Peter Classen: Die Welt der Bilderdenker (AD(H)S- und Legasthenie)
Rezensiert von Dipl.-Päd. Petra Steinborn, 21.09.2012

Peter Classen: Die Welt der Bilderdenker. Wie AD(H)S- und Legasthenie-Begabte ihre angeborenen Talente entdecken und entfalten können. Verlag Enno Söker Esens (Esens) 2012. 152 Seiten. ISBN 978-3-941163-16-4. 16,90 EUR.
Thema
Der Titel und der Untertitel fassen das Thema des Buches gut zusammen: „Die Welt der Bilderdenker -wie AD(H)S- und Legasthenie-Begabte ihre angeborenen Talente entdecken und entfalten können“. Peter Classen definiert seine eigene Legasthenie und AD(H)S als Begabung und zieht einen Nutzen daraus. Mit diesem Buch will er seine Leser ermuntern, ihm gleich zu tun. Mit dieser Sichtweise führt er weg von der weit verbreiteten defizitären Betrachtungsweise, die mit diesen Erscheinungsbildern verknüpft ist und weist darauf hin, welche Bereicherung Betroffene erfahren können, wenn sie sich diese andere Sichtweise erlauben.
Autor
Peter Classen weiß wovon er spricht. Er ist selbst Legastheniker und ADHSler. Nach der Ausübung verschiedener Berufe (KFZ-Mechaniker, Besitzer eines Autohauses) nach dem Erleben von Höhen und Tiefen in seinem Leben hat er sich seinen Lebensthemen gestellt und einen Weg gefunden, damit umzugehen. Seit 2006 gibt er diese Erkenntnisse in Seminaren, als Lebensberater und Autor dreier Bücher weiter.
Entstehungshintergrund
Diese Buch ist die erweiterte Auflage des 2007 erschienenen Buch“ Ein Legastheniker bricht das Schweigen… und schreibt“, welches mittlerweile vergriffen ist. Es wurde um einen praktischen Teil, der die Arbeitsmethoden aus Peter Classens Seminaren beschreiben, ergänzt und lädt zum Selbststudium ein.
Aufbau
Das Buch hat 19 teilweise kurze Kapitel. Im Fließtext befinden sich farblich markierte Zitate, im letzten Teil des Buches verdeutlichen einige Zeichnungen den Inhalt. Es ist verständlich geschrieben und flüssig zu lesen. Der Autor nähert sich dem Thema mittels verschiedener Blickwinkel, die Erfahrungen, Gedanken, Erkenntnisse spiegeln.
Inhalt
Die Kehrseite der vermeintlichen Lernbehinderung Legasthenie ist eine besondere Begabung eines zumeist nicht entwickelten Talents. Der Autor führt den Leser weg von der pathologischen Mangelsicht der Legasthenie und des AD(H)S. Betroffene haben Kompetenzen! Sie sind nicht schwach, sondern stark. Auf diese Erkenntnis muss man sich einlassen können, um einen Nutzen daraus zu ziehen. Die Gabe liegt in einer anderen Art – in Bildern- zu denken und Informationen zu verarbeiten. Leider wird diese andere Art des Denkens in unserer Gesellschaft nicht als Kompetenz erkannt, sondern als eine Normabweichung mit der Folge, dass Betroffene Ausschluss und gar Isolation erleben.
Peter Classen berichtet aus seinem Leben und aus Begegnungen mit anderen Betroffenen. Er hat am eigenen Leib erfahren, wie wichtig es ist sich selber zu erkennen und mit den eigenen Gaben zufrieden zu sein. Daraus entwickelte er Begleitmethoden (den Begriff Therapie lehnt er ab) und er selber versteht sich als Begleiter.
Im praktischen Teil des Buches beschreibt er wie es gelingen kann, das Lesen zu lernen. Eine Ursache für die Probleme mit dem Lesen liegen in einer ‚Verwirrung? z.B. bei Begriffen, die undeutlich sind. Er beziffert diese in der deutschen Sprache in der Größenordnung von 150 Begriffen. Undeutliche Begriffe sind solche, zu denen man spontan kein Bild vor Augen hat wie gegen, heiß, kalt, links, rechts usw. Diese Undeutlichkeit wirkt ins Hören und Schreiben hinein. Sein Ausweg: man muss sich ein Bild mit möglichst vielen Sinnen machen. An dem Beispiel der Unterscheidung von rechts und links beschreibt er, wie diese Begriffe durch körperliche Erfahrungen gelernt werden. Beim Schreiben werden diese Erfahrungen als Bild abrufbar. Damit aktivieren Menschen ihr Unterbewusstsein und speichern ein Wort in drei Formen ab: 1. als bedeutsames Bild z.B. BAUM, 2. als Klang des Wortes BAUM und in geschriebener Form BAUM. Auf dieser Weise gelingt es das Wort richtig zu schreiben.
Diskussion
Jedes Kapitel befasst sich mit einer anderen Perspektive und alle Kapitel zusammengenommen verbinden sich zu einem großen Ganzen. Es gelingt dem Autors darzustellen, dass es eine Gabe ist Legastheniker oder AD(H)Sler zu sein. Mit der Anerkennung dieser Gabe hilft er Betroffenen ihre Stärken zu erkennen, diese für sich anzunehmen und mit dieser anderen Art der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung in Einklang zu leben. Sein Erfahrungsbericht wirkt sicher für Betroffene entlastend und führt vor Augen, dass es eine Behinderung an sich nicht gibt, sondern sie per Definition erschaffen wird. Das Buch rüttelt auf, vermeintliche Verhaltensauffälligkeiten nicht unreflektiert negativ zu bewerten, sondern sich für diesen anderen Blickwinkel zu öffnen und sich dabei überraschen zu lassen. Peter Classen erlaubt dem Leser Einblicke in seinem Lebensweg. An manchen Stellen bleibt offen, ob er aus seiner persönlichen Erfahrung schreibt oder er seine Erkenntnisse verallgemeinert hat. Im Buch vollzieht er einen Rundumschlag ausgehend von der Erfahrung der Selbstfindung durch Spiritualität über die Themen Mobbing und Alkoholsucht bis hin zu Lernstrategien, die er für sich mit der Zeit als Talente erkannt hat. Trotz der Erklärung der Verarbeitungsmechanismen bleibt die Beschreibung ungenau und wirft in Bezug auf die Vorgänge im Gehirn mehr Fragen als Antworten auf.
Fazit
Peter Classen will Brücken bauen und Verständnis für die Talente Legasthenie und AD(H)S schaffen.
Es ist ihm gelungen einen neuen Blick (befreit vom Nebel) auf eine andere Sichtweise – weg von der Lernbehinderung hin zu einer Gabe zuzulassen. Diese neue Perspektive wirkt für Betroffene entlastend und öffnet Türen, diesen vermeintlichen Mangel als Talent anzuerkennen. Im Buch steht nicht das Defizit, sondern den Mehr-Wert im Fokus.
Das Buch eröffnet auch Professionellen eine neue Perspektive und macht – wenn man sich auf den Schreibstil von Peter Classen einlassen kann – den Blick für die Stärken frei.
Ich kann der Aussage des Verlages zustimmen: Das Buch „richtet sich sowohl an Betroffene als auch an Eltern, Erzieher, Pädagogen, Sozialpädagogen, Therapeuten, Ärzte und an alle Suchenden und allgemein Interessierten“. Wer allerdings vertiefende fachliche Informationen und Erklärungen zu möglichen Ursachen erwartet, wird enttäuscht sein, denn diese gibt das Buch nur marginal her.
Rezension von
Dipl.-Päd. Petra Steinborn
Tätig im Personal- und Qualitätsmanagement in einer großen Ev. Stiftung in Hamburg-Horn. Freiberuflich in eigener Praxis (Heilpraktikerin für Psychotherapie). Leitung von ABC Autismus (Akademie-Beratung-Coaching), Schwerpunkte: Autismus, TEACCH, herausforderndes Verhalten, Strategien der Deeskalation (systemisch), erworbene Hirnschädigungen
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