Marc Schmid, Michael Tetzer u.a. (Hrsg.): Handbuch psychiatriebezogene Sozialpädagogik
Rezensiert von Prof. Dr. Annemarie Jost, 22.11.2012

Marc Schmid, Michael Tetzer, Katharina Rensch, Susanne Schlüter-Müller (Hrsg.): Handbuch psychiatriebezogene Sozialpädagogik. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2012. 581 Seiten. ISBN 978-3-525-40442-3. 49,99 EUR.
Thema
Da viele Menschen, die sozialpädagogische Angebote in Anspruch nehmen, zusätzlich unter psychischen Störungen leiden, plädiert dieses interdisziplinäre Handbuch für eine Sozialpädagogik, die um psychiatrische Perspektiven ergänzt wird, und diskutiert aus verschiedenen Blickwinkeln Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Theorie, Profession und Praxis von Sozialpädagogik und Psychiatrie.
Autoren oder Herausgeber
Insgesamt haben 62 deutsche und Schweizer AutorInnen an diesem Handbuch mitgewirkt, besonders einflussreich waren hierbei interdisziplinäre Kooperationen, Austauschprozesse und Kontakte von (ehemaligen) Mitarbeitern des Institutes für Sozialpädagogik der Leuphana Universität Lüneburg sowie der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Basel. Darüber hinaus konnten einschlägige deutschsprachige Autoren aus Sozialpädagogik und (Kinder- und Jugend-)Psychiatrie gewonnen werden.
Entstehungshintergrund
Der Studienschwerpunkt Psychiatriebezogene Sozialpädagogik, aus dessen Erfahrungen verschiedene Beiträge dieses Handbuches schöpfen, ist inzwischen trotz hoher studentischer Nachfrage und guter Chancen der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt der Neuausrichtung und Umstrukturierung der Leuphana Universität zum Opfer gefallen. So verfolgt das Handbuch unter anderem auch das Ziel, die dort gewonnenen Erfahrungen weiterzugeben.
Aufbau
Knapp die erste Hälfte des Buches befasst sich mit historischen Aspekten, theoretischen Grundlagen, Aus- und Weiterbildungsaspekten, Forschungsmethoden und professionellen Haltungen und Grundpositionen einer psychiatriebezogenen Sozialpädagogik. Hierbei wird ein Dialog zwischen sozialpsychiatrischen und sozialpädagogischen Perspektiven erzeugt. Manche Beiträge sind hierbei deutlich aufeinander bezogen, andere stehen eher singulär. Das Kindes- und Jugendalter hat in der Auswahl der Beiträge ein besonderes Gewicht.
Im zweiten Buchteil geht es um eine Psychiatriebezogene Sozialpädagogik der Lebensalter, sie beginnt mit der frühen Kindheit und endet mit gerontopsychiatrischen Fragestellungen. In der Einführung zu dieser Thematik findet sich zusätzlich ein Beitrag zu kultursensiblen Hilfen für traumatisierte Flüchtlinge.
Inhalt
Es ist natürlich schwierig, bei einer Rezension eines Handbuches mit über 580 Seiten und sehr unterschiedlichen Beiträgen allen Inhalten gerecht zu werden, deshalb muss hier neben einem allgemeinen Überblick eine Auswahl getroffen werden.
Nach einem historischen Kapitel steht die Entwicklung einer reflexiven, professionellen Identität und einer ethischen Grundposition psychiatrisch tätiger Sozialpädagogen im Zentrum verschiedener Beiträge des ersten Teils dieses Handbuchs. Hierbei wird die wechselseitige Befruchtung durch gelingende Kooperationen zwischen Sozialpädagogen und Sozialpsychiatern in Aus- und Weiterbildung, bei der Reflexion von Einzelfällen und bei Forschungsvorhaben thematisiert. Allerdings werden auch die unterschiedlichen Forschungsansätze einer eher medizinisch ausgerichteten psychiatrischen Forschung und einer sozialwissenschaftlich geprägten sozialpädagogischen Forschung problematisiert. Hierbei stehen sich quantitativ-experimentelle Ansätze bzw. geforderte randomisierte kontrollierte Studien und qualitativ-beschreibende Ansätze mit fallrekonstruktiver Theoriebildung nicht selten wenig vermittelt gegenüber. In den folgenden Kapiteln wird dann insbesondere der verstehende Zugang unter Berücksichtigung institutioneller, rechtlicher und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen fokussiert. Im Qualifizierungsprojekt „Sichere Orte schaffen“ geht es hierbei neben der fachlichen Fortbildung auch um die authentische Selbstreflexion der Fachkräfte und um eine integrierte Verstehensdiagnostik, bei der die Analyse von Gegenübertragungsgefühlen insbesondere im Umgang mit traumatisierten Kindern einen wichtigen Stellenwert hat.
Bei der Psychiatriebezogenen Sozialpädagogik der Lebensalter wird der Kindheit und der Jugend eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Im Themenfeld (frühe) Kindheit finden sich sehr unterschiedliche Beiträge, die sich mit ADHS, Autismus, Kindern psychisch kranker und Kindern drogenabhängiger Eltern, frühen Hilfen und Traumapädagogik beschäftigen. Die einzelnen Beiträge sind entweder stärker störungsspezifisch oder eher von sozialpädagogischen Themenstellungen geprägt; die störungsspezifischen geben einen guten Überblick über aktuelle Entwicklungen (Epidemiologie, biologische und psychosoziale Entstehungsbedingungen, Diagnostik, Therapie und Hilfesystem), können hierbei angesichts der Begrenztheit der einzelnen Kapitel insbesondere bei therapeutischen Fragen jedoch nicht allzu sehr in die Tiefe gehen. Aus den Beiträgen wird deutlich, wie sich das Hilfesystem jenseits isolierter Einzelprojekte weiterentwickeln müsste, um der Notwendigkeit der besseren Vernetzung zwischen Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie und Milieutherapie/ Sozialpädagogik Rechnung zu tragen. Betont wird auch die Bedeutung einer guten Personal- und Teamentwicklung, bei der die Stärken der Mitarbeiter Wertschätzung finden, transparente Strukturen und Entscheidungsspielräume entstehen und die Gegenübertragungsreaktionen gut besprochen und begleitet werden, was nicht nur im Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen von zentraler Bedeutung ist. Die Beiträge laden ein, aktuelle krankheitsspezifische Kenntnisse mit milieutherapeutischen Gesichtspunkten gut zu vernetzen, die Verflechtung zwischen den Institutionen zu betrachten und das eigene Handeln kritisch zu reflektieren.
Im Rahmen der ausführlichen Thematisierung des Jugendalters stehen wiederum recht unterschiedliche Beiträge nebeneinander: Es geht um Schizophrenie, Persönlichkeitsstörungen und Essstörungen, um aggressive Störungen und stoffgebundene Süchte, aber auch um die (noch lückenhafte) sozialpädagogische Konzeptionalisierung der Krisenintervention, um das Für und Wider der konfrontativen Pädagogik, um straffällige junge Menschen mit psychischen Störungen und um schulische und berufliche Fragen. Bei letzterer Thematik werden die sozialrechtlichen Zuständigkeiten für Maßnahmen der beruflichen Integration und Rehabilitation herausgearbeitet und Hemmnisse für passgenaue Hilfen benannt.
Der Abschnitt „Erwachsenenalter“ beginnt mit sozialpsychiatrischen Überlegungen zu chronisch psychisch kranken Menschen, welche dann in dem engagierten Beitrag „Obdachlosigkeit“ fortgesetzt werden. Dieser Beitrag wurde von einer Psychiaterin verfasst, die gemeinsam mit Sozialarbeitern obdachlose Menschen gezielt aufsucht. In diesem Kapitel wird die Frage aufgeworfen, ob „die Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe nicht eigentlich psychiatrische Einrichtungen seien, die die schwierigsten und kränksten Patienten unter schlechten Bedingungen und mit den geringsten Ressourcen betreuen müssen“. Zugleich werden – unterstützt durch eine Fallgeschichte – Möglichkeiten aufgezeigt, wie obdachlose psychisch kranke Menschen erreicht werden können. Die weiteren Kapitel zum Erwachsenenalter befassen sich mit Entgiftung, Entwöhnung und Substitutionstherapie und mit dem „sozialen Empfangsraum“ d.h. der Wiedereingliederung forensischer Patienten.
Abschließend enthält das Buch drei gerontopsychiatrische Kapitel, in denen insbesondere demenzkranke Menschen und ihre Angehörigen thematisiert werden und der Depression im Alter das letzte Kapitel gewidmet wird.
Diskussion
Der Vor- und Nachteil eines Handbuches liegt darin, dass die einzelnen Beiträge von ausgewiesenen Experten verfasst werden, aber nur zum Teil aufeinander bezogen sind. In manchen Kapiteln (z.B. bei den Persönlichkeits(entwicklungs-)störungen im Jugendalter) werden die Erfolge therapeutischer Verfahren verglichen, die Verfahren selber jedoch nicht erläutert. Gerade angesichts der Notwendigkeit des intensiveren Dialoges zwischen Sozialpädagogen und Psychotherapeuten wäre es hilfreich gewesen, die Grundprinzipien von ausgewählten Therapieverfahren beitragsübergreifend zu erläutern. Da der Fokus jedoch auf der Sozialpädagogik liegt, ist es andererseits auch verständlich, dass therapeutische Aspekte nur angeschnitten werden.
Die in den kinder- und jugendpsychiatrischen Beiträgen sowie im mittleren Erwachsenenalter sehr prägnant herausgearbeitete Wichtigkeit milieutherapeutischer Interventionen geht im gerontopsychiatrischen Abschnitt allerdings verloren.In Bezug auf die sozialpädagogischen Aufgaben und Ziele in der Arbeit mit alten Menschen wäre meiner Auffassung nach eine stärkere Hinterfragung der derzeitigen Wohnformen für pflegebedürftige Menschen notwendig gewesen, insbesondere da Statistiken zitiert werden, nach denen 20 – 70 % der Pflegeheimbewohner unter depressiven Störungen leiden.
Der gerontopsychiatrische Abschnitt könnte aktualisiert und noch stärker auf sozialpädagogische Fragestellungen fokussiert werden. Aus medizinischer Sicht könnte bei den Demenzen insbesondere auch im Hinblick auf die Belastungen der Angehörigen die frontotemporale Demenz, deren Häufigkeit lange unterschätzt wurde, Erwähnung finden. Auch sollten die Häufigkeitsangaben der Erkrankungen zwischen den Kapiteln vereinheitlicht werden.
Fazit
Für das vorliegende Handbuch konnten namhafte Experten und engagierte Kinder- und Jugendpsychiater, Sozialpsychiater und Sozialpädagogen gewonnen werden. Die Beiträge richten sich an Studierende und Praktiker und zeigen Möglichkeiten und Hemmnisse einer psychiatriebezogenen Sozialpädagogik auf. Sie laden ein, milieutherapeutische Ansätze auszubauen, die Fachkräfte selber in den Blick zu nehmen und Hilfebedarfe für eher vernachlässigte Zielgruppen (z.B. Kinder alkohol- und drogenabhängiger Eltern, traumatisierte Jugendliche in Einrichtungen der Jugendhilfe, Obdachlose, entlassene forensische Patienten) wahrzunehmen. Die Beiträge geben Einblick in engagierte sozialpädagogische Handlungsansätze, besondere Schwerpunkte liegen hierbei in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. An mancher Stelle wäre eine noch tiefer gehende Erläuterung der Vernetzung zwischen therapeutischen und sozialpädagogischen Interventionen möglich gewesen, auch könnte der gerontopsychiatrische Teil des Handbuches überarbeitet werden.
Rezension von
Prof. Dr. Annemarie Jost
Professorin für Sozialpsychiatrie an der Fakultät 4 der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg
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Zitiervorschlag
Annemarie Jost. Rezension vom 22.11.2012 zu:
Marc Schmid, Michael Tetzer, Katharina Rensch, Susanne Schlüter-Müller (Hrsg.): Handbuch psychiatriebezogene Sozialpädagogik. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2012.
ISBN 978-3-525-40442-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13852.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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