Birgit Bütow, Chantal Munsch (Hrsg.): Soziale Arbeit und Geschlecht
Rezensiert von Prof. Dr. Gudrun Maierhof, 16.06.2014

Birgit Bütow, Chantal Munsch (Hrsg.): Soziale Arbeit und Geschlecht. Herausforderungen jenseits von Universalisierung und Essentialisierung.
Verlag Westfälisches Dampfboot
(Münster) 2012.
291 Seiten.
ISBN 978-3-89691-234-3.
D: 29,90 EUR,
A: 30,80 EUR.
Reihe: Forum Frauen- und Geschlechterforschung - Band 34.
Thema
Ziel des vorliegenden Sammelbandes ist die theoretische Reflexion um Geschlecht, Diversity und Intersektionalität in der Sozialen Arbeit und ein Plädoyer für eine differenzsensible reflexive Soziale Arbeit. Es geht den Autor_innen um das Aufzeigen von Zusammenhängen von sozialer Differenz auf der einen und sozialer Ungleichheitserfahrung auf der anderen Seite. Da immer noch davon auszugehen ist, dass theoretische Diskurse in der Sozialen Arbeit das Merkmal Geschlecht und soziale Differenzen ausblenden bzw. mitunter auch fokussieren, bietet dieser Sammelband eine profunde Übersicht über ein brisantes und aktuelles Thema. Die Autorinnen und Autoren analysieren aus verschiedenen Perspektiven das komplexe Verhältnis zwischen Marginalisierung und Fokussierung von Differenzen und zeigen überdies die Auswirkungen auf die praktische Soziale Arbeit auf.
Herausgeberinnen
Die beiden Herausgeberinnen sind Birgit Bütow und Chantal Munsch. Birgit Bütow, Dr. habil., Soziologin und Sozialpädagogin, ist Professorin für Sozialpädagogik, Beratung und Intervention an der Universität Salzburg, vorher Universität Jena. Chantal Munsch, Dr. habil., ist Professorin an der Fakultät Erziehungswissenschaften der Universität Siegen mit den Arbeitsschwerpunkten Diversity, Migration, Bürgerschaftliches Engagement und Zivilgesellschaft, Erziehungshilfen, Sozialpädagogische Ethnografie und Praxisforschung. Erschienen ist der Sammelband in der Schriftenreihe der Sektion Frauen- und Geschlechterforschung in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
Aufbau
In dem Sammelband sind neben den beiden Herausgeberinnen insgesamt 16 Autorinnen und Autoren vertreten.
Nach der Einleitung, in der die beiden Herausgeberinnen drei Trends im Hinblick auf die Reflexion und praktische Bedeutung von Geschlecht darlegen, – die historische Dimension, Ausblendung der Ansätze sowie Essentialisierung versus Reflexion von sozialen Differenzen, – folgen drei Hauptteile. In dem ersten Hauptteil werden die Geschlechterdiskurse im Kontext von Intersektionalität aufgezeigt, in einem zweiten die Allgemeingültigkeit diverser Konzepte der Sozialen Arbeit skizziert und in einem dritten Hauptteil ausgewählte Handlungsansätze wiedergegeben.
Diese drei Hauptteile stehen stellvertretend für drei zentrale Ebenen in der Auseinandersetzung um Theorie und Praxis im Geschlechterdiskurs: Zum einen geht es um die Darlegung von Diskussionslinien um Intersektionalität (auch im historischen Kontext), zum andern um die kritische Überprüfung zentraler theoretischer Ansätze in der Sozialen Arbeit hinsichtlich ihrer Kontextualisierung der Kategorie Geschlecht und zum Dritten um die Skizzierung der praktischen Ebene, auch im Sinne von Beispielen einer differenzsensiblen Sozialen Arbeit.
Inhalt
Die Einleitung beginnt mit der Darlegung von drei Trends in der theoretischen Reflexion und der praktischen Bedeutung von Geschlecht:
- Geschlechtsspezifische bzw. genderdifferente Ansätze haben in der Theorie und Praxis Sozialer Arbeit eine lange Tradition mit sehr verschiedenen Ausprägungen und Diskurslinien.
- Genderdifferente Ansätze werden partiell ausgeblendet, soziale Differenzen werden marginalisiert, beispielsweise in der Sozialraum- und Wirkungsorientierung.
- Differenzen werden essentialisiert und nicht im Sinne von Intersektionalität oder Diversity reflektiert und dekonstruiert.
Nach Meinung der beiden Autorinnen finde Universalisierung und Essentialisierung im Sinne einer Fokussierung auf bestimmte Gruppen mit spezifischen Bedarfen statt, so etwa in der interkulturellen Mädchenarbeit. Damit beschreiben sie bereits auf den ersten Seiten des Sammelbandes zentrale Thesen und Spannungsfelder um Geschlecht und Diversity in der Sozialen Arbeit. Überzeugend daran ist der dezidiert kritische Blick auf die Essentialisierung in den Diskursen, wie dies etwa in der Jungenarbeit auszumachen ist. Des Weiteren wird die Resistenz von Kernbegriffen und Kernkonzepten gegenüber der Differenzkategorie beklagt und dargelegt, in welcher Weise soziale Differenz und Ungleichheit in Feldern der Sozialen Arbeit reproduziert wird. Dafür liefern einzelne Beiträge in diesem Sammelband markante Beispiele, so etwa Gerd Stecklina. Die Schlussfolgerung der beiden Herausgeberinnen lautet daher, differenzsensible Ansätze, die per se nicht frei von der Reproduktion sozialer Differenzen sind, stets kritisch zu reflektieren.
Im ersten Hauptteil beschreiben vier Autorinnen unterschiedliche Geschlechterdiskurse im Hinblick auf Intersektionalität: Birgit Althans arbeitet die Diskurse aus historischer Perspektive heraus, etwa Rousseau, Pestalozzi, Jane Addams und Alice Salomon usw. Christine Riegel thematisiert die Dimension von Intersektionalität in der Sozialen Arbeit im Allgemeinen, Patricia Baquero Torres beschäftigt sich mit der Dimension von Geschlecht und Migration und Sabine Toppe stellt einen Zusammenhang von Armut und Gender her.
Im zweiten Hauptteil werden Konzepte Sozialer Arbeit kritisch hinsichtlich der Dimension von Geschlecht hinterfragt: Mechthild Bereswill und Gudrun Ehlert arbeiten das Verhältnis von Profession und Geschlecht heraus, Gerd Stecklina untersucht die Geschlechterdimension in der Lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und stellt eine „Geschlechterblindheit“ fest. Sandra Landhäußer begibt sich auf die Spurensuche von Genderkategorien in Sozialräumlichen Ansätzen. Birgit Bütow fragt nach der Dimension von Gender im Kontext von Bildungs-Diskursen und Clarissa Rudolph stellt in ihrem Beitrag das Prinzip der Aktivierung und Gender in den Fokus. Dieser Hauptteil endet mit einem Beitrag von Juliane Lamprecht zu Diskursen über Gender in der Jugendhilfe.
Im dritten Hauptteil werden diverse Handlungsansätze in der Sozialen Arbeit vorgestellt: Melanie Plößer betrachtet die Praxis der Beratung durch die Genderbrille, Lotte Rose setzt sich mit Gesundheitsprogrammen und doing diversity-Konzepten am Beispiel von der Ernährungserziehung auseinander, Maureen Maisha Eggers plädiert für eine von Diversität geprägte Arbeit der feministischen Mädchen- und der kritischen Jungenarbeit, Michael May stellt Überlegungen zur Jungenarbeit an und entwirft neue Perspektiven und Luise Hartwig setzt sich mit Gender und Familiarisierung in der Jugendhilfe auseinander. Schließlich beschäftigt sich Kim-Patrick Sabla mit der Frage nach der Sozialen Arbeit mit Vätern.
Diskussion
Auf 290 Seiten bieten die Autor_innen einen sehr guten Überblick über die theoretische Reflexion und praktische Bedeutung von Geschlecht in der Sozialen Arbeit. Sie verbinden in überzeugender Weise Diskurse um Soziale Arbeit und Geschlecht, Analysen der Konzepte und Handlungsansätze miteinander. Das Buch ist gut strukturiert und folgt einer nachvollziehbaren Logik. Die Darstellung bzw. Bestandsaufnahme eröffnet einen kritischen Blick auf die Thematik, und die best-practice-Beispiele im dritten Hauptteil geben eine erste Orientierung im praktischen Handeln. Allerdings ist hier kritisch anzumerken, dass die Autor_innen in den dargestellten Handlungsfeldern von der Kategorie Gender aus argumentieren und nicht – wie in der Praxis der Sozialen Arbeit – vom Fall ausgehen. Bei letzterem würde die „Genderbrille“ nicht im Sinne einer Kategorie angewandt, sondern als ein heuristischer Erklärungsansatz miteinbezogen.
Fazit
Alles in allem handelt es sich um einen fundierten Sammelband zum Thema „Geschlecht und Soziale Arbeit“, der trotz der leisen Kritik zu einem Standard-Werk avancieren könnte. In jedem Falle ist dem Buch eine weite Verbreitung zu wünschen. Zudem bleibt zu hoffen, dass in einem Folgeband weitere Handlungsperspektiven einer differenzsensiblen und kritischen Sozialen Arbeit – auch vom Fall ausgehend – vorgestellt würden.
Rezension von
Prof. Dr. Gudrun Maierhof
Professorin für Methoden und Geschichte der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit mit dem Schwerpunkt Soziale Arbeit mit Gruppen und pädagogischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, Gruppenanalytikerin, Seminar für Gruppenanalyse Zürich, Mitglied D3G.
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