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Pim Blomaard: Beziehungsgestaltung [...] Menschen mit Behinderungen

Rezensiert von Prof. Stefan Müller-Teusler, 23.01.2013

Cover Pim Blomaard: Beziehungsgestaltung [...] Menschen mit Behinderungen ISBN 978-3-89896-494-4

Pim Blomaard: Beziehungsgestaltung in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen. Aspekte zur Berufsethik der Heilpädagogik und Sozialtherapie. Athena-Verlag e.K. (Oberhausen) 2012. 348 Seiten. ISBN 978-3-89896-494-4. D: 34,00 EUR, A: 35,00 EUR, CH: 46,00 sFr.
Reihe: Edition Anthropos. Heilpädagogik und Sozialtherapie aus anthroposophischen Perspektiven.

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Thema und Entstehungshintergrund

Menschen mit Behinderungen sind meistens auf die Begleitung von Professionellen angewiesen, die ihnen in ihrem Lebensalltag hilfreich und begleitend zur Seite stehen. Dabei ist es stets ein schwieriger Spagat zwischen den Alltagsanforderungen und den individuellen und den professionellen Ansprüchen, für die es keine Patentrezepte gibt. Damit gewinnt die Ethik als Reflexionsebene und als Teil der Profession an besonderem Gewicht. Die Diskussionen über Ethik in der Behindertenhilfe ist eine schon lang andauernde Debatte, die immer wieder neue Belebung erfährt. Dem derzeitigen Paradigma der evidenzbasierten Behindertenhilfe setzt der Verfasser einen anderen Entwurf entgegen: eine geisteswissenschaftliche Verortung als Teil des beruflich-ethischen Handelns.

Bei dem Buch handelt es sich um eine Dissertation, die sich diesem Thema ausführlich widmet.

Autor

Der Verfasser ist als Geschäftsführer einer holländischen (anthroposophischen) Einrichtung der Behindertenhilfe tätig.

Aufbau und Inhalt

Das Buch gliedert sich in sieben Hauptteile: entsprechend der tatsächlichen Praxis der Behindertenhilfe fragt der Verfasser nach der Bedeutung der Beziehung in der Begleitung, geht dann auf die Erzieherpersönlichkeit ein, diskutiert die Begegnung in der Begleitung und deren Wechselwirkung und kommt schließlich zur Verantwortung der Situation im jeweiligen Handeln. Insofern geht das Buch über andere vorgelegten Beiträge zu diesem Thema hinaus, weil es den Prozess der Handlung, den Spannungsbogen von der Voraussetzung der Erzieherpersönlichkeit über den Prozess des Handelns in seiner Intention hin zur Situationsverantwortung thematisiert.

Eine Einleitung macht deutlich, was den Leser erwartet: ausgehend von der personenorientierten Praxis der Behindertenhilfe geht es um die berufsorientierte Ethik, „die sich auf die gelebte Berufsmoral besinnt und zugleich die anthropologische Frage nach dem Menschen berücksichtigt…Die moralischen Erfahrungen werden mit Hilfe verschiedener theoretischer Begriffe beleuchtet und ausgewertet, insbesondere mit Hilfe der dialogischen Philosophie Rudolf Steiners“ (S. 13). Dabei ist es nicht eine vordergründige Betonung der Arbeiten von Steiner, sondern diese wird ebenso herangezogen wie andere Ansätze auch. „Die Hauptfrage dieser Arbeit ist folgende: welche berufsmoralischen Kompetenzen braucht der professionelle Begleiter, damit er die Beziehung zu geistig behinderten Menschen symmetrisch gestalten kann?“ (a.a.O.). Damit ist eine Eingrenzung des Personenkreises vorgegeben, wobei auch nicht ausgeschlossen ist, dass es auf andere Personenkreise der Sozialen Arbeit nicht ebenso fruchtbar sein könnte, insbesondere da im Verlauf des Buches Menschen mit Autismus als Beispiel herangezogen werden.

Der erste Teil geht der Frage der Bedeutung der Beziehung in der Begleitung nach. Neben allgemeinen Ausführungen zu diesem Thema gibt es – der Themenstellung der Arbeit entsprechend – theoretische Diskussionen auf der Basis der Arbeiten von Nohl, Rogers, Reinders, Buber, Steiner und die Heranziehung der Care-Ethik. Dabei geht es nicht nur im deren Positionen, sondern auch um einen entsprechenden disziplinären Zugang: ethisch, pädagogisch, psychologisch, theologisch, dialogisch und spirituell.

Der zweite Teil ist überschrieben mit Selbst-Beziehung als Grundlage der Begleitung. Dabei geht es einerseits um die Selbst-Erfahrung des Begleiters als Voraussetzung für die dialogische Begleitung und andererseits aber auch um die Selbst-Erfahrung bei Begleiteten. Gleichzeitig wird in diesem Kontext die Frage von Einstellungen wie auch die Dualität in der Selbst-Beziehung thematisiert.

Der dritte Teil fragt nach der Haltung als Bedingung der Beziehung. Hier ist der Bezug zur Berufsethik als Voraussetzung für berufliches Handeln am deutlichsten. Dabei werden Aspekte wie Berufsmoral, berufsethische Ordnungsprinzipien, berufsethische Tugendkataloge diskutiert und schließlich der anthroposophische Ansatz einer Tugendlehre und -ordnung angeführt. Theoretische Bezüge sind hier – neben Steiner - Ansätze von Gröschke, Theunissen und Häussler.

Der vierte Teil geht auf die Intention in der Begegnung ein. Damit geht es also (immer noch) um die Voraussetzungen vor der beruflichen Handlung, die aber der Themenstellung der Arbeit entsprechend ausreichend und umfassend diskutiert werden. Besonders spielen dabei Fragen von Nähe, aber auch Grenzen der Beziehungsgestaltung eine Rolle sowie die jeweilige Subjektivität. Diese Subjektivität bezieht sich auf den beruflich Handelnden wie auch auf die Erfahrung des Anderen als Gegenüber. Neben Flosdorf und Köhn sowie Moor und Haeberlin als theoretische Referenzen wird auch hier der anthroposophische Ansatz herangezogen. Dabei geht es um die Überwindung der normalerweise vorhandenen Asymmetrien der Beziehung, die nach Steiner durch eine symmetrische und symmetrisierende Intention gelingen kann. „Im Mittelpunkt seiner (Steiners) Anthropologie steht die bewusste Selbstlenkung, die aus der subjektiven Befangenheit zu einer individuellen Freiheit emporstrebt. Nach ihm besteht die Individualisierung gerade in der Subjekt-Begleitung, bei der die Herrschaft der subjektiven Einstellungen in eine Dienstbarkeit gewandelt wird zugunsten einer liebenden Zuwendung zum Anderen“ (S. 191).

Im fünften Teil geht es um die Selbst-Begleitung in der Wechselbeziehung. Dabei geht es um die Reflexion der eigenen Person wie des Handelns, was hier mit dem Begriff und den Methoden des Selbstmanagements untersetzt wird. Dazu werden Beispiele von Methoden des Selbstmanagements angeführt: Gentle teaching, Validation, gewaltfreie Kommunikation sowie Theorie der Präsenz und der anthroposophische Ansatz des Prinzips der Mitte in Verbindung mit Meditation.

Das sechste Kapitel thematisiert die Verantwortung des beruflich Handelnden für die Situation, geht also auch auf den Kontext des Handels ein und fragt nicht nur nach der Interaktion. Dabei geht es auch um die Konkretisierung der Begegnung, sowohl auf verbaler wie auch nonverbaler Ebene wie auch die Wahrnehmung des Gegenübers aufgrund der verschiedenen Möglichkeiten der Beziehungsgestaltung. Aus der Steinerschen Lehre werden die Intuition sowie das Gewissen als erweiternde Kategorie angeführt.

Im siebten Teil geht es einerseits um eine Art Resümee, aber auch um eine Rechtfertigung, warum dieser Arbeit ein geisteswissenschaftlicher Ansatz zugrunde liegt und warum dieser heute in der Behindertenhilfe von großer Relevanz ist, gerade gegenüber den empirischen Ansätzen, die ergebnisorientiert eine vermeintliche Wirkung abbilden können. Dabei geht es dem Verfasser nicht um das Antinomische, sondern um eine Betonung der menschenorientierten Berufspraxis, die sich nicht objektivieren lässt, wenn sie die Menschen in den begleitenden Beziehungen als Gegenüber und nicht als Gegenstand von Arbeit sieht.

Diskussion

Das Buch ist mindestens eine gute, gegenwärtige Bestandsaufnahme der Diskussionen zu Berufsethik im Kontext der Behindertenhilfe. Gekonnt und umfassend greift der Verfasser die verschiedenen theoretischen Entwicklungen auf, diskutiert diese im Hinblick auf ihre Relevanz (die nicht nur historisch zu sehen ist, sondern heute noch bedeutsam ist) und fügt dann jeweils eine anthroposophische Erweiterung/ Ergänzung an. Jeder Teil des Buches hat eine Zusammenfassung am Ende der umfangreichen Kapitel, wobei es nicht um eine Diskussion eines Für und Wider geht, sondern um neue Aspekte bzw. eine Erweiterung der bestehenden Ansätze.

Was das Buch auszeichnet ist die systematische, gute Darstellung und der Aufbau der einzelnen Kapitel. Auch wenn der Verfasser es nicht darauf angelegt hat, die verschiedenen Ansätze vergleichend im Sinne eines Forschungsansatzes darzustellen, so kann sich der Leser anhand der gewählten Systematik gute Übersichten verschaffen. Auch ist der Bogen, den das Buch abdeckt, gut gelungen, denn es fragt sowohl nach den individuellen Voraussetzungen der Person und der Profession als auch nach der Handlung und ihrer Intention, gebunden an die jeweiligen Personen. Schwierig wird der anthroposophische Einbezug (nach Meinung des Rezensenten) ab Kapitel 4, denn anthroposophisch unerfahrene bzw. ungeübte Leser sind auf einmal mit Gedanken konfrontiert, die nicht einfach nachzuvollziehen sind und leicht als spekulative Aussagen abgetan werden können, da sie spirituell-theologisch zu verorten sind.

Erfreulich ist das engagierte Eintreten des Verfassers für die Betonung einer personenorientierten Behindertenhilfe, die im Wesentlichen auf einer subjektiven Beziehungsgestaltung beruht und darauf und daraus ihre Professionalität bezieht. Daher ist die Betonung des geisteswissenschaftlichen Ansatzes richtig und notwendig. Auch ist der Blick des Buches erfreulich weit, denn es werden sowohl die deutschen als auch die schweizerischen wie auch die (hierzulande wenig bekannten) holländischen Ansätze dargestellt und diskutiert.

Fazit

Das Buch ist für alle Menschen gut geeignet, die ihren berufsethischen Horizont erweitern wollen und ebenso für diejenigen, die eine gute Darstellung des gegenwärtigen Diskussionsstandes zur Berufsethik in der Behindertenhilfe lesen möchten. Dabei ist es auch nicht wichtig, ein „Sympathisant der Anthroposophie“ zu sein, aber man kann und darf sich gerne dazu einladen lassen. Es ist dem Verfasser Recht zu geben, wenn er anführt, dass Steiner eine anthroposophische Heilpädagogik entworfen hat, die durchaus an die Professionalitätsdiskussion anschlussfähig ist, weshalb er sich immer wieder darauf beruft. Das bedeutet aber nicht ein einseitiges Plädoyer für die Anthroposophie. Als Leser entscheide ich selber, wie weit ich dem (und anderen Ansätzen) folgen möchte und kann – dafür bietet das Buch genug Ansatzpunkte.

Rezension von
Prof. Stefan Müller-Teusler
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Es gibt 82 Rezensionen von Stefan Müller-Teusler.

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Zitiervorschlag
Stefan Müller-Teusler. Rezension vom 23.01.2013 zu: Pim Blomaard: Beziehungsgestaltung in der Begleitung von Menschen mit Behinderungen. Aspekte zur Berufsethik der Heilpädagogik und Sozialtherapie. Athena-Verlag e.K. (Oberhausen) 2012. ISBN 978-3-89896-494-4. Reihe: Edition Anthropos. Heilpädagogik und Sozialtherapie aus anthroposophischen Perspektiven. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13737.php, Datum des Zugriffs 21.03.2023.


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