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Benigna Gerisch: Suizidalität

Rezensiert von Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke, 19.02.2013

Cover Benigna Gerisch: Suizidalität ISBN 978-3-8379-2113-7

Benigna Gerisch: Suizidalität. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2012. 140 Seiten. ISBN 978-3-8379-2113-7. D: 16,90 EUR, A: 17,40 EUR, CH: 24,90 sFr.
Reihe: Analyse der Psyche und Psychotherapie.

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Thema und Zielsetzung

Benigna Gerisch referiert im Rahmen der Reihe „Analyse der Psyche und Psychotherapie“ über Suizidalität, erläutert die Genese dieses Symptoms aus psychoanalytischer Perspektive und widmet sich schließlich den diesbezüglichen Besonderheiten in der psychoanalytischen Therapie.

Autorin

Frau Prof. Dr. phil. Benigna Gerisch wurde 1960 in Hannover geboren und ist Psychoanalytikerin. Nach dem Studium der Psychologie und Sprachwissenschaft/ Literaturwissenschaft in Hamburg promovierte und habilitierte Benigna Gerisch sich zum Thema Suizidalität bei Frauen im Fachbereich Medizin des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und erhielt für ihre Arbeit den DPV-Nachwuchspreis. Sie arbeitete viele Jahre im Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete (TZS) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf und verfügt über die psychoanalytische Ausbildung hinaus über eine Ausbildung zur systemischen Familientherapeutin.

Sie hat mehrere Bücher (mit) heraus gegeben und zahlreiche Buchbeiträge, Original- und Übersichtsarbeiten veröffentlicht. Seit 2009 ist sie Professorin an der International Psychoanalytic University (IPU) in Berlin.

Entstehungshintergrund

Das Buch „Suizidalität“ ist im Rahmen der Reihe „Analyse der Psyche und Psychotherapie“ im Psychosozial-Verlag erschienen. Die Reihe beschäftigt sich mit grundlegenden Konzepten und Begrifflichkeiten in der Psychoanalyse und stellte diese vor ihrem historischen Hintergrund dar. Die langjährige Arbeit im TZS des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf macht Benigna Gerisch zu einer kompetenten Autorin über Suizidalität.

Aufbau und Inhalt

Benigna Gerisch präsentiert dem Leser im Vorwort zunächst empirische Daten über Suizidalität, Suizide und Suizidversuche und schlüsselt diese kurz geschlechts-, geschichts- sowie altersspezifisch und im internationalen Vergleich auf. Darüber hinaus reißt sie Motive und den Aspekte des Umgangs mit Suizidalität an und berichtet schließlich kurz über ihre langjährige Tätigkeit am TZS am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.

In der Einführung geht Gerisch zunächst auf den assistierten Suizid Freuds ein. Im Anschluss fasst die Autorin kurz die verschiedenen Herangehensweisen der „Suizidologie“ zusammen: soziologischer Deutungsansatz, lerntheoretisches Erklärungsmodell, familientherapeutische Konzeption, epidemiologische Forschung, biologische Suizidforschung sowie psychodynamisch-psychoanalytische Konzeptionen, die triebdynamisch orientierte Melancholie-Aggressions-Theorie und die medizinisch-psychiatrische und deskriptiv-psychodynamischen Erklärungsmodelle. Schließlich stellt Gerisch die Gemeinsamkeiten einiger Modelle in Bezug auf unbewusste, vorbewusste und bewusste Motive und Phantasien dar.

Das erste Kapitel „Zur frühen Geschichte psychoanalytischer Konzeptionen der Suizidalität“ läutet die Autorin mit einem Blick in die Antike ein, um dann auf Sigmund Freud zu sprechen zu kommen, der erstmals deutlich machte, dass ein Anlass für Suizidalität nicht (nur) in einem aktuellen Ereignis liegen muss, sondern „nur dann traumatisch wirke, wenn dieser eine verdrängte, unbewusste Konfliktthematik aktualisiere“. „Das Melancholiemodell der Suizidalität“ zeichnet die Aggressionstheorie nach und verweist auf den Suizid als letzte Konsequenz eines depressiven Reagierens während das darauf folgende Unterkapitel auf Freuds Todestrieb rekurriert, der nach Karl Meininger als Sieg von Thanatos über Eros ausgeführt wird.

Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Benigna Gerisch mit der „Weiterentwicklung psychoanalytischer Erklärungsmodelle der Suizidalität“ und im ersten Unterkapitel mit der Suizidhandlung als Abwehr einer drohenden narzisstischen Kränkung/ Katastrophe, was mit einer Fallvignette illustriert wird. „Die Objektbeziehungstheorie“ zeigt, dass sowohl intrapsychische aber auch interpersonelle Krisen Suizidalität auslösen können.

„Zur Konzeptualisierung der Suizidalität in der heutigen Psychoanalyse“ richtet die Aufmerksamkeit des Lesers auf Emotionen und Affekte sowie die soziale Umwelt; dabei führt die Autorin zunächst „Suizidalität und das Beziehungsparadigma“ aus. Im folgenden Unterkapitel geht Gerisch auf kleinianische und post-kleinianische Konzeptionen ein und untermauert diese mit zahlreichen Literaturzitaten, wie es im gesamten Buch der Fall ist.

Benigna Gerisch wendet sich im Folgenden der „Suizidalität, Intersubjektivität und Neue[n] Medien“ zu und weist auf die insuffiziente Datenlage über die Bedeutung des Internets (Foren, Blogs, etc.) für Suizidalität hin, wobei sie auf die Gefährdung insbesondere für junge Menschen hinweist.

Schauplätze und Varianten des Suizidalen“ beginnt die Autorin mit dem Hinweis auf agierende, lärmende Suizidalität auf der einen Seite und stille, lautlosen Suizidalität. In diesem Kontext wird bezüglich der letzteren Form auf die Relevanz der Körpersprache hingewiesen, die vom Therapeuten (richtig) gelesen werden muss. In den folgenden Unterkapiteln widmet sich die Autorin sowohl dem Geschlechts- bzw. Genderaspekt zu als auch der Identität der Körperlichkeit zu, bevor sie den Körper als Projektionsfläche darstellt. Benigna Gerisch zeigt sowohl den Umschlag der körperlichen Selbstoptimierung in Selbsthass (beim Scheitern der Selbstoptimierung) auf, als auch „Ästhetisierende und destruktive Körperpraktiken“. Vor allem dieses Kapitel versieht die Autorin mit mehreren plastischen Fallvignetten aus ihrer langjährigen therapeutischen Erfahrung.

Gerisch greift bei ihrer Ausarbeitung über „Psychanalytische Psychotherapie mit suizidgefährdeten Patienten“ auf ihre langjährige psychotherapeutische Erfahrung im TZS sowie auf theoretische Grundlagen zurück und betont zunächst den Unterschied zwischen Krisenintervention (Abbringen des Patienten von suizidalem Agieren/ suizidalen Handlungen) und der psychotherapeutischen Behandlung Suizidgefährdeter. Sie schildert eindrucksvoll, dass im TZS sogar auf Non-Suizidverträge/ Non-Suizidpakte verzichtet werde, um den Patienten nicht zu allem Überdruss auch noch ihre Autonomie zu nehmen und das therapeutische Bündnis zu stärken. Sie geht in diesem Zusammenhang auch auf die Notwendigkeit der Sorgfalt der Diagnostik ein sowie auf die Tatsache, dass Suizide von Patienten keinesfalls kategorisch verhindert werden können und Letztere zu schweren Schuldgefühlen und Versagensängsten und Abwehr bei Therapeuten führen können.

Die Behandlungsphasen der 30 – 50 Sunden über anderthalb Jahre mit einer Frequenz von einer Stunde pro Woche untergliedert die Autorin wie folgt: „Der Erstkontakt, suizidale Szenen“, „Die Behandlungsphase: Selbstreflexion und Anerkennung“ und „Die Abschlussphase: sinnhafte Kontextualisierung“. In der ersten Phase kämen „Vorfeldphänomenen“ nach Argelander eine zentrale Bedeutung zu; eine umfassende und omnisensorische Wahrnehmung des Patienten sei von eminenter Bedeutung. Abgesehen vom aktuellen Auslöser sei das Aufspüren des darunter liegenden Konfliktes zentraler Bestandteil, um eine wirksame Therapiephase zu ermöglichen. Zwar erkennt Gerisch an, dass unter Umständen eine Zwangseinweisung/ -behandlung nötig sei, dies aber zumeist das Ende der therapeutischen Beziehung bedeute. Nach ca. fünf Stunden beginne die Behandlungsphase, die sich von der Behandlung nicht suizidaler Patienten nur selten unterscheide, da es auch im Fall suizidaler Patienten um das „Durcharbeiten [suizidaler] Krise[n] und Konfliktthematik in einer von Übertragung und Gegenübertragung geprägten professionellen Beziehung“ gehe.

Die Abschlussphase schildert Benigna Gerisch als schwierig, da nicht selten Trennungserfahrungen zu suizidalem Verhalten geführt hätten. Auch Abwesenheiten des Therapeuten durch Urlaube oder Krankheiten seien oftmals konfliktbehaftet. Fatal für Patient und Therapeut sei die vom Therapeuten aktiv oder passiv (Übertragung durch den Patienten) übernommene Rolle als „omnipotenter Retter“. Der Therapeut übernehme unter Umständen so die Rolle des Schafrichters: „Somit ist es paradoxerweise der Arzt, der sich so sehr anstrengt, den Patienten am Leben zu halten, der sich, unbewusst, am ehesten zu dem treibt, was ihm mittlerweile als einzige noch mögliche autonome Handlung bleibt – nämlich der Selbstmord“, so schreibt Gerisch referierend auf Hendin.

Schließlich spricht Benigna Gerisch im vorletzten Kapitel einige „Behandlungsklippen“ an, die vor allem auf die Projektionen suizidaler Patienten auf ihre Therapeuten zurückzuführen sind. In diesem Zusammenhang benennt sie ehrlich und offen den Hass des Therapeuten auf den Patienten bedingt durch eine Gegenübertragung: Setze der Patient den Therapeuten mit Suiziddrohungen unter Druck, so resultieren durchaus ein „Mach’s doch endlich“ in der Person des Therapeuten. Die „sadistische Bösartigkeit und Aversion“ als Gegenübertragung gehöre zu den häufigsten (Gegenübertragungs-) Reaktionen bei der Behandlung suizidaler Patienten, was Gerisch mit einem Literaturzitat von Maltesberger und Buie (1974) belegt.

Am Ende des Buches hält Benigna Gerisch ein „Plädoyer für einen angemessenen Zeitrahmen psychotherapeutischer Behandlungen“.

Zielgruppe

Das Buch richtet sich genau wie die anderen Bücher dieser Reihe sowohl an Studierende aber vor allem an ausgebildete Psychotherapeuten aller Schulen und solche, die sich in der Ausbildung befinden. Vorkenntnisse der psychoanalytischen Nomenklatur und Zusammenhänge sind für die Lektüre von Vorteil.

Diskussion und Fazit

Benigna Gerischschöpft aus ihrer jahrzehntelangen psychoanalytischen Erfahrung im Therapie-Zentrum für Suizidgefährdete am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf und rekurriert kenntnisreich auf bedeutungsvolle einschlägige (Fach-) Literatur.

Wenn auch dieser Beitrag zur Buchreihe keine „bahnbrechend“ neuen Erkenntnisse über Suizidalität bietet, so informiert die Autorin informiert, kenntnisreich und übersichtlich über die Thematik der Suizidalität und hat somit einen gut lesbaren und mit Fallvignetten gut illustrierten Beitrag zu dieser Buchreihe geleistet.

Rezension von
Prof. Dr. med. et Dr. disc. pol. Andreas G. Franke
M.A. Professur für Medizin in Sozialer Arbeit, Bildung und Erziehung. Hochschule der Bundesagentur für Arbeit Mannheim
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Es gibt 74 Rezensionen von Andreas G. Franke.

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Zitiervorschlag
Andreas G. Franke. Rezension vom 19.02.2013 zu: Benigna Gerisch: Suizidalität. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2012. ISBN 978-3-8379-2113-7. Reihe: Analyse der Psyche und Psychotherapie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13735.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.


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