Irvin Waller (Hrsg.): Mehr Recht und Ordnung! Oder doch lieber weniger Kriminalität?
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 09.09.2013
Irvin Waller (Hrsg.): Mehr Recht und Ordnung! Oder doch lieber weniger Kriminalität? Forum Verlag Godesberg GmbH (Mönchengladbach) 2011. 256 Seiten. ISBN 978-3-936999-92-1. 24,00 EUR.
Thema
Mehr Recht und Ordnung, mehr Polizei und Justiz sorgen für niedrigere Kriminalitätszahlen. Der Autor beschreibt in seinem Buch, dass diese weitverbreitete Annahme unrichtig ist. Ausgehend von der Situation in den USA, wo die Ausweitung der polizeilichen und justiziellen Maßnahmen weitgehend ins Leere laufen, beschreibt Waller sinnvolle Ansätze der Kriminalprävention. Ausgangsbasis für diese neuen Ansätze sind umfangreiche sozial- und kriminalwissenschaftliche Forschungsergebnisse, die im vorliegenden Band zusammengeführt und für die Praxis erschlossen werden.
Autor
Irvin Waller ist Professor für Kriminologie an der Universität von Ottawa und Vizepräsident der International Organization for Victim Assistance. Er war Mitbegründer und erster Direktor des International Centre for the Prevention of Crime in Montreal und hat in mehr als 40 Ländern Regierungen in Fragen der Kriminalprävention und des Opferschutzes beraten. Waller war beteiligt am „Programm für sichere Städte“ von UN Habitat, an der Entwicklung der UN Crime Prevention Guidelines und entsprechenden Leitlinien der WHO. Der bereits 2008 in Kanada erschienene Band wurde 2011 in einer Übersetzung von Stephan Hasenpusch vom Deutschen Präventionstag herausgegeben.
Aufbau und Inhalt
Neben zwei einleitenden Vorworten der Herausgeber und des Autors zur deutschen Ausgabe, sowie einer ausführlichen Einleitung, die den Weg von der rein polizeilichen Reaktion auf Gewaltkriminalität hin zur Kriminalitätsprävention in den USA nachvollzieht, enthält der Band acht Kapitel und einen zusammenfassenden Schlussabschnitt.
„Hart sein gegen Verbrechen heißt hart sein gegen uns“. Unter dieser Überschrift des ersten Kapitels beschreibt Waller den Verlauf der Kriminalitätsentwicklung in den letzten Jahrzehnten und die Entwicklung der staatlichen Reaktionsformen darauf. Anhand einiger Statistiken und Forschungsdaten aus den USA belegt er, dass das „durchschnittliche Risiko eines Bürgers, durch ein gewöhnliches Verbrechen geschädigt zu werden“ im Jahr 2004 „doppelt so hoch wie 1962“ (42) gewesen sei. Gleichzeitig, so belegt die Statistik sind die Ausgaben zur Verbrechensbekämpfung in den letzten 20 Jahren „unaufhaltsam gestiegen“ (50) und liegen mittlerweile höher, als die Ausgaben im Gesundheitsbereich. Waller beschreibt die Problematik dieser Entwicklung: die Bemühungen zur Verbrechensbekämpfung die sich vorwiegend auf Strafverfolgung und Bestrafung der Täter konzentriert laufen ins Leere. Trotz gestiegener Ausgaben im Justiz- und Polizeisektor, so seine Analyse, ist es nicht zu einer signifikanten Reduktion der Kriminalitätsquote gekommen. Anstatt reiner Strafverfolgung, so das Fazit müsse mehr in Richtung Kriminalitätsprävention unternommen werden, die Ursachen der Kriminalität bekämpft werden. Einzelne besonders wirksame Präventionsprojekte aus den USA und Großbritannien, sowie deren Rezeptionsgeschichte innerhalb der Sozial- und Gesundheitsorganisationen (z. B. WHO) greift Waller am Ende des ersten Kapitels auf. Sie sind die Grundlage für die folgenden sechs Kapitel des Buches.
„Bezahlen, um Kinder vor Verbrechen zu bewahren, nicht um sie zu verwahren“. Die etwas sperrige Überschrift des zweiten Kapitels verweist auf die Erkenntnisse aus Längsschnittstudien zum Kriminalitätsverlauf bei Kindern und Jugendlichen. Waller belegt unter Rückgriff auf entsprechende Forschungsergebnisse, dass die Identifikation und Bearbeitung spezifischer Risikofaktoren (z. B. gewalttätiges häusliches Klima, Vernachlässigung, Schulschwierigkeiten) und deren Bearbeitung das Kriminalitätsrisiko erheblich senken können. Er plädiert dafür einzelne Risikofaktoren für eine spätere Delinquenzentwicklung „in Angriff zu nehmen“ (97) und entsprechende Programme, z. B. Unterstützungsmaßnahmen für Mütter, Vorschulprogramme für Kinder, miteinander zu kombinieren. Seine -wissenschaftlich nicht belegte – These: ein derartiges Vorgehen kann die Kriminalitätsrate um bis zu 50% senken.
„Gewalt ächten, nicht Männer“. „Gewalt ist alltägliche Realität. Teenager kämpfen, manchmal in Gangs. Eltern missbrauchen und misshandeln ihre Kinder. Ehepartner greifen ihre Partner an. Personen vergewaltigen andere. Kinder mobben andere. Menschen töten (98).“ Waller nähert sich in diesem Kapitel der alltäglichen, oft häuslichen Gewalt, deren Grundlage er, in Rückgriff auf den „World Report on Violence and Health“ der WHO aus dem Jahr 2004, in Problemen der sozialen Integration und Teilhabe, sozio-ökonomischen und Bildungsproblemen sieht. „Gewalt“, so sein Fazit“ wird „durch soziale Kräfte verursacht“ (99). Der -logische- Ansatz wäre demnach, diese sozialen Faktoren, Risikofaktoren für Gewaltstraftaten, zum Gegenstand der Intervention zu machen und nicht nur auf die Folgen von Gewalttaten zu reagieren. Beispielsweise benennt Waller im Zusammenhang mit Gewalt gegen Frauen die Parameter Ausstattung des Polizeiapparats (z. B. ein Projekt aus Brasilien in dem Polizeistationen ausschließlich mit Frauen besetzt wurden, was das Kontakt- und Anzeigeverhalten von Opfern häuslicher Gewalt deutlich veränderte) und finanzielle Unabhängigkeit von Frauen (Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten, rechtliche Regelungen zu Unterhaltszahlungen und Scheidungsverfahren). Letztlich beschreibt Waller gesellschaftlich-strukturelle Phänomene die zur Benachteiligung und Diskriminierung von Frauen führen als Grundlage für Gewalt gegen Frauen. Das ist sicherlich kein neuer Ansatz, allerdings hier erneut diskutiert und ergänzt durch konkreter Fallkonstellationen und regionaler Beispiele zur Überwindung dieser Strukturen. Ähnlich geht der Autor in der Analyse und Beschreibung von Präventionsmöglichkeiten in den Bereichen Jugendgewalt, Schusswaffenverbreitung und -gebrauch (in der Übersetzung wird von „Feuerwaffen“ gesprochen), Straßenverkehrsdelikte und Alkohol bedingte Straftaten um. Einzelne, wissenschaftlich evaluierte Präventionsprogramme (z. B. das Midwestern Projekt zur Drogenprävention) werden kurz angerissen und vorgestellt. Das Kapitel endet mit einer umfassenden Kritik an der Praxis der Todesstrafte, deren Unwirksamkeit hinsichtlich Kriminalitätsminderung unter Bezugnahme auf einige Studien belegt und deren Anwendung für moderne Gesellschaften als inhuman kritisiert wird.
„Achten Sie auf Ihr Eigentum, wo nötig“. Im vierten Kapitel geht Waller auf das Phänomen der Eigentumsdelikte ein. Eigentumsdelikte können am ehesten verhindert werden, indem die „Motivation des Täters“ angegangen wird, anstatt die „Gelegenheit zur Tat“ (122) zu minimieren. Unter Rückgriff auf Daten auf das „Community Crime Prevention Project“ in Seattle in den 1970er Jahren beschreibt Waller Möglichkeiten wirksamer Maßnahmen zur Prävention: die Einbeziehung der Bevölkerung hinsichtlich deren Kriminalitätsfurcht, die Identifikation besonders betroffener Stadtteile, die Zusammenführung von Fachleuten unterschiedlicher Disziplinen aus Polizei und Sozialwissenschaften und die Entwicklung von Nachbarschaftshilfe und gegenseitiger Verantwortung in den Stadtvierteln. Die Bevölkerung wurde faktisch trainiert „kleine Gruppen aus unmittelbaren Nachbarn zu gründen, um einander kennenzulernen und Vorsichtsmaßnahmen vorzunehmen, die den identifizierten Ursachen entgegenwirkten. In anderen Worten wurde dort eine Gemeinschaft gebildet, wo sie durch das Stadtleben verloren gegangen war“ (125). Dieser Ansatz setzt eine aktive, Problem orientierte Gemeinwesenarbeit voraus, den Einsatz von „Sozialarbeitern … damit sie die Nachbarn dazu bringen, die Probleme, die die Analyse aufzeigt, zu lösen“ (128). Als deutlich weniger wirksam beschreibt Waller technische Möglichkeiten wie Videoüberwachung oder Mobiltelefone. Dazu zitiert der Autor Evaluationsstudien aus England, die belegen, dass der massenhafte Einsatz von Videokameras im öffentlichen Raum kaum zu einer Senkung der Kriminalitätsrate geführt hat, wenngleich die Aufklärungsquote für begangene Straftaten verbessert werden konnte.
„Nicht mehr, sondern klügere Polizei“. Die zentrale Aussage dieses Kapitels ist, „dass die Polizei sich beachtlich verändern muss, indem sie viel klüger handelt, so dass sie Risikofaktoren in Angriff nimmt, um die Kriminalitätsprobleme zu lösen. Das setzt voraus, dass sie die Polizeidatensysteme noch viel strategischer für ihre Aktivitäten einsetzt sowie Strategien zusammen mit Kommunalbehörden wie der Jugendhilfe plant“ (172). Waller zitiert die große Studie des National Research Council aus dem Jahr 2004 zu „Fairness and Effectiveness in Policing“. Dort wird nachgewiesen, dass eine Verstärkung der Polizeikräfte Verbrechen nicht verringert. Polizeistationen reagieren, so die Analyse, in der Mehrzahl der Fälle auf Straftaten die begangen wurden und nicht im Vorfeld. Auch die pure Präsenz uniformierter Polizisten im Alltag, z. B. durch Streifendienste, so eine der von Waller zitierten Studien führt zu keiner signifikanten Verringerung der Kriminalitätszahlen (153). Breiten Raum nimmt in diesem Kapitel die Kritik an der „Nulltoleranz-Politik“ und „Broken-Windows-Strategie“ amerikanischer Großstädte wie New York ein. Waller rechnet hier öffentlich mit der öffentlichkeitswirksamen Strategie des ehemaligen Bürgermeisters Guiliani und seines Polizeipräsidenten Bratton ab, auf die er, so der Eindruck beim Lesen, nicht gut zu sprechen ist. Sinnvolle Ansätze polizeilicher Arbeit seien die Identifikation gefährdeter Personen(gruppen) und die präventive Arbeit mit diesen, was die Kooperation mit städtischen Behörden voraussetzt. Waller beschreibt dazu ein Projekt aus Boston, in dem mittels niedrigschwelliger, aufsuchender Sozialarbeit Kontakt zu Straßengangs und Jugendlichen aufgenommen wurde, dort Hilfe zur Konfliktlösung, zur Familienunterstützung, Vermittlung zu sozialen Dienstleistungen etc. angeboten wurde und die Kriminalitätsrate so signifikant verringert werden konnte.
„Gerechtigkeit und Unterstützung für Verbrechensopfer garantieren“. Opferschutz, Unterstützung, bedürfnisorientierte Beratung, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung sind die Themen im folgenden Abschnitt. Waller fordert basale, eigentlich selbstverständliche Dinge, die in der amerikanischen Rechts- und Lebenspraxis noch seltener vorzufinden sind als in Europa: „Wenn Sie ein Verbrechensopfer werden, müssen Sie anständig, fürsorglich und gerecht behandelt werden, … Wenn Sie auf der Straße ausgeraubt werden, sollte es ihr Recht sein zu erwarten, dass andere Bürger Ihnen zu Hilfe kommen. Wenn Sie die Polizei rufen, sollte es Ihr Recht sein, dass der Polizist Ihnen zuhört und Ihnen hilft soziale und medizinische Hilfe zu bekommen, Ihnen Informationen darüber gibt, was er tun wir und welche Hilfe Sie bekommen können“ (175). Wichtige Ansätze für Opferrechte kamen von der „World Society of Victimology“ und der „National Organization for Victim Assistance“, deren Leitlinien für Opferhilfe Standards gesetzt haben, die jedoch mangels finanzieller Ausstattung nur ansatzweise umgesetzt werden können. Waller tritt dafür ein einen Anteil von vier Prozent der Ausgaben zur Verbrechensbekämpfung für Unterstützung und Rechtsmittel, sowie für die Wiedergutmachung zu reservieren um die Situation der Opfer zu verbessern. Ein Ansatz der nicht nur in den USA weiterhin auf seine Umsetzung wartet.
„Städte hart gegen Kriminalitätsursachen machen“. Kapitel sieben beschreibt die möglichen Ansätze zur Prävention auf kommunaler Ebene. Kernstück dieser Arbeit ist für Waller ein „Gemeinsamer Planungsausschuss und Sekretariat“ ein Präventionsgremium in dem sich Polizei, Jugendamt, Schulen, Sozialverwaltung etc. mit der Diagnose der Kriminalitätssituation und den -ursachen befassen, einen Aktionsplan zur Prävention erstellen, diesen durchführen und evaluieren. Waller macht deutlich dass diese kommunalen Ansätze eine sichere (nachhaltige) Finanzierung benötigen, langfristig angelegt sein müssen und stets den neuen Rahmenbedingungen in den Kommunen angepasst werden müssen. Selbstredend ist dafür eine Umwidmung von Mitteln der Verbrechensbekämpfung für die Präventionsarbeit unabdingbar (223 f) - „Wechseln von ‚Für Recht bezahlen‘ zu ‚In Ordnung investieren‘“ und „Ursachen sprengen, nicht Budgets“
Die abschließenden Kapitel acht und neun fassen die zentralen Aussagen des Bandes noch einmal zusammen. Waller drängt hier erneut darauf die Ursachen für Kriminalität zu erkennen und zu bekämpfen. Diese sind gesellschaftlich strukturell bedingt, berühren grundsätzlich Aspekte wie soziale und wirtschaftliche Struktur, Bildungspolitik, Hilfen für Jugendliche und Familien, Gleichberechtigung für Frauen, Integration gesellschaftlicher Minderheiten u. v. m. Waller macht deutlich, dass dies nicht die Aufgabe der Polizei sein kann, sondern einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung bedarf die auch eine gesetzliche Grundlage (Gesetz für Kriminalprävention) benötigt. Zur Finanzierung dieser Aktivitäten schlägt Waller eine Umwidmung der Ausgaben aus dem Bereich der Verbrechensbekämpfung in Höhe von zehn Prozent zugunsten von Prävention und Opferhilfe vor. Mit den vorgelegten wissenschaftlichen Befunden erklärt er auch, dass diese Umverteilung von Mitteln die Viktimisierung und damit die Kriminalitätsbelastung erheblich verringern wird. Das öffentliche Strafbedürfnis, der (auch in Deutschland) stete Ruf nach mehr und härteren Strafen, Ausbau der Polizeimittel, nach mehr Kontrolle stehen dem entgegen. Waller mahnt an, dass die Erkenntnisse zur Kriminalprävention, deren Vorteil hinsichtlich einer echten Senkung der Kriminalitätszahlen gegenüber rein verbrechensaufklärenden Ansätzen stärker berücksichtigt werden müssen und Eingang in die politischen Programme der Länder finden müssen. Hoffnungsvoll formuliert er zum Schluss, dass die Bevölkerung für einen derartigen Richtungswechsel bereit sei.
Zielgruppe
Waller hat sein Buch für „Bürgermeister, Gesetzgeber und Steuerzahler“ (10) geschrieben, die er für die Thematik interessieren möchte. Entsprechend hat er eine einfache, durchgehend verständliche, teilweise plakative Sprache verwendet, mit der er seine Erkenntnisse und Beispiele, vorwiegend aus dem US-amerikanischen Raum vermittelt.
Diskussion
„Dies ist eine nüchterne Schlussfolgerung, dass Viktimisierung deutlich reduziert werden würde, wenn diese Arbeitskräfte (Jugendarbeiter, Hochschullehrer, Jobtrainer Anm. G. H.) eingestellt würden, um ihren Dienst für junge Erwachsene, Familien und Nachbarschaften, die am meisten gefährdet sind, zu leisten.“ Waller plädiert gegen ein härteres Vorgehen von Justiz und Polizei, nicht „Null Toleranz“ gegen Kriminalität, sondern einen anderen, intelligenteren Einsatz der Polizei, die im Vorfeld von Kriminalität präsent ist, unterstützt und vermittelt, die Bekämpfung der Kriminalitätsursachen an der (gesellschaftlichen) Wurzel. Die hier vorgelegten Forschungsergebnisse und Zahlen belegen, dass eine Erhöhung der Ausgaben im Justiz- und Polizeisektor nicht zu einer entsprechenden Minderung der Kriminalitätszahlen führen.
Wallers Vorschläge beziehen sich auf die Situation in den USA und Großbritannien. Sie sind in Deutschland z. T. nicht direkt umsetzbar, z. B. bzgl. der Steuerung der Polizei und der Schulen durch die Kommune. Unabhängig davon gelten die von ihm vorgestellten und diskutierten Befunde zum anstehenden Paradigmenwechsel in der Kriminalpolitik: weg von der nachträglichen Reaktion durch Strafe und Resozialisierung hin zur Prävention, zur Förderung von Lebensbedingungen für Kinder und Familien, um so frühzeitig i. S. einer Primärprävention Kriminalität zu verhindern; weg von einer rein polizeilichen und justiziellen Interventionspraxis mit einem schlechten Kosten-Nutzen-Verhältnis hin zu einer Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, die Menschen Chancen eröffnet und Perspektiven erschließt und so Kriminalität verhindert.
Spannend und notwendig wäre gewesen für die deutsche Ausgabe des Buches auf die jüngste Entwicklung im deutschen Rechts- und Polizeisystem einzugehen. Was bringen die Reform der Sicherungsverwahrung und der Führungsaufsicht, des Strafrechts insgesamt, die Einführung polizeilicher Ländermaßnahmen wie KURS oder HEADS zur Überwachung und Kontrolle besonders gefährlicher Straftäter? Konkrete Zahlen liegen auch in Deutschland vor, z. B. die Evaluation der Reform der Führungsaufsicht (seit 2007 umgesetzt und neben Hilfsangeboten für rückfallgefährdete Straftäter mit einem breiten Katalog zusätzlicher Kontroll- und Strafmöglichkeiten ausgestattet).
Waller hat das Buch für „Bürgermeister, Gesetzgeber und Steuerzahler“ (10) geschrieben um ihnen wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit Beispielen erfolgreicher Präventionsarbeit zu erschließen und vor allem Straftaten zu verhindern und Viktimisierung zu verhüten. Damit gelingt teilweise der vielfach beschworene Forschungs-Praxis-Transfer, werden empirische Erkenntnisse die in der Praxis dringend benötigt werden erschlossen und verfügbar gemacht und können als Grundlage für innovative Projekte genutzt werden. „Vorbeugen ist besser als heilen“ (26), dieser Satz der auch als Maxime für Gesundheitspräventionsprogramme der 1970er Jahre in Deutschland Pate gestanden hat gilt auch für die Verhinderung von Kriminalität. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies, einen Teil der Budgets zur Verbrechensbekämpfung für die Kriminalitätsprävention zu verwenden.
Ein deutlich vom Erfahrungshintergrund der USA geprägtes Buch, das sich auch sprachlich sehr an den amerikanischen Verhältnissen orientiert. Offensichtlich kam der Übersetzer bei der Arbeit deutlich an seine Grenzen. Um seine Thesen zu verdeutlichen und der von ihm gewählten Zielgruppe („Bürgermeister, Gesetzgeber und Steuerzahler“) nahe zu bringen, wählt Waller immer wieder eine sehr plastische, teilweise plakative Sprache. Das mag das Interesse auf die Thematik wecken, stört jedoch im Lesefluss und steht letztlich einer vertieften Auseinandersetzung im Weg. Dem Buch hätte eine gründlichere sprachliche Anpassung an die Verhältnisse in Westeuropa, insbesondere in Deutschland gutgetan, z. B. in der Bearbeitung der im Text enthaltenen häufigen sprachlichen Amerikanismen. Für die deutschsprachige Ausgabe wäre wünschenswert gewesen die umfangreichen Aktivitäten und Ansätze, auch die bislang prämierten best-practice-Projekte zur Kriminalitätsprävention in Deutschland (vgl. www.praeventionstag.de) zusammenzustellen und so die Überlegungen Wallers entsprechend zu aktualisieren. Um das Werk nicht nur als Quellentext in deutscher Übersetzung zu publizieren wäre eine Aktualisierung der Literaturquellen die maximal bis 2006 datieren erforderlich gewesen.
Fazit
Ein wichtiges Buch, ein bemerkenswerter Quellentext in dem Bemühen reaktive Polizeiarbeit, Gerichtswesen und Strafvollzug um wirksame Maßnahmen der Kriminalprävention zu ergänzen. Die wissenschaftlichen Befunde sind eindeutig: reine Straf- und Kontrollmaßnahmen führen nicht zu einer Senkung der Kriminalitätszahlen. Teilweise wirken sie kontraproduktiv. Wirksamster Opferschutz i. S. einer Verhütung der Viktimisierung ist ein über die Verwaltungs- und Versorgungsebenen übergreifender Ansatz, die Einbeziehung der Familien, Schulen, Verwaltung, des Gesundheitssektors und (auch) der Justiz und Polizei. Wallers Verdienst ist es, ausgewählte (US-amerikanische) empirische Belege für die Effektivität derartiger Präventionsarbeit erschlossen und für die (Fach)öffentlichkeit verfügbar gemacht zu haben.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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Es gibt 177 Rezensionen von Gernot Hahn.
Zitiervorschlag
Gernot Hahn. Rezension vom 09.09.2013 zu:
Irvin Waller (Hrsg.): Mehr Recht und Ordnung! Oder doch lieber weniger Kriminalität? Forum Verlag Godesberg GmbH
(Mönchengladbach) 2011.
ISBN 978-3-936999-92-1.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13733.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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