Gisela Kubon-Gilke: Außer Konkurrenz (Sozialpolitik)
Rezensiert von Prof. Dr. Michael Vilain, 13.04.2015

Gisela Kubon-Gilke: Außer Konkurrenz. Sozialpolitik im Spannungsfeld von Markt, Zentralsteuerung und Traditionssystemen ; ein Lehrbuch und mehr über Ökonomie und Sozialpolitik.
Metropolis Verlag
(Weimar bei Marburg) 2011.
656 Seiten.
ISBN 978-3-89518-868-8.
34,80 EUR.
Reihe: Grundlagen der Wirtschaftswissenschaft - Band 18.
Autorin
Prof. Dr. Gisela Kubon-Gilke hat Volkswirtschaftslehre in Göttingen studiert, an der TU Darmstadt promoviert und habilitiert. Seit 1998 ist sie Professorin für Ökonomie und Sozialpolitik im Fachbereich Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule in Darmstadt. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Ökonomie und Psychologie, Institutionenökonomik und Arbeitsmarkttheorie.
Entstehungshintergrund
Angesichts der unzähligen Fach- und Lehrbücher zur Sozialpolitik, stellt sich dem Leser bei Erscheinen eines neuen Werkes unweigerlich die Frage nach seinem Mehrwert. Bereits ein kurzer Blick auf die einschlägige Literatur zeigt das fachlich übergreifende Interesse am Thema. Entsprechend gibt es auch unterschiedliche theoretische Zugänge. Verbreitet sind einerseits eher sozialwissenschaftliche Ansätze, die sich der Sozialpolitik auf der Grundlage eines soziologischen und politikwissenschaftlichen Theorieverständnisses nähern und welche sowohl zentrale Problemlagen der menschlichen Arbeits- und Lebensverhältnisse als auch Fragen des politischen Systems aufgreifen (vgl. beispielsweise Schmidt/ Lawrence, 2005, oder Boeckh/ Huster/ Benz, 2010). Andererseits hat auch die Wirtschaftswissenschaft eine lange Tradition sich mit sozialpolitischen Themen zu befassen. Ausgangspunkt sind hier meist die Modellwelten volkswirtschaftlicher Theoriebildung (vgl. beispielsweise Lampert/ Althammer (2006,) die nicht selten Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik als zwei Seiten einer Medaille bearbeiten (vgl. beispielsweise Ribhegge, 2011). In jedem Fall unterscheiden sich die Zugänge erheblich und so erscheinen die Differenzen zwischen volkswirtschaftlichen Modellen und sozialwissenschaftlichen Diskursen mitunter kaum anschlussfähig. An dieser Stelle schlägt Kubon-Gilke eine Brücke, indem sie anstrebt, „die komplexen Wirkzusammenhänge verschiedener Formen der Koordinierung arbeitsteiliger Herstellungsprozesse aufzuzeigen und beispielhaft zu demonstrieren, wie schwierig es ist, den Koordinierungsproblemen, Risiken und Ungleichheiten der verschiedenen Systeme durch die Sozialpolitik gerecht zu werden.“ (S. 9) Ausgangspunkt ist dabei das theoretische Inventar der Ökonomik, das sich, um ethische und philosophische Überlegungen erweitert, typischer Fragestellungen der Sozialwissenschaften annimmt.
Aufbau
Das rund 750 Seiten umfassende Lehrbuch gliedert sich in vier Argumentationsschritte:
- Einführung: Überblick über die Bedeutung von Arbeitsteilung für moderne Gesellschaften unter Berücksichtigung von Produktionsvorteilen und Allokationsproblemen sowie der daraus resultierenden sozialen Konsequenzen. (Kapitel 1 und 2)
- Grundlagen und Theoriebildung: Erläuterung der zentralen Koordinationsmechanismen zur Lösung von Allokationsproblemen: Markt, Staat und Tradition. (Kapitel 3, 4 und 5)
- Reflexion: Philosophische und ethische Reflexion der durch Güterallokation und -koordination ausgelösten Gerechtigkeitsfragen. (Kapitel 6)
- Transfer: Analyse der realen sozialpolitischen Bedingungen der Bundesrepublik auf der Basis des vermittelten Analyseinstrumentariums und Diskussion aktueller Problemlagen sowie möglicher Lösungsansätze. (Kapitel 7 und 8)
Diese Sinneinheiten verteilen sich auf acht Kapitel:
- Ökonomie und soziale Probleme: ein kurzer Überblick
- Arbeitsteilung und das ökonomische Koordinationsproblem
- Koordinationsmechanismus Markt
- Komparative Vorteile alternativer Koordinationsmechanismen
- Koordinierung durch politische Steuerung
- Gerechtigkeit und Freiheit
- Ziele, Aufgaben, Möglichkeiten und Grenzen der Sozialpolitik
- Fazit und Ausblick
Zu I. Vorteile und Grenzen von Arbeitsteilung in komplexen Gesellschaften
Spätestens seit Adam Smith weiß die Ökonomie um die Vorteile arbeitsteiliger Produktionsweisen. Sie sind ein wesentliches Merkmal aller industriellen Gesellschaften und haben der Menschheit einerseits einen bis dahin unvorstellbaren Produktivitätszuwachs beschert, werfen andererseits aber auch Fragen und Probleme auf (Kapitel 2). Positive Effekte der Arbeitsteilung sind vor allem (absolute und komparative) Produktionsvorteile sowie die Möglichkeit einer durch individuelle Präferenzen geleiteten Spezialisierung. Die Möglichkeiten der Arbeitsteilung sind jedoch nicht unbegrenzt. So können beispielsweise Tauschbeschränkungen vorliegen, die aus einer generellen Begrenzung der Nachfrage nach einem Gut resultieren, sodass es in bestimmten Teilsystemen nur ein geringes Tauschvolumen gibt und letztlich die Spezialisierung selbst dadurch unmöglich wird. Es kann sich aber auch um substanzielle Interdependenzen einzelner spezialisierter Arbeitsschritte handeln, die so miteinander verwoben sind, dass der hohe Koordinationsaufwand in Folge ihrer Trennung die Spezialisierung uninteressant erscheinen lässt. Auf der individuellen Ebene kann – wie auch die moderne Arbeitsforschung belegt – eine zu starke Spezialisierung durch Monotonie negative Auswirkungen auf die Motivation der Leistungsersteller haben und somit zu Produktivitätsverlusten führen. Abgesehen von Problemlagen, die die Arbeitsteilung grundsätzlich in Frage stellen oder erschweren, gibt es auch eine Reihe unerwünschter ‚Nebenwirkungen‘, die aus dem Koordinationserfordernis der Arbeitsteilung resultieren. Spezialisierte Teiltätigkeiten müssen aufeinander abgestimmt und arbeitsteilig produzierte Güter ausgetauscht werden. Gerade aus dieser Zuordnung von begrenzten Ressourcen zu möglichen Verwendern (Allokation) entstehen soziale Verwerfungen. Da nicht alle Menschen ihre Bedürfnisse zu einem vorgegebenen Preis befriedigen können, ist zu klären, wer an diesen Gütern in welchem Umfang teilhaben kann und soll.
Die Effekte der Arbeitsteilung hängen dabei maßgeblich von der Art und Weise der Koordination ab. Diese ist nicht umsonst zu haben, sondern verursacht vielmehr selbst auch Kosten. Solche Transaktionskosten (beispielsweise durch Aufwand zur Informationsbeschaffung) variieren je nach gewähltem Koordinationsmodell. Kubon-Gilke führt zur Lösung des Koordinationsproblems drei Mechanismen ins Feld: Tradition, Zentralsteuerung und Markt. Ersteres umfasst verschiedene, häufig auf überlieferten Vorstellungen beruhende soziale Systeme (z.B. Ehe, Familie oder kaufmännische Bräuche) mit tradierten Bündeln von Rechten und Pflichten. Zweites ist die durch den Staat organisierte, politisch motivierte Steuerung, die ihrem Wesen nach zentralistisch ist. Über Gesetze kann sich diese Koordinationsform notfalls auch mittels Gewalt durchsetzen. Im Gegensatz dazu finden Entscheidungen in Märkten dezentral statt und realisieren sich in Angebots- und Nachfrageszenarien der Marktteilnehmer. Wie aber funktionieren die Koordinationsmechanismen? Welche Vorzüge und Nachteile haben sie und welche monetären und sozialen Folgekosten verursachen sie?
Zu II. Mechanismen zur Überwindung des Koordinationsproblems
In der Folge werden die drei Koordinationsmechanismen genauer erläutert. Eine herausragende Stellung nimmt dabei die Beschreibung des Marktmechanismus ein. Kapitel 3 führt zu diesem Zweck in das klassische Inventar der Mikroökonomik ein (vgl. dazu beispielsweise auch Schumann/Meyer/Ströbele, 2011 oder Breyer, 2011), dessen Gegenstand das wirtschaftliche Verhalten einzelner zu Aggregaten zusammengefasster modellhafter Akteure – privater Haushalte und Unternehmen – ist. Diese agieren in einem engen Wechselspiel als Anbieter und Nachfrager von Gütern und Dienstleistungen auf vollkommenen Märkten. Zentrales Konzept ist dabei das des Marktgleichgewichts, welches sich bei Deckungsgleichheit von Angebot- und Nachfrage auf idealtypischen Märkten in der Preisbildung manifestiert. Analysiert werden die Koordinations- und Anpassungsvorgänge der Märkte sowie die daraus folgende Allokation knapper Ressourcen. Ob die sich daraus ergebenden Gleichgewichte effizient sind, wird anhand verschiedener Effizienzkriterien (z.B. Pareto-Kriterium oder Kaldor-Hicks-Kriterium) diskutiert. Doch in der Regel erfüllen reale Märkte die strengen Modellkriterien eines vollkommenen Marktes nicht. Aus diesem Grund wird zum Abschluss des Kapitels das Referenzmodell durch Aufhebung der Annahme der vollständigen Konkurrenz geöffnet. Auf diese Weise können auch andere Anbieter- und Nachfragestrukturen als die eines Polypols (viele Anbieter treffen auf viele Nachfrager) abgebildet werden. Dargestellt werden die Merkmale und Implikationen von Monopol bzw. Monopson, Oligopol sowie von – durch inhomogene Güter verursachtem – monopolistischem Wettbewerb und heterogenem Polypol. Der Aufbau des zusehends komplexer werdenden Analyseinstrumentariums erfolgt schrittweise. Die Ausführungen sind durch eine didaktisch motivierte Redundanz gekennzeichnet. So werden die meisten Gedankengänge sowohl verbal beschrieben und durch eingängige Beispiele belegt als auch grafisch hergeleitet. Auf eine mathematische Beschreibung wird zwar nicht verzichtet, allerdings sind die Ausführungen auch ohne diese gut nachvollziehbar. Die vermittelte Theorie wird dabei immer wieder in Bezug zu aktuellen sozialpolitischen Fragestellungen gesetzt. So wird beispielsweise erläutert, wie die wohlgemeinte Anhebung von Hartz-IV-Zuschüssen zur Miete durch den Berliner Senat nicht etwa zu einer Verbesserung der Wohnqualität für Empfänger, sondern lediglich zu einem Anstieg der Mieten führte (S. 82). Anhand der für die Armutsbekämpfung so zentralen Frage des Wohnraums kommt das zuvor dargestellte ökonomische Analyseinstrumentarium zum Einsatz (Kapitel 3.4.8). Diskutiert wird „[…] in welcher Weise wohnungspolitische Maßnahmen die Bildung von sozialen Brennpunkten und die soziale Lage der Betroffenen über das Marktgeschehen beeinflussen“ (S. 142). Dabei werden mögliche Eingriffe in Form von Höchstmieten, Kündigungsschutz und Mietsubventionen im Hinblick auf die erhofften und tatsächlich eintretenden Wirkungen umfassend diskutiert.
Nachdem die Kriterien des vollständigen Marktes bereits durch Aufhebung der Annahme einer vollständigen Konkurrenz gelockert wurden, folgt die Darstellung weiterer Marktprobleme, die nicht nur die Annahme vollkommener Märkte fraglich erscheinen lassen, sondern auch alternative Formen der Koordination auf den Plan rufen (Kapitel 4). Angesprochen sind beispielsweise externe Effekte, die entstehen, wenn das Marktgeschehen nicht beabsichtigte positive oder negative Wirkungen auf andere Teilnehmer hat, ohne dass dies im Marktpreis Berücksichtigung findet (z.B. Umweltverschmutzung). Damit solche Effekte vermieden oder in das Marktgeschehen einbezogen werden können, bedarf es, so deren Befürworter, staatlicher Eingriffe. Die Herstellung öffentlicher Güter (z.B. Infrastruktur oder Landesverteidigung) würde aufgrund ihrer Eigenschaften gar nicht erst über Märkte stattfinden, während demeritorische Güter zwar über Märkte angeboten werden können, aber für den Einzelnen oder die Gesellschaft nachteilhaft sind und deshalb eine staatliche Intervention durch Verteuerung oder Verbot erfordern (z.B. Drogen, Tabak). Mit solchen Interventionen wird jedoch eine aus liberaler Sicht heikle Frage angesprochen, die das Verhältnis zwischen Individuum und Staat berührt. Eine Debatte, die Kubon-Gilke an dieser Stelle ausführlich darlegt.
Mit der Einführung des Transaktionskostenansatzes nach Coase öffnet sich die Tür zur Institutionenökonomik und damit zur Analyse und Bewertung alternativer Koordinationsmechanismen. Im Gegensatz zur klassischen Mikroökonomik geht die Neue Institutionenökonomik davon aus, dass die Marktnutzung selbst auch Kosten verursacht (beispielsweise durch Informationsbeschaffung), also nicht zum Nulltarif zu haben ist. Jedes institutionelle Arrangement löst also unterschiedliche Transaktionskosten aus und erzeugt damit Anpassungsreaktionen der Betroffenen. Mit diesem Denkansatz werden nun unterschiedliche institutionelle Lösungen darstell- und bewertbar. Das ist auch erforderlich, denn angesichts der Phänomene des Marktversagens erweisen sich rein deregulierte Märkte nicht immer als optimaler Koordinierungsmechanismus. Vielmehr gibt es in der Praxis verschiedene institutionelle Mischformen, bei denen unterschiedliche Koordinierungsmechanismen parallel oder miteinander verschränkt zum Zuge kommen (vgl. S. 338 ff.). Markt, Befehl und Pflicht sind mithin nicht als konkurrierende, sondern als komplementäre Systeme zu verstehen, die es zu gestalten gilt. Den Abschluss des Kapitels bildet ein Blick auf das ökonomische Verständnis verschiedener Formen von Diskriminierung (vor allem unter Gendergesichtspunkten).
Nachdem schon deutlich geworden ist, dass es alternativer Formen der Koordinierung arbeitsteiliger Gesellschaften bedarf, wendet sich Kubon-Gilke der politischen Steuerung als Koordinierungsmechanismus zu (Kapitel 5). Dabei erweist sich das Bild des allinformierten und wohlwollenden Politikers schnell als genauso idealisiert wie das eines vollkommenen Marktes. Unter Rückgriff auf das Instrumentarium der Neuen Politischen Ökonomie werden Probleme der Interessenaggregation und Mehrheitsfindung in demokratischen Strukturen besprochen. Anhand des Arrow-Paradoxons wird zunächst verdeutlicht, warum die naive Vorstellung einer direkten Wahl mit Mehrheitsregel als Abstimmungsmodus in Demokratien keineswegs optimal ist. Arrow zeigt, dass es unmöglich ist, anhand von Mehrheitsentscheidungen individuelle Präferenzen konsistent zu aggregieren und darauf fußend eine gesellschaftliche Wohlfahrtsfunktion zu erstellen. Das bedeutet, dass auch die politische Steuerung nicht voraussetzungslos ist und umfassender Gestaltung bedarf. Dazu liefert die aus der Spieltheorie stammende Mechanismus-Design-Theorie zwar vielfache Gestaltungshinweise, aber auch die damit einhergehende Vorstellung einer komplett absichtsvollen Planung scheitert letztlich an der Komplexität realer Systeme und der (äußerst) unvollständigen Informationslage politischer Entscheidungsträger. Hier wiederum setzen Interessenvertretungen und Verbände an. Diese liefern benötigte Steuerungsinformationen zum Preis der Entscheidungsbeeinflussung. Dadurch, dass nicht alle Gruppen oder Individuen gleich gut organisiert sind, wie am Beispiel der Interessenvertretung der Sozialen Arbeit ausgeführt wird, erzeugt Lobbyismus wiederum selbst Verteilungs- und Beteiligungs- bzw. Ausschlusseffekte. Negative Effekte können aber auch durch den in Demokratien üblichen Parteienwettbewerb entstehen. So wird in Anlehnung an das einfache Zwei-Parteien-Modell nach Downs argumentiert, dass Parteien sich im Wettbewerb um Mehrheiten letztlich am sogenannten Durchschnitts- oder Median-Wähler orientieren und damit die Interessen anderer Wähler tendenziell vernachlässigen. Weitere Ungleichheitseffekte lassen sich aus der als Colonel-Blotto-Spiel bekannten Denkfigur der Spieltheorie ableiten, nach der inhaltlich konkrete Strategien von Politikern durch ihre Wähler eher abgestraft werden, während erratische Handlungsweisen in Form von Zufallsentscheidungen oder vager Versprechen belohnt und dadurch gefördert werden. Komplexitätserhöhend wirken, so wird weiter argumentiert, unter anderem auch mögliche Eigeninteressen der Bürokratie, die als Exekutive die politischen Entscheidungen umsetzt (vgl. Niskanens Theorie der Bürokratie). Weitere Schwierigkeiten entstehen dadurch, dass Sozialpolitik längst auch schon eine internationale Dimension hat, die eng verkoppelt mit nationalen politischen Entscheidungen ist, ohne dass es eine globale sozialpolitische Steuerung gibt. In der Konsequenz lassen sich die Ursachen vieler Probleme (z.B. Migration) nationalstaatlich nicht bekämpfen, auch wenn die Wirkungen sich dort voll entfalten. Angesichts der Vielzahl der Beeinträchtigungen und Fehleranfälligkeiten muss wohl Abstand von der Vorstellung perfekter politischer Entscheidungen genommen werden. Folglich kann das Ideal einer politischen Steuerung wohl nicht in der Forderung nach einer umfassenden Feinsteuerung liegen, sondern muss sich eher auf „Leitideen und Grundsatzentscheidungen über Richtung und Orientierung der Politik [beschränken]“ (s. 417).
Zu III. Gerechtigkeit als Zielgröße bei der Gestaltung von arbeitsteiligen Gesellschaften
Das Problem einer gerechten Güterallokation ist eine zentrale Zieldimension von Sozialpolitik. Doch was ist gerecht? Im Stil eines Exkurses folgt ein etwas kürzeres Kapitel, das verschiedene Zugänge zur Beantwortung dieser Frage legt (Kapitel 6). Kontrastierend werden eingangs Nozicks Vorstellung einer Regelgerechtigkeit und Dworkins Konzept der Chancengerechtigkeit diskutiert. Ersterer propagiert in Übereinstimmung mit klassischen liberalen Perspektiven, dass Märkte, ähnlich wie ein Fußballspiel, grundsätzlich gerechte Verteilungslösungen liefern, wenn sie faire Regeln befolgen. Entsprechend mache es auch keinen Sinn, die Tore nachträglich aus Gerechtigkeitserwägungen umzuverteilen. Allerdings gilt dies nur, wenn alle Spieler die gleichen Startvoraussetzungen haben. In der Realität sind die Ressourcen zu Beginn des Spiels jedoch, z.B. durch unterschiedliche (ererbte) Resssourcenbestände sehr unterschiedlich verteilt. Entsprechend bedarf es einer gewissen Umverteilung zur Herstellung von Chancengerechtigkeit. Besonders schwierig wird dies allerdings im Hinblick auf körperliche und geistige Fähigkeiten. Diese können per se nicht umverteilt werden. Allerdings wäre nach Dworkin dafür zu sorgen, dass die Unterschiede durch andere Maßnahmen kompensiert werden. Doch wo fängt der Ausgleich an und wo hört er auf und wann schlägt er in eine Gegendiskriminierung um?
In der Folge führt Kubon-Gilke einen ganzen Reigen philosophischer und ethischer Positionen an, von denen hier eine aufgrund ihrer hohen Verbreitung herausgehoben wird. Eine grundsätzliche Notwendigkeit zur Umverteilung sieht die in den letzten Jahrzehnten in Politik und Wissenschaften populär gewordene Gerechtigkeitstheorie von Rawls. Der kontrakttheoretisch hergeleitete Gerechtigkeitsentwurf postuliert, dass Personen hinter einem Schleier der Ungewissheit die Chancen und Risiken einer bestimmten Gesellschaftsordnung für sich nicht abschätzen können und daher zu einer Übereinkunft gelangen, die dem jeweils Ärmsten der Gesellschaft eine möglichst gute materielle Basis garantierten (vgl. S. 433), da jeder Entscheider ja theoretisch selbst in diese Situation kommen könnte. In der Konsequenz entstehen zwei grundlegende Prinzipien. Dies ist zum einen das Egalitätsprinzip, das jedem Menschen grundsätzlich und unveräußerlich die gleichen Freiheitsrechte zugesteht, welche auch nicht zum Gegenstand von Verhandlungen gemacht werden können (beispielsweise eigener Verkauf in die Sklaverei). Zum anderen entwickelt er ein Differenzprinzip, das soziale und ökonomische Ungleichheit zwar billigt, aber nur dann, wenn sie den weniger Begünstigten zum Vorteil gereicht. Die Position wird ausführlich diskutiert und im weiteren Verlauf durch Überlegungen vor allem utilitaristischer Denker wie Basus, Sen oder Nussbaum ergänzt bzw. kontrastiert. In ausführlicher Auseinandersetzungen mit gerade diesen Gerechtigkeitstheorien führt Kubon-Gilke den Philosophen Ekardt ins Feld, der deren Schwächen auf naturalistische Fehlschlüsse zurückführt und auf der Grundlage erkenntnistheoretischer Überlegungen eine „objektive Ethik der Nachhaltigkeit“ entwirft.
Eine institutionelle Antwort auf die Fragen von Koordination und Gerechtigkeit wurde in der Bundesrepublik versucht. In Abkehr von marktradikalen Vorstellungen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Sozialen Markwirtschaft die Idee von in sozialethischen Kategorien eingebunden Märkten entwickelt, indem unter anderem Rüstow liberale Leitvorstellungen mit der (katholischen) Sozialethik verband. Dadurch wurde versucht, die Koordinationsleistungen und Produktivitätsvorteile des Marktes mit gesellschaftspolitischen und ethischen Gestaltungsgrundsätzen wie den Prinzipien von Personalität, Subsidiarität und Solidarität zu verbinden, um so die durch die Marktkoordination verursachten Begleiterscheinungen abzumildern. Dieser Rahmen, wenngleich vielfach modifiziert, umreißt bis heute das soziale System der Bundesrepublik.
Zu IV. Die bundesdeutsche Sozialpolitik
Waren die ersten Kapitel des Buches der theoretischen Fundierung der Sozialpolitik gewidmet, wendet sich das vorletzte Kapitel nunmehr den realen Phänomenen des bundesdeutschen Sozialsystems und der Sozialpolitik zu (Kapitel 7). In einer knappen Einführung zur Geschichte der deutschen Sozialpolitik werden Grundlagen zum Verständnis des heutigen Sozialsystems gelegt. Sodann identifiziert Kubon-Gilke „Armut“ und Armutsbekämpfung als wesentliche Leitvorstellung der Sozialpolitik und diskutiert sowohl die Implikationen verschiedener Armutsbegriffe als auch die Probleme ihrer Messung. Etwas isoliert folgen allgemeine Überlegungen zu den Anforderungen an eine Theorie der Sozialpolitik. Dabei entsteht in Anlehnung an die vorangegangen Ausführungen ein vielschichtiger und mehrdimensionaler Forderungskatalog (vgl. S. 507 f.), den Kubon-Gilke in der gängigen Theorie der Sozialpolitik bisher vielfach nicht realisiert sieht (vgl. S. 508).
Es folgt eine umfassende Darstellung des deutschen Sozialsystems. Die Bereiche, Träger und Logiken sozialer Sicherungssysteme werden zunächst umrissen und später dann etwas ausführlicher beschrieben. Dabei werden der Schutz der Arbeitnehmer, die Sozialversicherungssysteme (Renten-, Unfall-, Kranken-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung) sowie weitere Politikfelder (Arbeitsmarktpolitik, Betriebs- und Unternehmensverfassungspolitik, Jugend-, Altenhilfe-, Familien-, Grundsicherungs- sowie bevölkerungsgruppenorientierte Sozialpolitik) angeschnitten. Anhand des eingeführten Analyseinstrumentariums werden soziale und ökonomische Wirkungen im Hinblick auf einige sozialpolitische Programme betrachtet. Insbesondere werden aktuelle Reformvorschläge wie die negative Einkommensteuer, der Kombilohn oder verschiedene Grundsicherungsmodelle einer Wirkungsanalyse unterzogen. Abgeschlossen wird dieses Kapitel durch allgemeine Überlegungen zu Sozialstaatsgefährdungen, einem Vergleich von Wohlfahrtsstaaten und wirtschaftstheoretischen Sozialstaatsvorstellungen sowie einer zusammenfassende Auflistung der vorher diskutierten Probleme sozialpolitischer Steuerung.
Im Sinne eines Ausblicks fordert Kubon-Gilke schließlich die Rückbesinnung auf das ursprüngliche Modell der Sozialen Markwirtschaft, fortgeschrieben um die zwischenzeitlichen Erkenntnisfortschritte. Dabei geht es ihr weniger um eine Programmatik aus einem Guss als vielmehr um eine politische Ausrichtung an den wesentlichen Grundlinien der Sozialen Marktwirtschaft, die im Kern in der Anerkennung der prinzipiellen Verantwortungsfähigkeit des Menschen besteht und die Beteiligung aller an den politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bereichen und Entscheidungen ermöglicht, mithin auf Inklusion durch den Sozialstaat als auf Nachbesserung durch Ausgleich und Flickschusterei setzt (vgl. S. 707). Entsprechend dieses, im besten Sinne neoliberalen Plädoyers fällt schließlich auch das auf Aktivierung des Lesers zielende Fazit (Kapitel 8) aus: „Wir müssen eigenständig aus all dem, was wir in der Zwischenzeit über Ökonomie, den Staat, über Gerechtigkeitstheorien und Sozialpolitik erfahren haben, ein Fazit ziehen.“ (S. 712) Dies allerdings nicht – und hier schimmert dann schließlich doch das hochschulpädagogische Herz der Verfasserin wieder durch – ohne dem Leser noch abschließend ein Prüfschema zur Analyse sozialpolitischer Fragestellungen an die Hand zu geben (vgl. S. 715).
Diskussion
Die arbeitsteilige Gesellschaft ist heute der Normalfall in allen hochentwickelten Volkswirtschaften. Dies macht eine Koordination zwischen den verschiedenen Spezialisten, aber auch die Verteilung der Güter und Dienstleistungen erforderlich. Über die Art und Weise dieser Koordination gab und gibt es heftige Auseinandersetzung mit bisweilen religiös-fanatischen Zügen. Auf der einen Seite stehen die Verfechter freier Märkte, die an die Kraft dezentraler Selbstkoordination mittels unsichtbarer Hände glauben. Auf der anderen Seite stehen die Anhänger zentraler Staatsverwaltung, mit einer Art staatlicher Allzuständigkeits- und Omnipotenzvermutung. An dieser Stelle leistet Kubon-Gilke einen wertvollen Beitrag zum Dialog, indem sie die Funktionsweisen sowie Vor- und Nachteile beider Koordinationsformen ausführlich beschreibt und einen – in der Realität eigentlich selbstverständlichen – institutionellen Mix theoretisch begründet und einfordert. Dieser wird allerdings durch eine dritte Koordinationsform, der auf Traditionen fußenden Pflichten ergänzt. Diese letzte Perspektive wird, und das ist kennzeichnend für die Debatte in der Ökonomik insgesamt, leider kaum ausgeführt. Mit der Diskussion des Traditionsbegriffs und der Fokussierung auf die (soziale) Pflicht als zentralem Gewährleistungsinstrument wird die „Grauzone“ zwischen Markt und Staat zwar angedeutet. Zugleich wird aber eine Verengung vorgenommen, die den Blick auf einen real existierenden und zunehmend wichtigeren Bereich moderner Gesellschaften verstellt: dem Dritten Sektor. Das ist schade, vor allem deswegen weil ein erheblicher Teil der angestrebten Leserschaft (Studierende der Sozialen Arbeit) gerade in diesem Bereich arbeiten wird. Wie lassen sich Proteste (gegen Markt und Staat), Millionenfaches freiwilliges Engagement, Handeln aus Solidarität (ohne Zwang, Pflicht und Gewinnstreben) erklären? Als fruchtbar könnte sich der Anschluss an „Dritte-Sektor-Theorien“ erweisen. Demnach erfolgt Wohlfahrtsproduktion – in der Bundesrepublik sogar zu einem erheblichen Teil – nicht nur in Markt und Staat, sondern auch in einem auf Gegenseitigkeit und Solidarität fußenden, intermediären Bereich der Gesellschaft. Dieser lässt sich durchaus auch in der Erweiterung des liberalen und utilitaristischen Paradigmas eines normativen Individualismus herleiten. So erklärt beispielsweise Weisbrod bereits in den 1980er Jahren die Existenz dieses Sektors mit einem kombinierten Markt- und Staatsversagen. Einen anderen Weg gehen die beiden Wirtschaftswissenschaftlerinnen James und Rose-Ackerman in ihrer politischen Ökonomie der Vereine, indem sie Nonprofit-Organisationen im Rahmen ihres Instiutional-Choice-Ansatzes unter bestimmten Umständen als effizientere und kostengünstigere Variante gegenüber marktlichen und staatlichen Lösungsangeboten identifizieren und damit sogar ohne explizite Markt- oder Staatsversagenstheorie auskommen. Als Koordinationsmechanismus dient in diesem Sektor weniger die Pflicht als vielmehr die Solidarität oder eine Art solidarorientierte Gabeüberschusshaltung (vgl. Schulze-Nieswandt/ Köstler, 2011). Diese lässt sich eben nicht aus einer zweckrationalen Tauschlogik, aus Pflichten oder Zwang erklären, sondern aus einer dem Menschsein innewohnende Fähigkeit zum Mitgefühl und zur Solidarität und hat somit eigenständigen Charakter.
Überzeugend ist in Abkehr einer reinen Marktlogik Kubon-Gilkes Vorschlag eines institutionellen Mixes, in welchem den drei Koordinationsmechanismen komplementäre Funktionen zukommen und der sich eingebettet findet in das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Als politische Leitvorstellung revitalisiert sie damit ältere neoliberale (im Sinne der ursprünglichen Bedeutung als gemäßigte Form des Liberalismus und nicht des derzeit verwendeten politisch verzweckten Kampfbegriffs) Positionen. Zur Argumentation setzt sie virtuos das klassische Instrumentarium der Mikroökonomik ein und erweitert dieses schrittweise um Theorien der Neuen Institutionenökonomik sowie der Neuen Politischen Ökonomik, ohne sich dabei einerseits dem Verdacht eines Eklektizismus auszusetzen und ohne andererseits auf den einen oder anderen Blick über den Tellerrand zu verzichten. Die Vorstellung unterschiedlicher Gerechtigkeitstheorien ist in diesem Umfang für ein volkswirtschaftliches Lehrbuch positiv hervorzuheben. Sie bildet einen kritischen Ressonanzboden und öffnet die Diskussion vor allem auch für andere Fachgebiete. Letztlich fällt aber die Dominanz utilitaristischer Denkmuster auf. Auch wenn diese Schwerpunktsetzung völlig legitim ist, wäre es doch auch interessant gewesen, kommunitaristische Denker wie beispielsweise Michael Walzer zu Wort kommen zu lassen, die ein einheitliches Gerechtigkeitskonzept und eine übergreifende Verteilungslogik gänzlich ablehnen. Sie sehen vielmehr verschiedene Sphären wie die (staats-) bürgerliche „Zugehörigkeit“, „soziale Sicherheit und Wohlfahrt“, „Geld und Waren“, „Erziehung“ und „politische Macht“ (vgl. Merkel, 2007), die jeweils aufgrund ihrer Unterschiedlichkeit eigener Verteilungsregeln bedürfen. Vielleicht wäre diese Sichtweise auch anschlussfähig an die vollkommen zu recht geforderte Mischung institutioneller Regelungen.
Das Buch ist insgesamt eine in sich geschlossene sinnhafte Einheit, sodass der Vergleich mit anderen Lehrbüchern schwerfällt. So sind beispielsweise die Schilderungen des deutschen Sozialsystems sicherlich nicht so umfangreich wie beispielsweise bei Naegele et al, 2010, das mikroökonomische Instrumentarium nicht so vertieft wie beispielsweise bei Schumann/ Meyer/ Ströbele 2011 und doch liegt der Charme des Buches in seiner besonderen Verbindung verschiedener Theorien zu einem neuen Korpus, der Vielschichtigkeit der Überlegungen und der geschickten Positionierung zwischen Deskription real zu beobachtender Phänomene einerseits und den realitätsfernen Modellwelten der Ökonomie andererseits. Genau diese Positionierung macht das Buch so interessant für unterschiedliche Zielgruppen und lässt ganz nebenbei einen eigenen Ansatz der Sozialpolitik erkennen. Dabei profitiert der Leser von der langjährigen Lehrerfahrung der Verfasserin sowie einer erkennbaren Präferenz für die ökonomischen Realitäten Entenhausens. So muss man damit rechnen, Bekanntschaft mit den Absatzproblemen von Daniel Düsentriebs sinnentleertem ‚Watschenstock‘ zur Erklärung von Koordinationsproblemen in Märkten zu machen (vgl. S. 60), an den leidvollen Erfahrungen der Autorin beim Stricken und Häkeln teilzuhaben, die die Vorzüge der Arbeitsteilung plastisch hervortreten lassen (vgl. S. 50) oder Zeuge von Überlegungen zu werden, wie eine Sondersteuer (Solidarbeitrag) für Studierende – unter der Bedingung rationaler Ignoranz – Professorinnen zu einem Luxusurlaub in der Karibik verhelfen könnte (S. 392). Der Zweck heiligt eben manchmal die Mittel und führt hier im Ergebnis zu einem für Studierende der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften gleichermaßen anspruchsvollen wie gut lesbaren Buch. Dazu trägt auch bei, dass die in volkswirtschaftlichen Lehrbüchern sowohl in der Mikro- und Makroökonomik als auch in der Sozialpolitik so verbreitet im Vordergrund stehenden mathematischen und grafischen Herleitungen bei Kubon-Gilke in den Hintergrund treten. Die Ausführungen sind nahezu durchgängig anhand der sehr eingängigen Beschreibungen verständlich und werden für Interessierte und Fachkundige mathematisch und grafisch ergänzt.
Fazit
„Außer Konkurrenz“ ist dieses Buch mit seinem konzeptionellen Entwurf eines Theorieinventars der Sozialpolitik fürwahr. Das gilt sowohl im Hinblick auf Inhalt als auch Stil. Für den Leser stellt es mit seinen etwa 750 Seiten eine echte Mammutaufgabe dar. Da die Kapitel stringent aufeinander aufbauen, eignet es sich kaum als Nachschlagewerk. Es bleibt also nur, vorne zu beginnen und sich durchzuarbeiten. Doch diese Mühe lohnt. Geboten wird nicht nur ein profunder Einblick in Funktionsweisen bundesdeutscher Sozialpolitik, sondern auch das Rüstzeug zu dessen (ökonomischer) Analyse. Unterstützt durch die illustrierenden Alltagsbeispiele und die zur Diskussion gestellten realen sozialpolitischen Probleme zielt es ganz im Sinne des neoliberalen Menschenbilds auf die Befähigung des Lesers. Eine hervorragende Verbindung von Fach- und Lehrbuch, die Studierenden der Sozialen Arbeit den Zugang nicht versperrt und Studierende der Ökonomik durchaus fordert. Aber nicht nur für Studierende ist das Werk eine bereichernde Lektüre. Auch Praktiker und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen profitieren von der Grenzen überwindenden Perspektive, die es immer wieder schafft, Diskursstränge der Sozialwissenschaften wie Inklusion, (Un-) Gerechtigkeit, Bildung oder Ausgrenzung mit denen der Ökonomie zu verknüpfen und dabei helfen kann, sozialpolitische Positionierungen für die eigene Organisation zu finden.
Rezension von
Prof. Dr. Michael Vilain
Evangelische Hochschule Darmstadt
Website
Mailformular
Es gibt 9 Rezensionen von Michael Vilain.