Katinka Schweizer, Hertha Richter-App (Hrsg.): Intersexualität kontrovers
Rezensiert von Dr. phil. Joris A. Gregor, 26.02.2013

Katinka Schweizer, Hertha Richter-App (Hrsg.): Intersexualität kontrovers. Grundlagen, Erfahrungen, Positionen.
Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG
(Gießen) 2012.
524 Seiten.
ISBN 978-3-8379-2188-5.
D: 39,90 EUR,
A: 41,10 EUR,
CH: 53,90 sFr.
Reihe: Beiträge zur Sexualforschung - Band 96.
Vorbemerkung zum Verständnis der Rezension
Für die Lektüre der Rezension mögen folgende Hinweise für die Leser_innen hilfreich sein:
- Ich habe mich für die Verwendung des gender gap, also des Unterstriches zu Vergeschlechtlichung der Sprache entschieden. Das gender gap schafft einen Raum zwischen den gültigen (grammatischen) Geschlechtern und macht so auch jene Geschlechter sichtbar, die jenseits oder zwischen den gesellschaftlich anerkannten männlich-weiblich stehen.
- In dieser Rezension spreche ich von Intergeschlechtlichkeit und grenze diese, verstanden als soziales Phänomen, das es gesellschaftlich als solches anzuerkennen gilt, damit begrifflich von der medizinisch bis 2006 gebräuchlichen Diagnose ‚Intersexualität‘ ab.
Thema
Katinka Schweizer und Hertha Richter-Appelt legen mit „Intersexualität kontrovers“ einen Sammelband vor, der einen Beitrag zur mittlerweile auch in der Öffentlichkeit wahrnehmbaren Debatte um Operationen im Genitalbereich bei intergeschlechtlichen Personen leisten möchte. Die Auseinandersetzung mit jenen (oft frühkindlich erfolgten, damit uneingewilligten und irreversiblen) medizinischen Eingriffen und deren (Un-)Zulässigkeit ist Dreh- und Angelpunkt der Beiträge des Bandes und wird als solcher gleich in den ersten Absätzen der Einführung durch die Herausgeber_innen expliziert. Mit der Veröffentlichung verfolgen sie das Ziel, „Fragen aufzuwerfen, neu zu stellen und damit zu einer weiterführenden Diskussion anzuregen“ (S. 15).
Der Sammelband ist abzüglich des Vorwortes und der Einleitung 26 Beiträge stark und umfasst 500 Seiten. Um einen einigermaßen umfassenden Überblick über den Band zu geben, fällt diese Rezension recht lang aus, bemüht sich aber im Fazit um eine knappe Zusammenfassung der Qualität und des Nutzens dieser Veröffentlichung.
Herausgeber_innen und Autor_innen
Schweizer und Richter-Appelt arbeiten im Rahmen der Forschungsgruppe Sexualität und Geschlecht, zuvor in der Forschungsgruppe Intersexualität (beide assoziiert mit dem Institut für Sexualforschung des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf). Appelt leitet(e) die Projekte, Schweizer war und ist wissenschaftliche Mitarbeiterin.
Neben den Herausgeber_innen sind die Autor_innen des Bandes Mitarbeiter_innen in und an den Projekten, im weiteren Sinne fachlich mit den Herausgeber_innen arbeitende oder vernetzte Personen (zu entnehmen ist beides den im Kollektiv veröffentlichten Artikeln und den Vitae am Ende des Bandes) und zum Thema arbeitende Jurist_innen, Soziolog_innen, Medizinethiker_innen und Philosoph_innen. Es finden sich neben diesen überwiegend (rein) wissenschaftlichen Expertisen lediglich drei Beiträge von Betroffenen oder Angehörigen: ein Beitrag von Eveline Kraus-Kinsky, selbst Ärztin, bei der eine Form von ‚Intersexualität‘ diagnostiziert wurde, und zwei Beiträge von Müttern intergeschlechtlicher Kinder (der eine anonym verfasst, der andere von J.M. Pulvermüller). Diesen Umstand entschuldigen die Herausgeber_innen in der Einleitung, ohne ihn jedoch zu begründen (vgl. S. 16).
Die Schweizer Menschenrechtsorganisation zwischengeschlecht.org hingegen hält deren Bedauern über die nicht gelungene „stärkere Beteiligung von Experten in eigener Sache“ (ebd.) für wenig glaubhaft, da „weder bei Selbsthilfegruppen oder sonstigen Interessevertretungen der Betroffenen noch über entsprechende Mailinglisten je irgendwelche Anfragen zur Mitarbeit“ getätigt worden seien (http://blog.zwischengeschlecht.info/ [20. 02.13]). Bereits an diesem Beispiel zeigt sich die Streitbarkeit des Themas.
Zunächst erscheint es sinnvoll, eine detaillierte Darstellung des Entstehungszusammenhanges dieses Bandes zu formulieren, um die seit wenigen Jahren und aktuell stattfindenden raschen Entwicklungen auf diesem Gebiet, denen auch dieser Sammelband zuzurechnen ist, sichtbar zu machen:
Entstehungshintergrund
Aufgrund eines Parallelberichts der Gruppe Intersexuelle Menschen e.V. stellte der UN-Ausschuss zur Überwachung des internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women – CEDAW) 2009 an die deutsche Bundesregierung die Forderung, in den Dialog mit intergeschlechtlichen Menschen zu treten. Ziel des Dialogs müsse es sein, ein besseres Verständnis für deren Lage und Anliegen zu bekommen. Der Deutsche Ethikrat erhielt daraufhin den Auftrag, eine Stellungnahme zum Thema zu verfassen.
Nach einer Online-Befragung von Betroffenen und dem Einholen von Meinungen wissenschaftlicher Expert_innen (Mai und Juni 2011), einer öffentlichen Anhörung (Juni 2011) und einer Online-Diskussion (Juni bis August 2011) (http://diskurs.ethikrat.org/archiv/ [18.02.13]) wurde die Stellungnahme im Februar 2012 veröffentlicht (www.ethikrat.org/dateien [18.02.13]). Ausgehend von dieser Stellungnahme wurde am 31. Januar 2013 das Personenstandsgesetz (PStG) der Bundesrepublik geändert: Es ist nun möglich, bei der Geburt eines Kindes, dessen Geschlecht nicht eindeutig dem männlichen oder weiblichen zuzuordnen ist, den Eintrag des Geschlechts auszulassen. (Belegt werden kann dies bisher nur mit Bundestagsreden Abgeordneter; das PStG ist bisher online nur in der alten Form zugänglich. [25.02.13])
Neben neueren Artikeln beinhaltet der Sammelband auch Beträge, die im Zuge zweier Hamburger Symposien zum Thema Intersexualität in den Jahren 2006 und 2008 entstanden sind (vgl. S. 15f.). Aus diesem Grund verweisen einige Beiträge noch auf die Entstehung der Stellungnahme, während andere sie bereits mit einbeziehen. Insgesamt ist der Band als ein umfangreicher Beitrag zur Diskussion um den medizinischen, juristischen und gesellschaftlichen Umgang mit Intergeschlechtlichkeit zu betrachten, die letztlich auf die Initiative von intergeschlechtlichen Menschen seit den 1990er Jahren zurückgeht und die seit dem Erscheinen des CEDAW-Parallelberichts 2009 politisch erstmals andauernd auf Bundesebene geführt wird.
Aufbau
Der Sammelband ist nach einem Vorwort von Volkmar Sigusch und der Einführung der Herausgeber_innen sowie einem Abschnitt zu Sprache und Begrifflichkeiten unterteilt in vier Bereiche:
- Grundlagen und Entwicklungslinien
- Individuelle und kollektive Erfahrungen
- Perspektiven und Positionen
- Dialog und Kontroversen
Im Anhang findet sich neben der Informationen zu den Autor_innen eine Liste mit weiterführender Literatur, Filmen und Adressen.
Schweizer und Richter-Appelt folgen mit dieser Einteilung dem „Prinzip der Vielfalt“ (S. 15), indem in den verschiedenen Abschnitten kontrastierende Positionen und Blickwinkel durch „Beiträge[n] verschiedener Diskurse und Disziplinen“ (ebd.) einen möglichst kontrastreichen Überblick bieten sollen.
Systematisierung des Inhalts
Im Folgenden hingegen werde ich, nicht zuletzt motiviert durch die nötige Eingrenzung des Darzustellenden, eine andere Ordnung vornehmen: Ich möchte in zugespitzter Weise den von Kathrin Zehnder und Jürg Streuli im Band diskutierten „Kampf der Diskurse“ skizzieren: Die Autor_innen plädieren für eine interdisziplinäre Verständigung, die eine gemeinsame Sprache und Begriffe benötigt und analysieren die Entstehung verschiedener Konflikte. Sie identifizieren dabei
- eine Kluft zwischen medizinischem und feministischem/geschlechtertheoretischem Diskurs in der Art des Zugangs zum Thema,
- den Streit zwischen intergeschlechtlichen Menschen und Medizin um das Expert_innentum (Expert_innentum in eigener Sache vs. Pathologisierung/Normalisierung),
- den Streit um die Vertretungshoheit der Interessen (Konflikte und Unklarheiten innerhalb des vielgestaltigen Feldes des „Intersex-Aktivismus“ (S. 401) ebenso wie im Streit um die Vertretung/Entscheidung über minderjährige/r Betroffene/r);
- Unverständnis bei der Zielsetzung (Autonomie und Copingfähigkeit der Betroffenen vs. Handeln der Eltern und Medizin unter Berufung auf die Interessen der Betroffenen) und
- das Unverständnis bei Begrifflichkeiten (Selbstbezeichnung intergeschlechtlicher Menschen vs. medizinische/pathologisierende Begriffe).
Es werden hier deshalb, ausgehend von dieser Analyse, die Beiträge der Jurist_innen (Konstanze Plett, Oliver Tolmein und Angela Kolbe) kurz dargestellt und zusammengefasst und der Beitrag von Ilka Quindeau vorgestellt. Anschließend findet eine Zusammenschau jener drei oben benannten Beiträge statt, die sich nur bedingt und stark vereinfacht unter ‚Beiträge von Betroffenen und ihren Angehörigen‘ zusammenfassen lassen. Den Abschluss der inhaltlichen Darstellung bildet der Aufsatz des Philosophen Michael Groneberg, der „Empfehlungen zum Umgang mit Zwischengeschlechtlichkeit“ formuliert. Damit verfolgt diese Rezension die sicher kontrovers zu betrachtende Absicht, insbesondere jene Beiträge zu Wort kommen zu lassen, die sich kritisch zur hegemonialen Deutungsmacht und Praxis der Medizin über Intergeschlechtlichkeit äußern. In der anschließenden Diskussion werden die Perspektive der medizinischen Beiträge systematisiert analysiert und jene unter Mitarbeit der Herausgeber_innen entstandenen empirisch-psychologischen Beiträge kurz evaluiert.
Die Beiträge von Konstanze Plett und Angela Kolbe haben eine ähnliche Stoßrichtung: Beide setzen sich kritisch mit der Zweigeschlechtlichkeit des deutschen Rechtssystems auseinander. Während Plett einen historischen und geschlechtertheoretischen Blick auf die Geschlechtlichkeit des Rechts wirft, expliziert Kolbe Möglichkeiten und Grenzen von Politik und Gesetz(gebung), die Lebenssituation von intergeschlechtlichen Menschen in Deutschland zu verbessern. Konstanze Plett stellt heraus, dass die Möglichkeit der Infragestellung der kulturellen Zweigeschlechtlichkeit „weiterhin fast nur in den Gender Studies problematisiert [wird]“ (S. 135), das Recht hingegen unter Bezugnahme auf das Personenstandsgesetz weiterhin von zwei - und nur zwei – Geschlechtern ausgeht, ohne diesen Umstand rechtlich untermauern zu können. Sie erörtert letztlich mit dem Beitrag die juristische Möglichkeit, von einer rechtlichen Festschreibung der Zweigeschlechtlichkeit abzukommen. Die ersten Schritte in diese Richtung, die mit der Änderung des PStG (s.o.) gemacht wurden, dürften damit in ihrem Sinne sein. Angela Kolbe befasst sich in ihrem Beitrag mit der gegenwärtigen Rechtslage für intergeschlechtliche Menschen in Deutschland: Sie widerspricht einer rechtlichen Legitimation der Operationen im Genitalbereich bei Kindern, stellt diese als „schwerwiegende Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit der Kinder“ (S. 420) heraus und hinterfragt die Rechtsnormen des PStG. Kolbe lieferte damit eine (in ihrer Dissertation von 2010 erstmals formulierte) detaillierte Begründung für die aktuelle Änderung. Oliver Tolmein gewährt in seinem Beitrag einen Blick in die anwaltliche Praxis mit intergeschlechtlichen Personen. Er stellt in der Konklusion heraus, das viele juristische Auseinandersetzungen für intergeschlechtliche Personen „nachteilig geprägt“ (S. 183) seien, weil es keine rechtliche Kategorie für sie gibt. Alle Beiträge kritisieren das mittlerweile zumindest ‚in Bewegung geratene‘ PStG – ihre Forderungen gehen jedoch über die geschaffene Möglichkeit der Auslassung des Geschlechtseintrages bei der Geburt hinaus. Eine Streichung von Geschlecht aus dem Recht hätte, so zeigt insbesondere Plett, weitreichende Folgen für das deutsche Rechtssystem.
Ilka Quindeau liefert mit ihrem Beitrag eine konstruktive Kritik der „inzwischen seit mehr als 40 Jahren im Mainstream der Psychoanalyse verankerte[n] Theorie von Robert Stoller“ (S. 121) – auf die übrigens auch Schweizer und Richer-Appelt wiederholt Bezug nehmen. Sie stellt eine Entwicklung der (von Stoller herangezogenen) konstitutionellen Bisexualität Sigmund Freuds vor, die den „Raum für eine Vielfalt der Geschlechter öffnet“ (ebd.), indem sie Geschlecht als strukturelle Kategorie analysiert (beispielhaft an der Aussage „Es ist ein Mädchen/Junge“ und deren Folgen und Herausforderungen für das Neugeborene). Sie plädiert für eine psychoanalytische Perspektive, die das Geschlecht eines Menschen im Sinne Freuds wieder als „Mischungsverhältnis“ (S. 129) sieht und betont, dass die Zuweisung eines Geschlechts schwerwiegendere Folgen für intergeschlechtliche Kinder hat, als keine Geschlechtszuweisung vorzunehmen. Quindeau legt damit eine kritische Auseinandersetzung mit Stollers Theorem auf Intergeschlechtlichkeit vor, um anschließend eine alternative Lesart Freuds zu skizzieren. Quindeau rehabilitiert insbesondere Freuds Blick auf das ‚Andere‘ als Ausdruck der Vielfalt und setzt so den durch Stollers Theorie beeinflussten pathologisierenden medizinischen Blick einen theoretischen Konzeptentwurf entgegen, auf dessen Ausformulierung (und eine starke Rezeption in der Medizin) zu hoffen bleibt.
Eveline Kraus-Kinsky sowie J.M. Pulvermüller und eine weitere Mutter stellen die Positionen jener Personen dar, um die sich die Auseinandersetzungen der Expertisen drehen: Die Perspektive intergeschlechtlicher Personen einerseits, und die Perspektive von Eltern intergeschlechtlicher Kinder andererseits. Alle Beiträge plädieren für eine stärkere Orientierung an der Perspektive der betroffenen Personen und machen intergeschlechtliche Personen so zu Expert_innen in eigener Sache. Kraus-Kinsky schildert Behandlungserfahrungen und Erfahrungen mit der Debatte um Intergeschlechtlichkeit, um abschließend ihre Schlussfolgerungen vorzustellen, die insbesondere eines verdeutlichen: „ein hundertprozentiges Richtig oder Falsch wird es beim Thema Intersexualität nie geben“ (S. 173). Kraus-Kinsky setzt sich insbesondere für eine umfassende wie sensible Aufklärung von Eltern wie Betroffenen ein. Die Berichte der beiden zu Wort kommenden Mütter dokumentieren die Wege zweier hochreflektierter und auf die Perspektive ihres Kindes bedachter Elternteile und verdeutlichen, welch intensive Auseinandersetzung mit der Geburt eines intergeschlechtlichen Kindes einsetzt. Erhellend wären zudem Sichtweisen von Vätern ebenso wie die von Eltern gewesen, die sich für eine Operation ihres Kindes entschieden haben.
So bedauerlich die dürftige und damit unterkomplexe Repräsentation der Betroffenen ist, so deutlich stellt Michael Groneberg im letzten Beitrag mit seinen „Empfehlungen zum Umgang mit Zwischengeschlechtlichkeit“ (S. 485ff.) die Notwendigkeit der Fokussierung auf die Bedürfnisse und Wünsche intergeschlechtlicher Menschen (und nicht die der Eltern, Mediziner_innen oder des sozialen Umfelds) heraus. Ende des Bandes steht damit eine Position, die sich kompromisslos für die Einhaltung des Menschenrechts auf körperliche Unversehrtheit einsetzt und sich entschieden gegen die Stoßrichtung diverser Beiträge im Band wendet:
„Zu fragen, welche spezifischen Eingriffe zur Geschlechtsanpassung zu vermeiden sind, folgt der falschen Logik. Vielmehr gilt: Kein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit eines Kindes zum Zweck der Geschlechtsanpassung oder -zuweisung ist erlaubt. Ausnahmen wie die Abwendung von Gefahr für Leib und Leben sind klar zu regeln und zum Teil bereits geregelt. Maßnahmen, die die Veränderung des anatomischen Geschlechts bezwecken, gehören nicht dazu.“ (S. 498)
Ergänzende Diskussion
Michel Foucault stellt in seiner Untersuchung „Die Geburt der Klinik“ (1988) heraus, dass sich speziell der (schul-)medizinische Diskurs als nahezu in sich geschlossener, sich selbst regulierender und erhaltender hervortut: Die Grenzen des Diskurses werden intern streng kontrolliert und nach außen über verschiedene Mechanismen abgeschirmt. So gelten beispielsweise strenge Regeln zur Initiation des Nachwuchses, es wird eine schwer zugängliche Fachsprache verwendet (s. exemplarisch: Holterhus sowie Prange-Kiel/Rune im Band) oder durch das Postulat der ausschließlichen Kompetenz werden Expertisen in eigener Sache aberkannt (s. exemplarisch Martin Westenfelder im Online-Diskurs: http://diskurs.ethikrat.org). Alle im Band beitragenden Mediziner_innen (ob aus Europa oder Australien) stellen die Operationen an intergeschlechtlichen Personen trotz entsprechender öffentlicher Kritik der Betroffenen nicht grundlegend in Frage, sondern zielen auf die Verbesserung der Patient_innenberatung und der bisherigen Techniken für Genitaloperationen ab. Die Fokussierung auf den Körper als Konstituens von Geschlecht und die Annahme von Gesundheit bei einer ausschließlich entweder männlichen oder weiblichen geschlechtlichen Ausprägung, auf die ein heterosexuelles Begehren mit entsprechenden Sexualpraktiken zu erfolgen hat (vgl. etwa Warne im Band, S.297), ermöglicht die Pathologisierung aller Erscheinungen jenseits dieser heteronormativen Logik (so auch von Kathrin Zehnder in ihrer Dissertation „Zwitter beim Namen nennen“ (2010) diskursanalytisch nachgezeichnet).
Die Beiträge mit und/oder von den Herausgeber_innen fokussieren zwar sozialpsychologische Aspekte, neigen aber zu einer von Zehnder und Streuli als unzureichende Repräsentation intergeschlechtlicher Positionen kritisierten Quantifizierung. Problematisch wie charakteristisch ist meines Erachtens in einem Bericht die Formulierung, intergeschlechtliche Erwachsene ‚nähmen Stellung‘ (vgl. Handford et al. im Band), ohne dass eine betreffende Person selbst zu Wort kommt. Dennoch stellen sie Ergebnisse vor, die die medizinische Herangehensweise in ihrer bisherigen Form in Zweifel zu ziehen geneigt ist.
Fazit
Alles in allem kann dieser umfangreiche Sammelband meistenteils als Einstiegs-Lektüre in das komplexe Thema Intergeschlechtlichkeit dienen. Einer umfassend geführten kontroversen Debatte mangelt er jedoch schon aufgrund der Auswahl der Autor_innen: An 9 von 26 Beiträgen sind die Herausgeber_innen (allein, zu zweit oder im Autor_innenkollektiv) selbst beteiligt, zwei weitere sind von Personen aus ihrem unmittelbaren wissenschaftlichen Umfeld verfasst (dem Hamburger Klinikum oder gedankten Unterstützer_innen ihrer Projekte; vgl. S. 202). So entstand beim Sichten des Inhaltsverzeichnisses, des Personenregisters und der oben belegten Danksagung der Herausgeber_innen der erste Eindruck, es handele sich in weiten Teilen um als Sammelband getarnte Sammlung von Berichten aus den Forschungsprojekten der Herausgeber_innen. Zwar stellen die Beiträge der Jurist_innen und Psychoanalytiker_innen eine Kontroverse bereit und zerstreuen so diesen anfänglichen Verdacht. Zudem wird mit den eher soziologisch orientierten Beiträgen von Streuli und Zehnder die eigentliche Komplexität und Vielfalt in der Debatte auf metatheoretischer Ebene durchaus deutlich. Die Auswahl der Beiträge aus Sicht von Betroffenen und Angehörigen fällt jedoch recht einseitig aus (s.o.). Eine tatsächliche Kontroverse hätten die Herausgeber_innen sicherlich bereitgestellt, wäre etwa die zu Beginn genannte Initiative zwischengeschlecht.org zu Wort gekommen. Stimmt deren Aussage, es habe keine expliziten Anfragen an Initiativen intergeschlechtlicher Menschen gegeben, ist dieses Vorgehen mit Blick auf das geäußerte Bedauern scharf zu kritisieren.
Die/der weiterführend interessierte Leser_in sollte für einen differenzierten Überblick über das Thema und dessen Diskussion die Lektüre erstens um weitere, durchaus auch untereinander kontroverse Betroffenenperspektiven und zweitens um kritische medizinische wie biologische Betrachtungen zur Entstehung von Geschlecht, wie beispielsweise in jüngster Zeit Heinz-Jürgen Voß sie mehrfach publiziert hat (2010 und 2012; zu finden unter www.heinzjuergenvoss.de [19.02.13]), ergänzen. Das Fehlen letzterer ist mit dem Postulat der kontroversen und vielfältigen Auseinandersetzung mit dem Thema nur schwer zu vereinbaren, stellen solche Überlegungen doch die Prämisse einer biologisch begründbaren Zweigeschlechtlichkeit, welche die Grundlage aller im Band vertretenen medizinischen Expertisen ist, in Frage. Auch weitere geistes- und sozialwissenschaftlich ausgerichtete Auseinandersetzungen (bspw. der Soziologie, Pädagogik oder Philosophie) bieten differenzierende Perspektiven an.
Rezension von
Dr. phil. Joris A. Gregor
Institut für Soziologie der FSU Jena
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