Michael May: Jugendliche in der Provinz
Rezensiert von Prof. Dr. Maria Bitzan, 25.07.2012

Michael May: Jugendliche in der Provinz. Ihre Sozialräume, Probleme und Interessen als Herausforderung an die soziale Arbeit.
Verlag Barbara Budrich GmbH
(Opladen, Berlin, Toronto) 2011.
165 Seiten.
ISBN 978-3-86649-335-3.
D: 19,90 EUR,
A: 25,60 EUR,
CH: 41,90 sFr.
Reihe: Beiträge zur Sozialraumforschung - Band 5.
Entstehungshintergrund
Die vorliegende theoretisch ambitioniert unterfütterte und methodologisch reflektierte Studie wurde im Kontext der Bedarfsermittlung in der Jugendhilfeplanung des Rheingau-Taunus-Kreises durchgeführt. Im Rahmen des 2006 gegründeten lokalen Bündnisses für Familie wurde das Ziel erklärt, möglichst viel von den Jugendlichen im Landkreis und ihren elementaren Bedürfnissen zu erfahren. Mit einer qualitativen, nicht repräsentativen Jugendstudie – als Ergänzung zu einer repräsentativen quantitativen Befragung - sollten Menschen eingebunden werden, die unmittelbar mit den Jugendlichen in ihren Cliquen, inmitten ihrer Lebenswelt vor Ort kommunizieren.
Mit dem Fachbereich Sozialwesen der Hochschule RheinMain, konnte – so die Verantwortlichen vor Ort – „ein kompetenter Partner gewonnen werden, der zwei wichtige Anforderungen erfüllte:
- Über junge Studierende als Mitwirkende zu verfügen, die sich altersmäßig nicht weit von den Jugendlichen entfernt bewegen.
- Eine theoretisch fundiert angelegte und wissenschaftlich begleitete Projektarbeit leisten zu können.“
Die Jugenddezernentin des Landkreises bewertet in ihrem Nachwort die vorliegende Studie als „ein Glücksfall für die Region und ein wichtiger Schritt für die Zukunftsplanung unseres familienfreundlichen Landkreises,“ (S. 151) die Studie stelle eine „Pionierarbeit für die Jugendhilfeplanung im Rheingau-Taunus-Kreis“ dar.
Thema
Was wurde getan? In einem – „unter anderem auch aus Gründen der Mittelknappheit“ (S. 74) – Lehrforschungsprojekt (immerhin 4semestrig) mit Studierenden des Bachelorstudiengangs „Soziale Arbeit“ wurde eine Bedarfserhebung als Beteiligungsprojekt mit Jugendlichen aus spezifisch ausgewählten Szenen aus unterschiedlichen Orten im Landkreis in mehreren Schritten durchgeführt:
Aus Ortskenntnissen und Ortsbegehungen sowie Befragungen von Schlüsselpersonen wurde für den jeweiligen Untersuchungsort ein sogenanntes „Cliquen- und Szenenkataster““ (S. 74) erstellt, 2 Planungswerkstätten (in Anlehnung an Zukunftswerkstätten) mit Jugendlichen unterschiedlicher Cliquen durchgeführt (bzw. der Versuch dazu gestartet) und 5 verschiedene Lebenswelterkundungen von Cliquen/Szenen aus verschiedenen Orten des Landkreises gestaltet durch teilnehmende Beobachtung, kommunikative Problemanalysen mit den Jugendlichen und gemeinsam erarbeitete Dokumentation von Ergebnissen. Diese wurden in der AG Jugendbeteiligung vorgestellt und stehen nun der örtlichen Jugendhilfeplanung zur Umsetzung zur Verfügung. Zusätzlich wurden die Ergebnisse in Rückkoppelungsdiskussionen mit den Jugendliche validiert und ihnen selbst damit nochmals verfügbar gemacht.
Die vorliegende Publikation ist somit Teil einer kommunalen Jugendberichterstattung. Darüber hinaus aber beinhaltet sie eingehende Auseinandersetzungen mit den theoretischen Hintergründen des wissenschaftlichen Diskurses über jugendliche Interessenlagen in der Provinz sowie mit methodologischen Überlegungen zu deren Erforschung.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in drei große Teile.
Zunächst werden theoretische Diskurse zum Themenbereich „Jugendliche in der Provinz“ mit ihren jeweilig gewählten Forschungsansätzen kritisch diskutiert und daran anschließend Ansätze des zentralen theoretischen Bezugsrahmens zu den „raumbezogenen Interessen“ Jugendlicher in der Provinz entwickelt.
Der zweite Teil spannt weiträumig die methodologischen Grundlagen des Forschungsprojekts auf. Dabei bezieht sich der Autor ganz wesentlich auf seine früheren (Mit)Arbeiten, die einerseits bestimmte Zugangsweisen zur Aufschlüsselung der Interessen von Jugendlichen entwickelten und anderseits eine Typologie von Jugendmilieus herausarbeiteten, die auch hier wieder zugrunde gelegt wurde. Hier werden auch die einzelnen Schritte des Forschungsprojekts detaillierter vorgestellt und begründet. Das Projekt kann als Aktionsforschung charakterisiert werden, die sich weitgehend an der dokumentarischen Methode Bohnsacks orientiert und sie erweitert. Damit wird auch deutlich, dass sich das Projekt wesentlich an den möglichen Erkenntnisprozessen der Beteiligten selbst orientierte. „Ziel wäre es, jene sich für die Jugendlichen immer wieder neu stellenden „lebenspraktischen Probleme“ und „Notempfindungen“ (Dewe/Otto 2002: 188) für diese plausibel als ein … Blockierungszusammenhang menschlicher Möglichkeiten „kommunikativ auszulegen, indem soziale Verursachungen rekonstruiert werden“ (ebd.). Damit verbunden ging es auch darum, …„subjektive Handlungsmöglichkeiten zu steigern“ (ebd.). Erste Ansatzpunkte dazu haben die Rückkoppelungsdiskussionen…geliefert.“(85)
Der dritte Teil stellt die Ergebnisse der Studie vor, indem zunächst die Strukturen des Untersuchungsgebiets insbesondere hinsichtlich ihrer Jugend- und Jugendhilfestrukturen vorgestellt werden, sodann die einzelnen Szenen/Cliquen charakterisiert werden und zuletzt nach einer kurzen methodenkritischen Diskussion die Ergebnisse in die wissenschaftlichen Debatten zur Raumaneignung Jugendlicher eingeordnet werden. Mit dieser fachlichen Kommentierung der Ergebnisse liegt ein theoretisch wie praktisch brauchbarer Beitrag zur Einschätzung jugendlicher Bedürfnisse im ländlichen Raum vor, der sich kurz und intensiv auch mit anderen vergleichbaren theoretischen Beiträgen auseinandersetzt. Das Buch schließt mit einer kurzen Bewertung der Sozialdezernentin des Landkreises.
Zum ersten Kapitel
In einem ersten Klärungsschritt diskutiert das 1. Kapitel vorhandene Forschungsansätze zur Situation Jugendlicher im ländlichen Raum vor dem Hintergrund einer analytischen Unterscheidung zwischen Lebenslage und Lebenswelt (Kap. 1.1). Methodisch – wie auch von Seiten der Gegenstandsbestimmung – wird der in den Studien häufig praktizierte Vergleich zwischen Stadt und Land problematisiert. So erstreckt sich doch selbst für die allermeisten der noch auf dem Dorf wohnenden Jugendlichen ihre Lebenswelt auch auf städtische Kontexte. Daher wird der Begriff der „Provinz “ präferiert, dessen traditionell emanzipatorischer Gehalt in einem Exkurs vorgetragen wird. Unter Rückbezug auf Lefebvre und in Kritik an Böhnischs Zwei-Welten-Theorie wird am Provinzbegriff vor allem geschätzt, dass er Raum in mehren Bedeutungen gewärtigen kann – und damit auch Ungleichzeitigkeiten, das heißt auch „nie ganz realisierte, daher bleibend subversive und utopische Gehalte objektiver Ungleichzeitigkeiten in den privaten Beziehungen der Menschen untereinander und zur Natur“ in ihrem Reibungsverhältnis zu den Anforderungen der Unterordnung unter die Gleichzeitigkeit funktional bedeutsamer Strukturen alltäglicher Formalisierung“ (S. 27). Damit könne die Krisenhaftigkeit unserer Gesellschaft, „wie sie Jugendliche aus der Provinz entgegentritt“ (ebd.) besser begriffen werden.
Zum zweiten Kapitel
Da die Studie im Kontext partizipativer Bedarfsermittlung in der Jugendhilfeplanung des Rheingau-Taunus-Kreises durchgeführt wurde, greift das Kapitel 2.1 die entsprechende Debatte zur Bedarfsermittlung in der Jugendhilfeplanung auf. In Überwindung der alten Konflikte zwischen Bedarfs- und Bedürfnisorientierung wird hier der Fokus auf die sozialen und räumlichen Bedingungen gelegt, die Jugendliche brauchen, um ihre spezifischen Bedürfnisse zur Entfaltung zu bringen. In ihrem konkreten Handeln versuchen Jugendliche immer wieder, diesen Rahmen zu bearbeiten als Bearbeitung ihrer Lebenslage – so lässt sich theoretisch auch von „Interesse“ sprechen, das immer einen konkreten Horizont der hier und jetzt erreichbaren Rahmungen anvisiert und darüber hinaus einen weiteren, abstrakteren, eher noch diffusen.
Folgerichtig – und dies wird im folgenden Kapitel 2.2. geklärt, – müssen objektive von subjektiven Relevanzstrukturen unterschieden und die darin liegenden objektiv gesetzten Widersprüche erkannt werden, die nicht immer und nicht in jedem Fall als subjektives Dilemma erscheinen müssen.
Zentraler theoretischer Baustein der Analyse der jugendlichen Interessen ist die Frage nach der Bewusstheit der Relevanzstrukturen. Mit Lefebvre wird hier ein Modell von drei Bewusstseinsschichten eingeführt (und in den praktischen Auswertungen des Materials jeweils angewendet), das Bezug nimmt auf die hegemoniale Einpassung bzw. anders herum auf das Potential, das individuell Mögliche zu erkennen. Die erste Schicht, die „effektivste“, hat kein Bewusstsein der Widersprüchlichkeiten, ist ganz einverstanden mit der instrumentellen Einbindung in die hegemonialen Wege. Demgegenüber führt auf der zweiten Schicht ein unklares „Unbehagen“ gegenüber der Alltäglichkeit zu heftigen Reaktionen und provoziert Antworten, die sich an Strategien von Gruppen orientieren, deren Werte das Individuum am ehesten für sich relevant findet. Es ist eine erste Form von Selbstorientierung. Erst in der dritten Schicht blitzt ein Bewusstsein einer „tieferen Wahrheit“ auf, gewinnt das individuell Mögliche eine momenthafte Kontur. (S.33) Dieses Modell wendet der Verfasser an auf eine emanzipatorische Pädagogik und somit auch auf eine „praktisch einhakende, kritische Sozialforschung als Vermittlung zwischen objektiver und subjektiver Relevanzstruktur. Ausgangspunkt sind die “nahen“ Perspektiven, die situationsbezogenen Bedürfnisse und Interessen, daran anknüpfend können in „mittleren“ Perspektiven „gesellschaftliche Interessensidentitäten“ erkannt werden. Vermittels des daraus abgeleiteten situationsübergreifenden Geltungsanspruchs kann daraus in einer “weiten“ Perspektive zur Teilnahme an der „planmäßigen Entwicklung der Zukunft“ motiviert werden (Bezug Makarenko; hier S. 34). Ein solcher Zugang bietet Umgangsweisen für das in Beteiligungsprojekten mit Jugendlichen immer wieder auftretende Problem, dass sich Jugendliche scheinbar oberflächliche sinnlose Dinge wünschen (mehr Läden, mehr Imbissbuden…), die ohne einen weitergehenden Prozess der mit ihnen zusammen zu erarbeitenden „Übersetzung“ (die ein Problem oder/und ein Interesse herausarbeitet) Partizipation oft ad absurdum führt und unsägliche kommunalpolitische Debatten auslöst.
In Kap 2.3 wird sodann der zweite wichtige theoretische Baustein der Studie erläutert: Der Beitrag der Theorie der Reproduktionskodes für eine solche Analyse. May geht davon aus, dass mit diesem von Phil Cohen (1986) entwickelten Theorem mehr erklärt werden könne als mit Bourdieus Habituskonzept, weil hiermit auch unterschiedliche Deutungen derselben Lebensweise erfasst werden können. Diese Kodes stellen für die Untersuchung eine zentrale Interpretationsfolie jugendlichen Handelns und entsprechend auftretender Probleme.
Das folgende Kapitel 2.4. bezieht diesen theoretischen Diskurs auf die sozialräumlichen Fragestellungen. Mit Bezug auf die doppelte Konstruiertheit von Raum (im Raumverständnis von Löw und Sturm) insistiert May auf dem Zusammenspiel beider Relevanzstrukturen und damit die Bedeutung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses. Versuche jugendlicher Sozialraumkonstitution („Mikropolitiken von Jugendlichen“ S. 51) werden so begreifbar als Prozess, in welchem sich eine Ahnung von Sozialraum, der ihnen Selbstentfaltung erlauben würde, verbindet mit den gegebenen Objekten gesellschaftlich bereits konstituierter Raumstruktur.
Zum dritten Kapitel
Das zentrale Kapitel zur Methodologie folgt dem Ziel des Projekts, mit der Kategorie „raumbezogene Interessensorientierung“ Beziehungen zwischen Reproduktionsbedingungen und situationsbedingtem interessegeleiteten Handeln Jugendlicher herauszufinden.
Da eine „Überschreitung“ der objektiv gegebenen Struktur mit ihren Handlungsaufgaben nicht begrifflich vorab bestimmbar ist, kann sie nur aus dem Handeln heraus verstanden werden, was entsprechender Forschungsmethoden bedarf.
Mit daraus begründeten „eintauchenden“ Methoden der beobachtenden Teilnahme wird versucht, in den immer wiederkehrenden Formen der jugendlichen Praxis ein generatives Prinzip zu rekonstruieren.
Da der Verfasser in früheren Studien mehrfach auch über große Zeitspannen dieselben Typologien von Jugendmilieus gefunden hat, konnte im neuerlichen Projekt dieser Analyseschritt abgekürzt und auf diese Typologie aufgebaut werden. Sie unterscheidet zwischen den 4 Milieus: Subkulturelle Orientierungen, Milieu institutionell Integrierter, Milieu manieristischer Strömungen (Mode, Marken, stylisch) und den gegenkulturellen Milieus. Diese Typlologie strukturierte die Kontakte der studierenden ForscherInnen zu den beteiligten Jugendlichen: nach der Erfassung der örtlichen Cliquen („Szenekataster“) wurde eine Typisierung anhand der 4 Milieus versucht und gerade jene Szenen ins Visier der Forschungs-Aufmerksamkeit genommen, die sich nicht so ohne weiteres einem der Milieus zuordnen ließen. Grade mit diesen wurden dann Lebenswelterkundungen durchgeführt – auch um nach modernisierten Formen, ggf, auch neuen Typen, zu suchen. Wesentlich für das Vorgehen war die Herstellung eines Arbeitsbündnisses mit den jeweiligen Jugendlichen zum Aufbau eines intersubjektiven Verständigungsrahmens.
Zu den Kapiteln 4 und 5
In den Kapiteln 4 und 5 werden die Ergebnisse dargestellt, die einen anschaulichen Einblick in die vorfindlichen Interessenkonflikte im ländlichen Raum erlauben. Zentral bei den Ergebnissen ist das vorherrschende Moment, dass nahezu alle Jugendlichen in ihrer spezifischen Weise um Raum in der Öffentlichkeit kämpfen und sie – in je unterschiedlicher Weise – Begleitung und Ernstnahme von Erwachsenen fordern ohne infantilisiert oder kriminalisiert zu werden. Manche brauchen mehr Unterstützung bei der Bewältigung der „Kosten“ der Anpassung (innere Einsamkeit), andere bei der Moderation von Konflikten mit anderen Platzbehauptern oder Unterstützung bei der Verantwortung der Raumnutzung auch für andere, also in ihrer Solidaritätsorientierung.
Im Unterschied zur textlichen Präsentation der theoretischen Prämissen sind diese Ergebniskapitel sehr anschaulich und geschichtengleich zu lesen und machen in ihrem praktischen Gehalt die theoretischen Ausgangspunkte plausibel.
Zentrale Ergebnisse lassen sich in folgenden Thesen des letzten Kapitels zusammenfassen:
- Der Kampf um Raum in der Öffentlichkeit ist nach wie vor zentral und eher schwieriger geworden, weil der öffentliche Raum verregelt und verriegelt ist und die Kontrolle erheblich zugenommen hat. Virtuelle Räume ersetzen diese Bedürfnisse nicht, da alle Studien zeigen, dass die virtuell Vernetzten auch real vernetzt sind.
- Eine Spaltung zwischen privaten und öffentlichen Belangen durchzieht die Artikulation der Jugendlichen. Sie schlägt die Probleme mit den Themen Schule und Ausbildung den „privaten“ Angelegenheiten zu. Gemäß dem Bewusstsein der meisten Jugendlichen müssen sie damit zurechtkommen, aber ändern lässt sich daran nichts und darum zählt es auch nicht zu den verhandelbaren Sachverhalten im Gemeinwesen. Jugendliche konzentrieren ihre Produkt- und Selbstorientierung auf den Freizeitbereich. Somit werden auch Weggeh- oder Bleibeorientierungen dethematisiert, weil damit die berufliche Zukunft zusammenhängt und der potentielle Verlust der sozialen Eingebundenheiten, die für die Freizeit das allerwichtigste sind.
- Es gibt keine klaren Tendenzen hinsichtlich der Organisationsformen Jugendlicher in der Provinz – weder verlieren die Vereine und kirchlichen Institutionen generell an Bedeutung, noch sind sie die zentralen Pfeiler der jugendlichen Integration. Es hängt vielmehr von konkreten sehr lokalen Besonderheiten ab, welcher Modus des Organisationsverhaltens sich entwickelt und was integrierend wirkt. Das bestätigt die von Herrenknecht konstatierte „Nebeneinander-Existenz unterschiedlicher sozialer Aggregatzustände von Dorf“ (S. 145).
- Eine Typisierung der Dorfjugend nach räumlicher Orientierung hingegen, so wie es viele Landforscher (z.B. auch Herrenknecht) tun, kann durch die Untersuchung keineswegs bestätigt werden.
Diskussion
Überzeugend ist das theoretische Konzept einer Vermittlung der objektiven und subjektiven Relevanzstrukturen im Lebensalltag der Beteiligten. Hieraus ergibt sich notwendigerweise auch für Jugendhilfeplanung die Perspektive, auch unthematisierte Bereiche zu reflektieren und darüber nachzudenken, wie diese näher in den Gestaltungsbereich der Beteiligten gelangen könnten – als Aufgabe der Jugendpolitik (nicht der Jugendlichen selbst, wie es die neoliberale Aktivierung gerne einfordert). Ob mit den vier Milieus alle wichtigen Selbsteinordnungs- und Orientierungsmuster erfasst werden können, muss an dieser Stelle offenbleiben, das ist auch nicht Gegenstand der theoretischen Überlegungen der Studie. Ebenso überzeugend erscheint mir auch das methodische Vorgehen als „Eintauchen“ in die Lebenswelten und gemeinsame Problembeschreibungsprozesse, die den Jungen und Mädchen ganz andere Möglichkeiten eröffnen, ihre Wahrnehmungen und Quälitätsempfindungen bzw. -ansprüche zu verdeutlichen.
Hinsichtlich der Methodendiskussion ist positiv hervorzuheben, dass der Verfasser auch einen Abschnitt zur methodenkritischen Reflexion aufgenommen hat und hier vor allem diskutiert, in welcher Weise die Kategorie Geschlecht einen Einfluss haben konnte auf die Prozesse der beteiligten Jugendlichen (die eigene geschlechtsbezogene Reflexion und entsprechendes Auftreten der Studierenden entsprach den Orientierungen in den Cliquen bzw. „starke“ Studentinnen der Forschungsgruppe erzeugten Identifikations- und Bestärkungsprozesse bei Mädchen, sofern diese nicht noch ganz den traditionellen Orientierungen verhaftet waren).
Meines Erachtens geht diese Reflexion aber nicht weit genug. In dem methodischen Vorgehen des Aufsuchens der Cliquen im öffentlichen Raum steckt bereits ein versteckter männlicher bias, da an dieser Stelle nicht reflektiert wird, welche Gruppen überhaupt und in welcher Art und Weise im öffentlichen Raum aufzufinden sind. Der Gedanke klingt kurz an bei der Erwähnung, dass nur sozial aktiv Eingebundene in die Untersuchung einbezogen werden konnten – folglich über die raumbezogenen Interessen der sozial nicht Eingebundenen ja keine Aussagen gemacht werden können. Auch auf S. 135 wird erwähnt, dass nicht alle Stile aufgefunden werden konnten, weil die Freizeit teilweise privatisiert verbracht wird. Das – so meine Anmerkung – trifft vermutlich in stärkerem Maße auf Mädchen als auf Jungen zu, auch wenn sich die Verhaltensweisen angeglichen haben und auch Mädchen ihre Nischen im öffentlichen Raum immer mehr beanspruchen (hier ist auch nicht Bezug genommen worden auf Literatur, die sich mit Mädchenverhalten im öffentlichen Raum auseinandersetzt).Wie ist es aber nun mit den raumbezogenen Interessen derjenigen, die bisher im öffentlichen Raum ausgeschlossen oder nicht wahr genommen werden? Hier scheint eine methodische Lücke, die in der Jugendhilfeplanung meines Erachtens gefüllt gehört.
Ein weiterer Punkt ist noch nicht systematisch zu Ende gedacht in geschlechtertheoretischer Hinsicht. So wird zwar empirisch herausgefunden, dass Reproduktionskodes teilweise geschlechtsspezifisch unterschiedliche Bezugspunkte haben (z.B. bedeutet ein Leistungsstreben in der Schule für Jungen eher eine Selbstinstrumentalisierung und wenig Selbstorientierung, während sie für Mädchen eher einen emanzipatorischen Charakter bezüglich des Erbschaftskodes zur Hausfrau und Mutter haben kann, – beschrieben auf S. 120). Aber es bedürfte einer systematischeren Reflexion, inwiefern geschlechtsunreflektiert bestimmte Lebensweisen und -stile bestimmten Reproduktionskodes zugeordnet werden können. So schleicht sich auch in dieser Untersuchung, die versucht, geschlechterdifferenziert in der Beobachtung ihres Materials vorzugehen, ein Blick ein, der die männlichen Formen tendenziell verallgemeinert und das davon Abweichende, was manchmal bei Mädchen auftaucht, extra erwähnt. Das bedeutet, dass der Blick auf die (raumbezogenen) Interessen von Mädchen immer noch nicht verallgemeinert und selbstverständlich ist.
Eine andere Frage, die in dieser Untersuchung etwas unterbelichtet bleibt, hängt mit dem ersten methodischen Einwand zusammen: es sind – benannterweise – solche Jugendliche erreicht worden, die in irgendeiner Weise bereits organisiert sind oder auch schon in der Jugendarbeit präsent sind. Die Jugendarbeitsfernen und Unorganisierten sind fast aus dem Blick geraten (was ein methodisches Problem nahezu jeder Jugenduntersuchung darstellt!!). Es mag sein, dass sie kein „Problem“ anmelden und von daher für die Jugendarbeit (die ja Bezugspunkt der vorliegenden Studie ist) uninteressant erscheinen. Aber andererseits haben genügend Studien der Jugendhilfe aufgezeigt, wieviel verdeckter Bedarf in der Verschwiegenheit der Öffentlichkeit begraben liegt, indem bestimmte Problemlagen öffentlich nach wie vor nicht thematisierbar sind oder nur in einer abstrakten Weise, dass sie subjektiv nicht eingelöst werden können, (ein besonders drastisches Problem ist die Erfahrung von Gewalt, wenn sie nicht nur als Einzelschicksal, sondern auch als Strukturierung eines Raumes betrachtet werden muss).
Hinsichtlich der Transparenz des Forschungsprozesses ist der Zugang der Studierenden und die Idee des Projekts gut nachvollziehbar dargestellt und die Lust der Studierenden schwingt zwischen den Zeilen mit. Letztlich bleiben die konkreten Forschungsaktivitäten aber dennoch im Dunkeln. Was genau die Studierenden mit „ihren“ jeweiligen Cliquen getan haben, um ihre „Probleme“ zu evozieren und ins Bewusstsein zu holen, erfährt die Leserin kaum. Da die ganze Anlage der Forschung gerade als Aktionsforschung eine hohe Praxisrelevanz hat und viele Landkreise resp. Kommunen genau auf dem Gebiet der Beteiligung Jugendlicher an den Bedarfserhebungen großen Nachholbedarf haben, wäre hier eine Offenlegung der konkreten Vorgehensweisen wünschenswert, um einen Nachahmungseffekt zu erreichen.
Ungeachtet dieser theoretischer Einwände ist der theoretische Rahmen sehr gewissenhaft eingeführt. Und er findet eine Brücke zwischen den modern rein diskurstheoretisch argumentierenden Jugendplanern, die die materiellen Grundlagen des Sozialraums nur noch in Statistiken zu erleben meinen und den Strukturkritikern, die alle Problemlagen auf materielle Unterausstattungen zurückführen und dabei die subjektiven Erlebensweisen und vor allem die subjektiven Strategien der Reproduktion außer acht lassen.
Fazit
Das Buch ist eine Fundgrube für jedes anspruchsvolle Beteiligungsprojekt und damit für die Jugendhilfeplanung. Besonders für die Diskussion über Jugend im ländlichen Raum finden sich hier wichtige methodische und theoretische Aspekte. Allerdings braucht es ggf. Hilfestellungen, da die Theoriekapitel so anspruchsvoll und voraussetzungsvoll formuliert sind, dass sie die PraktikerInnen möglicherweise in ihrer Geduld überfordern.
Rezension von
Prof. Dr. Maria Bitzan
Fakultät SAGP Soziale Arbeit Gesundheit und Pflege
Hochschule Esslingen
Mailformular
Es gibt 4 Rezensionen von Maria Bitzan.