Kurt April: Sprechen über Sex – und über Infektionsrisiken
Rezensiert von Dr. Stefan Timmermanns, 14.01.2013

Kurt April: Sprechen über Sex – und über Infektionsrisiken. Verlag Hans Huber (Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2012. 248 Seiten. ISBN 978-3-456-85099-3. 19,95 EUR. CH: 28,50 sFr.
Thema
Wie der Titel zu erkennen gibt, geht es in dem vorliegenden Buch um die Kommunikation über das Thema Sexualität. Der Autor legt dabei das Hauptaugenmerk auf die Prävention von sexuell übertragbaren Infektionen, im Fachjargon englisch abgekürzt STI.
Autor
Dr. Kurt April ist studierter Mediziner mit Facharztausbildung in Psychiatrie und Psychotherapie. Er hat eine eigene Praxis in Horgen (Schweiz) und ist seit 2011 Präsident des Ärztevereins „AIDS-Aufklärung Schweiz“ (AAS). Neben der Paar- und Sexualberatung beschäftigt er sich unter anderem auch mit Verhaltens- und Sexualmedizin, Suchterkrankungen und Depressionen.
Entstehungshintergrund
Zum Entstehungshintergrund gibt der Autor im Vorwort an, dass er durch die therapeutische Arbeit mit Klient(inn)en zu zahlreichen Erkenntnissen bezüglich der Prävention von STI gekommen ist.
Aufbau
Der Einstieg in das Thema erfolgt über eine Darstellung dessen, was menschliche Sexualität ist. Darauf folgt das zweite Kapitel, in dem die sexuelle Gesundheit und sexuell übertragbare Infektionen im Mittelpunkt stehen. Die folgenden Kapitel schließen sich an:
- Kommunikation in der Partnerschaft über Sexualität
- Das Gespräch über sexuell übertragbare Infektionen
- Verbreitung sexuell übertragbarer Infektionen
- Die Krankheiten und Symptome
- Prävention der sexuell übertragbaren Infektionen
Inhalt
Im ersten Kapitel arbeitet der Autor durch einen Vergleich zwischen der Tierwelt und den Menschen Unterschiede im Sexualverhalten heraus. Besonders wichtig ist dem Autor dabei die Tatsache, dass Menschen ihr Verhalten erlernen und ihr Sexualverhalten somit prinzipiell veränderlich ist.
Dem zweiten Kapitel legt April die Definition sexueller Gesundheit der WHO aus dem Jahr 1975 zugrunde, bevor er virologisches Basiswissen über Viren und Bakterien sowie ihre Übertragung vermittelt.
Kapitel drei ist der Kommunikation in der Partnerschaft und ihren Schwierigkeiten gewidmet. Hierbei empfiehlt April mit vorausschauender Planung an den ersten Sex heranzugehen. Da dies in der Praxis nicht immer einfach ist, geht er auf Hemmnisse ein und versucht für jedes Hindernis mögliche Argumente oder Strategien zu entwickeln, wie trotz des Tabus über ein mögliches Infektionsrisiko geredet werden kann. Dabei sieht er auch den Anteil der christlichen Sexualmoral und der Kirche, die dazu beigetragen haben, die sexuellen Bedürfnisse der Menschen zu unterdrücken (vgl. 90). An der grundsätzlichen Schwierigkeit ernsthaft über Sexuelles zu sprechen hätten aber weder die Anti-Baby-Pille, Viagra noch die 68er etwas verändert. Letztere hätten die sexuelle Offenheit aus ihrem politischen Selbstverständnis heraus sogar übertrieben. Die „Neue Linke“ wollte nicht über STI informieren, weil sie alles, was gegen freie Sexualität spräche, ignoriere (vgl. 95).
Im Zentrum des Buches steht das Reden über STI mit dem Ziel Infektionen zu vermeiden. Dafür werden in Kapitel vier „Neun Schritte zum erfolgreichen Gespräch“ sowie die Frage des richtigen Zeitpunkts, Kommunikationsregeln und Argumente gegen „dumme Sprüche“ (107ff) des Gegenübers ausführlich dargestellt. April rät zu folgender Reihenfolge: erst der Test, dann der Sex (vgl. 109). Menschen mit einer STI oder HIV sieht er dabei nicht als „schlechte oder unmoralische Person“ (112) sondern lediglich als „Opfer von sexuell übertragbaren Mikroben“ (ebd.). Als besonders effektiv und geeignet im Kampf gegen Infektionen hält der Autor Partnerinformationen, um Infektionsketten zu unterbrechen.
Kapitel fünf widmet sich epidemiologischen Inhalten und Fragestellungen und einer detaillierten Beschreibung der Übertragungswege unterschiedlicher STI. Das sechste Kapitel hat die Krankheiten und ihre Symptome zum Schwerpunkt, Kapitel sieben die Prävention von STI. Hier setzt der Autor, wie schon in Kapitel vier beschrieben, vor allem auf das Gespräch sowie auf weitere Empfehlungen, die einer Infektion mit STI vorbeugen. Darunter finden sich neben der Bestimmung des STI-Status und einer sorgfältigen Partnerwahl unter anderem auch die Reduzierung der Anzahl der Sexualpartner/innen und die Vermeidung von „Hochrisikosex“ (197). Darunter versteht der Autor häufigen Partnerwechsel und Sexualpraktiken, bei denen Verletzungen (z.B. der Schleimhaut) entstehen können.
Diskussion
Das Buch ist in einfacher und verständlicher Sprache geschrieben, was Teilen der Zielgruppe entgegen kommt, zu der laut Vorwort des Autors Laien, Pädagogen, Journalisten, Ärzte und Psychologen gehören. Die Fallvignetten aus Aprils Praxis tragen zu größerer Anschaulichkeit bei und verdeutlichen die Sachverhalte, die der Autor im Fließtext beschreibt. Lobenswert ist Aprils Verwendung eines weitgefassten Sexualitätsbegriffs und sein Plädoyer für einen eigenverantwortlichen Umgang mit Infektionsrisiken sowie der Hinweis auf den individuell unterschiedlichen Umgang mit Risiken (vgl. 196). Da die Botschaft jedoch nur einmal im gesamten Buch auftaucht, ist unklar, welchen Stellenwert sie für den Autor hat. Einseitig negativ beurteilt der Autor die sexuelle Revolution der 68er. Tatsächlich lassen sich Aspekte finden, die aus heutiger Sicht völlig unakzeptabel sind wie z.B. Toleranz für Pädosexualität oder Zwang zu sexueller Offenheit. Trotzdem sollte auch das Verdienst dieser Generation nicht ignoriert werden, zumal April ja das Gespräch über Sexualität äußerst wichtig ist. So offen über Sex zu reden, wie der Autor es empfiehlt, wäre vor 1968 nicht möglich gewesen.
Bei den vom Autor verwendeten Fachbegriffen fallen vor allem „HIV-Roulette“ (54), „Risikogruppen“ und „Hochrisikosex“ auf, weil sie Schubladendenken begünstigen und Menschen mit HIV tendenziell abstempeln bzw. stigmatisieren. Dem versucht April entgegenzuwirken und weist explizit darauf hin, dass Menschen mit STI und HIV der Solidarität und Unterstützung bedürfen (vgl. 216). Doch viel häufiger wird im Buch von „Risikogruppen“ oder der Strategie „Hochrisikosex“ zu vermeiden gesprochen, so dass fraglich ist, wie weit die geforderte Solidarität tatsächlich trägt. Die Begeisterung des Autors für die Idee Infektionsketten durch Partnerinformation zu unterbrechen, lässt eine stark epidemiologische Sicht auf das Problem erkennen. Mit dem dramatisierenden Ausdruck „Hochrisikosex“ werden zudem unnötig Ängste geschürt, die in der Prävention von STI nichts mehr zu suchen haben sollten. Leider setzt der Autor an mehreren Stellen auf Abschreckung und Angst als Mittel der Prävention, z. B. wenn man sich die expliziten Fotos von Krankheitssymptomen und Geschwüren im Buch anschaut oder Kommentare wie diesen liest: „Die jungen Menschen verloren wieder die Angst und den Respekt vor Aids“ (137). Es trägt nicht zur Problemlösung bei, wenn die Menschen in Ehrfurcht vor dem Virus erstarren und vor lauter Schrecken hysterisch oder paranoid werden. Da sollte man sich eher an die eigene Nase fassen und nach den Ursachen fragen bzw. danach, was vorangehende Generationen verpasst haben, um an der Zahl der Neuinfektionen etwas zu ändern. Zu nennen wären hier u. a. die mangelnde Qualität des Sexualkunde-Unterrichts oder der Informationen, die in den Medien verbreitet werden.
Botschaften, die das Kondom als wirksames Mittel gegen eine HIV-Übertragung propagieren, sieht April skeptisch, weil es zum einen ein Restrisiko gibt und weil es angeblich dazu verleite, auf Gespräche über HIV und STI zu verzichten: Das Kondom als Ausrede dafür, dass man nicht in der Lage ist, miteinander über ein heikles Thema zu sprechen. Das mag bei manchen, die das Kondom anwenden, so sein, macht aber einen Teil des Erfolges dieser Präventionsstrategie aus. Auch jemand, der es nicht gelernt hat, offen über Sexualität zu reden, kann sich relativ sicher mit einem Kondom vor STI schützen. Dass die Fähigkeit der Menschen über Sexuelles zu kommunizieren verbesserungsbedürftig ist, zeigen die Fallbeispiele aus der Praxis des Autors. Aber dieses Manko kann nicht dem Kondom angelastet werden. Konstruktiver wäre es gewesen, im Buch die korrekte Anwendung eines Kondoms zu beschreiben, um dazu beizutragen, die Versagerquote zu senken. Warum der Autor hierauf verzichtet hat, bleibt sein Geheimnis.
Regelmäßige Arztbesuche als weiterer Teil Aprils Strategie gegen STI sind zu befürworten. Ebenso die Ermunterung auch als Patient/ Patientin offen und beherzt sexuelle Themen, Tests oder Screenings anzusprechen. Hierdurch kann die Kommunikation mit dem Arzt/ der Ärztin nur besser werden. An dieser Stelle wäre jedoch auch etwas Selbstkritik angebracht gewesen. Auch die Profis müssen nämlich das Ihre dazu beitragen: indem sie für eine bessere Aus- und Fortbildung in punkto Kommunikation über STI mit ihren Patient(inn)en Sorge tragen.
Fazit
Das Buch „Sprechen über Sex und Infektionsrisiken“ erscheint auf den ersten Blick sehr aufgeschlossen und vernunftorientiert. Auf den zweiten Blick wird jedoch deutlich, welche Haltung ihm zugrunde liegt. Wie den Epidemiologen geht es dem Autor in erster Linie um die Unterbrechung von Infektionsketten, nicht um die Nöte und Schwierigkeiten seiner Patientinnen/ Patienten offen über Themen zu kommunizieren, die auch im Jahre 2012 noch für viele unaussprechlich sind. Diese Unfähigkeit über Infektionsrisiken, Verlustängste oder eitrigen Ausfluss zu sprechen, ist anerzogen und nicht angeboren. Hier hat der Autor sicher Recht, wenn er fordert, trotz aller Ängste immer öfter das Gespräch mit dem Gegenüber zu suchen. Die von April vorgeschlagenen Empfehlungen können dem ein oder anderen hilfreich sein, sich zu überwinden und den ersten Schritt auf den Partner/ die Partnerin zuzugehen. Wenig erfolgversprechend erscheinen jedoch eine ganze Reihe seiner von konservativer Epidemiologie geprägten Ratschläge. Auch wenn er zunächst an einigen Stellen aufgeschlossen und modern wirkt, lässt sich das Rezept des Autors zur Senkung der Infektionszahlen auf folgende Formel reduzieren: die monogame Beziehung oder zumindest eine möglichst geringe Zahl an Sexualpartnern. Mit dieser Strategie vergrätzt er jedoch mindestens die Hälfte seines Publikums, weil er jenen, die das nicht können oder wollen keine tragfähige Alternative anbietet. Wegen seiner kritischen Untertöne gegen das Kondom oder dem Schüren von Infektionsängsten muss er sich zudem fragen lassen, ob er, auch wenn er das explizit von sich weist, nicht doch mit seinem Buch folgende Botschaften aussendet: zum Beispiel, dass derjenige, der nicht gelernt hat über Sex zu sprechen und lieber stillschweigend ein Kondom verwendet oder jemand, der sein Leben lang nicht mit der- oder demselben Sex haben möchte, moralisch gesehen nicht doch ein schlechterer Mensch ist. Mag sein, dass April mit seinem Buch andere Intentionen verfolgt, dann hätte er es aber anders aufbauen und vor allem anders schreiben müssen. Schade, die Chance, ein wertneutrales Buch zur Kommunikation über Infektionsrisiken zu schreiben, wurde vertan, denn, ob gewollt oder ungewollt, die Moral liefert der Autor durch die Hintertür. Und die hilft im Kampf gegen Viren und Bakterien wenig. Im Gegenteil, diejenigen, die andere Moralvorstellungen haben, werden das Buch entweder nicht kaufen oder es bereits nach wenigen Seiten weglegen. Man kann es ihnen nicht verübeln.
Rezension von
Dr. Stefan Timmermanns
Dozent an einer Fachschule für Sozialpädagogik, 2008-2011 Fachreferent bei der Deutschen AIDS-Hilfe e.V., Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualpädagogik e.V.
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Zitiervorschlag
Stefan Timmermanns. Rezension vom 14.01.2013 zu:
Kurt April: Sprechen über Sex – und über Infektionsrisiken. Verlag Hans Huber
(Bern, Göttingen, Toronto, Seattle) 2012.
ISBN 978-3-456-85099-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13856.php, Datum des Zugriffs 07.12.2023.
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