen zur Bewältigung von Identitätskrisen und zur Steuerung von Identitätsprozessen bieten. Er versucht das auf 198 Seiten in 6 Kapiteln: „1. Quellen und Kontext“ mit evolutionstheoretischen, historischen, ethischen, anthropologischen und hermeneutisch-diskursiven, dramatisch-aktionalen Darlegungen; „2. Identität in einer transversalen Moderne wird ‚transversale Identität'“, u.a. mit einer Diskussion philososophisch-anthropologischer Positionen, der Idee der Zwischenleiblichkeit und intersubjektiven Identität in der Integrativen Therapie, einer – so Petzold – neurowissenschaftlichen Basis (Spiegelneuronen) für Empathie- und Identitätsprozesse, der Sprache als kollektiv-mentale Repräsentation von Gefühlen, subjektiven Theorien und Willensregungen; „3. Identität im „Feld“, in „Kontext und Kontinuum“ – KULTUR und SOZIALISATION als sozialpsychologischer Rahmen für die Identitätskonstitution“ mit einem intensiven Bezug auf Kurt Lewins Feldtheorie und einer kulturalistischen Perspektive; „4. Das Integrative Identitätskonzept – Identitätsarbeit, Identitätsstile“, „5. Feinstrukturen im Integrativen Modell der Identität – Identitätsarbeit/Identitätsprozess und die „Fünf Säulen der Integrität“ mit Leiblichkeit, sozialen Beziehungen, Arbeit/Leistung/Freizeit, materieller Sicherheit und Werten und der Bedeutung der therapeutischen Identitätsarbeit mit kreativen Medien, und „6. Politiken und Prozesse melioristischen Aushandelns von Identität – ‚identity negotiation? im Rahmen ‚transversaler Identitätstheorie'“.
Ein wesentliches Verdienst des Beitrages ist es, oft eifersüchtig gehütete Barrieren zwischen den Wissenschaftsdisziplinen – nicht nur, aber auch innerhalb der Psychologie! – , na ja, nicht einzureißen, aber vielleicht doch ein wenig durchlässiger zu machen, insbesondere durch die Hereinnahme sozialwissenschaftlicher/sozialpsychologischer Theoriebildung, speziell der Feldtheorie Lewins. Leider wird seine Rezeption durch eine Unmenge von Literaturhinweisen (auch dort, wo es durch wissenschaftliche Redlichkeit nicht geboten, oder einer Weiterarbeit durch Leser nicht dienlich ist) behindert. Und eine Vielzahl von Selbstzitaten und Hinweise auf eigene Verdienste um die „Integrative Therapie“ (die zweifelsohne vorhanden sind), lassen den Text streckenweise eher autor- als leserzentriert erscheinen. Schade, denn er verdient unvoreingenommene Rezeption – sicher, man soll es dem Leser nicht zu leicht machen, aber das Gegenteil ist auch nicht dienlich.
Fazit
Der Band versammelt lesenswerte Beiträge zum Thema Identität, sowohl im ersten, eher theoretisch orientierten Teil, als auch im schulenbezogenen zweiten Teil. Dabei ist in Letzterem die Nähe zum Thema Identität recht unterschiedlich, was nicht verwundern sollte, wird in den verschiedenen therapeutischen Ansätzen zwar dass, was unter diesem Konzept verstanden werden kann, ständig verhandelt, allerdings unterschiedlich benannt. Für einen schulenübergreifenden Diskurs ist es allerdings eminent bedeutsam, diese unterschiedlichen Benennungen auf Gemeinsamkeiten und Differenzen zu prüfen – ein wichtiges Ergebnis dieses Buches.
Allerdings bleiben mir dabei auch einige Fragen offen. Der wissenschaftstheoretische Status des Konzeptes Identität ist der eines Konstruktes; man findet Identität nicht vor wie eine Leitplanke auf der Autobahn oder den Supermarkt in der Einkaufszone. Wann ist sie vorhanden, oder wann nicht , ist es denn denkbar, Mensch zu sein, ohne Identität zu besitzen? Wie steht es dann um die Reichweite, den Erklärungswert , handelt es sich gar um einen Allbegriff, der alles und damit nichts erklärt?
Für Schwendter ist unbeschädigte Identität beinahe undenkbar; wenn das so ist: kann sie dann als Referenz taugen, also wie kann ich dann von beschädigter Identität sprechen – wie von einer beschädigten Leitplanke nach einem Unfall oder einem Supermarkt nach dem Brand in der Lebensmittelabteilung?
Aber sehr oft sind Fragen wertvoller als Antworten!
Literatur
- Jacoby, R. (1978).Soziale Amnesie. Eine Kritik der konformistischen Psychologie von Adler bis Laing. Frankfurt: Suhrkamp
- Kaufmann, J.-C. (2005). Die Erfindung des Ich. Eine Theorie der Identität. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft.
- Keupp, H. (1988). Auf dem Weg zur Patchwork-Identität? Verhaltenstherapie und psychosoziale Praxis, 20 (4), 425-438
- Koorsgard, C. (1996). The sources of normativity. Cambridge: Cambridge University Press.
- Luhmann, N. (1994). Die Wissenschaft der Gesellschaft. Frankfurt: Suhrkamp.
- Maturana, H. R. and F. J. Varela (1982). Autopoietische Systeme: eine Bestimmung der lebendigen Organisation. In H. R. Maturana. Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braunschweig, Vieweg: 170-235.
- Schmidt, S. J. (2003). Geschichten und Diskurse. Abschied vom Konstruktivismus. Reinbek: Rowohlt.
- Schwartz, S.J.; Luyckx, K.; Vignoles, V.L. (2011). Handbook of identity theory and research. New York: Springer.
- Stern, D. (1992). Die Lebenserfahrung des Säuglings. Stuttgart: Klett-Cotta.
Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied
und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der
FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische
Psychotherapie.
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Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 25.09.2012 zu:
Hilarion G. Petzold (Hrsg.): Identität. Ein Kernthema moderner Psychotherapie. Springer VS
(Wiesbaden) 2012.
ISBN 978-3-531-17693-2.
Reihe: Integrative Modelle in Psychotherapie, Supervision und Beratung.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13725.php, Datum des Zugriffs 10.06.2023.
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