Gottfried Fischer, Annika Klein et al.: Vom Opfer zum Täter
Rezensiert von Dr. phil. Gernot Hahn, 05.12.2012

Gottfried Fischer, Annika Klein, Alice Orth, Christiane Eichenberg: Vom Opfer zum Täter. Traumafokussiertes Profiling in der Kriminalpsychologie. Asanger Verlag (Kröning) 2012. 188 Seiten. ISBN 978-3-89334-532-8. 29,50 EUR.
Thema
Die vorliegende empirische Studie analysiert die Biografien inhaftierter Gewaltstraftäter aus psychotraumatologischer Sicht. Dadurch wird der Zusammenhang zwischen selbst erlebter frühkindlicher Traumatisierung durch Misshandlung und sexuellen Missbrauch und späterer Gewaltdelinquenz beschrieben. Aus der Studie ergeben sich praktische Hinweise für die traumazentrierte Straftäterbehandlung und für das Profiling in der Kriminalpsychologie.
Autor und Autorinnen
Gottfried Fischer lehrte bis 2009 klinische Psychologie an der Universität Köln. Er gilt als Begründer der Psychotraumatologie in Deutschland und leitet Forschungsinstitute für Psychotraumatologie, Psychologie und Psychotherapiewissenschaft. Leiter der Akademie für Integrative Psychotherapiewissenschaft in Köln und des Instituts für Psychologie und Psychotherapiewissenschaft der Steinbeis Hochschule Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Psychotraumatologie und Psychotherapiewissenschaft (vgl. www.socialnet.de/rezensionen/6266.php).
Annika Klein und Alice Orth sind Diplom-Psychologinnen, praktische Tätigkeit im Strafvollzug.
Christiane Eichenberg, Diplom-Psychologin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Department Psychologie der Universität Köln, Privatdozentin an der Fakultät für Mathematik und Naturwissenschaften Technische der Universität Ilmenau.
Aufbau und Inhalt
Der Band ist in sechs Kapitel unterteilt, in denen theoretische Grundlagen und Befunde der Traumaforschung, die dem Buch zugrunde liegende empirische Studie und sich daraus ergebende praktische Ableitungen für das Profiling und die Straftäterbehandlung abgehandelt werden.
Nach dem Einführungskapitel, in dem die Fragestellung und der Aufbau der Studie erläutert werden geben die Autoren im zweiten Kapitel einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zum Zusammenhang eigener Traumatisierung und späterer Gewaltdelinquenz. Dazu werden verschiedene kriminalistische Ansätze zur Täterprofilerstellung vorgestellt und die empirischen Befunde zum Zusammenhang zwischen Trauma und späterer Täterschaft referiert. Zur weiteren Differenzierung der Thematik erfolgen in Unterkapiteln Überlegungen zur Definition traumatischer Situationen und zu unterschiedlichen Arten traumatischer Ereignisse, die dann in Zusammenhang mit unterschiedlichen Verarbeitungsformen der erlebten Traumata, auch in Abhängigkeit vorhandener Risiko- und Schutzfaktoren gestellt werden. Die Autoren extrahieren aus den vorliegenden aktuellen Forschungsbefunden, dass ein Zusammenhang zwischen der objektiven Seite eines Traumas, d. h. dessen äußerlichen Schweregrades und den individuellen Faktoren der geschädigten Person eine enge Verknüpfung besteht, etwa im Zusammenhang zwischen individuellem Entwicklungsstand und Auftreten der Schädigung. Aufbauend auf diesen Überlegungen erfolgt in weiteren Abschnitten die Darstellung der kurz-, mittel- und langfristigen Auswirkungen traumatischer Erlebnisse, deren Verarbeitung und Kompensation. Im Weiteren wird der aktuelle Wissensstand zur traumabedingten Veränderung der Persönlichkeitsstruktur (v. a. Borderline-Persönlichkeit), die Beeinflussung des Bindungsverhaltens, hirnphysiologische Veränderungen, Abweichungen bei der Affektregulation und Impulskontrolle, oder dem Auftreten dissoziativer Phänomene referiert. Unter Bezugnahme auf die frühen Überlegungen Freuds zur Reinszenierung als Bewältigungsmechanismus traumatischer Erfahrungen (Wiederholung einer unlustvollen Situation mit Umkehr vom Passiven ins Aktive) erfolgt die Zusammenschau aktueller Modellvorstellungen zur Traumatransmission (Symbolisierung durch die Tat bei fehlender Symbolisierungsfähigkeit durch Sprache, Täter-Opferumkehr als Identifikation des Traumatisierten mit dem Täter und als Identifikation mit dem neuen Opfer, dem eine Identifikation mit verhassten Selbstanteilen aufgezwungen wird). Das Kapitel endet mit Überlegungen zu Geschlechterunterschieden und Delinquenz, bevor die inhaltliche Forschungskonzeption der vorliegenden Studie (Einzelfallstudien, darauf aufbauend systematischer Fallvergleich) formuliert wird.
Kapitel drei gibt einen Einblick in das methodische Vorgehen; die Gewinnung der Stichprobe, die Erhebungsinstrumente (Testverfahren und Interviewleitfaden) und die Datenauswertung (Clusterbildung nach Deliktart, Planungsgrad der Tat, Traumageschichte und Persönlichkeitsstil), so dass dem Leser ermöglicht wird die im nächsten Kapitel vorgestellten Forschungsergebnisse hinsichtlich ihrer Generierung aus den Daten nachzuvollziehen.
Die Ergebnisse der Untersuchung werden in Kapitel vier beschrieben und diskutiert. Die Darstellung erfolgt aufgeteilt nach den einzelnen Gruppenvergleichen (Clusterings) getrennt nach Geschlecht, Art des Delikts, Umfang des Planungsgrades, Traumageschichte und Persönlichkeitsstil (Borderline vs. Narzissmus).
Unterschiede im Geschlechtervergleich der TäterInnen ergeben sich in den Bereich Auffälligkeit/Störungsgrad der Eltern und damit verbundene Schuldzuweisungen an den Vater bzw. die Mutter, Beginn und Ausmaß des devianten Verhaltens vor dem Anlassdelikt, Art des Delikts und Nachtatverhalten.
Im Gruppenvergleich nach Art des Delikts fällt auf, dass Probanden mit Tötungsdelikten insgesamt von bürgerlich-unauffälligen Elternhäusern berichteten, während in allen anderen Deliktgruppen auch Gewalttäter aus sozial benachteiligten Milieus zu finden waren. Entsprechend beschreiben lediglich Täter mit Tötungsdelikten von positiven Beziehungen zu Elternteilen. Ebenfalls fallen ausschließlich Tötungsdelinquenten vor der Anlasstat nicht durch pathologisches Verhalten auf, alle übrigen Täter dagegen (oft bereits in Kindheit oder Jugend) durch fremdaggressives und/oder deviantes Verhalten. In der Gruppe der Sexualstraftäter (die nicht differenziert dargestellt wird) fällt auf, dass die Täter während ihrer Straftaten insgesamt unter Drogeneinfluss standen, während Probanden mit Tötungsdelikt zumeist nicht intoxikiert waren.
Das Clustering nach Planungsgrad der Straftat ist in drei Gruppen unterteilt: Planvoll agierende Täter, Kipp-Täter (die vom ursprünglich gefassten Plan im Tatverlauf abweichen), Impulstäter ohne Tatplan und „passive Täter“ (die ebenfalls ohne Tatplan agieren, sich jedoch sehr stark durch ein geschehen-lassen von Impulstätern abgrenzen lassen, keine direkte Gewalt anwenden und ausschließlich weiblich sind). Die Gruppen der geplant agierenden, der Kipp- und der Impulstäter grenzen sich in ihren Biografien deutlich voneinander ab. Planvoll vorgehende Täter sind deutlich unter stabilen Verhältnissen aufgewachsen (bezogen auf materielle und emotionale Werte), Kipp-Täter sind äußerlich unauffällig, zwischenmenschlich jedoch problembehaftet (wobei sie ihre Schwierigkeiten selbst nicht wahrnehmen), Impulstäter weisen zahlreiche Konfliktbereiche auf, die sich sowohl auf die Familienstruktur als auch die finanzielle und soziale Situation der Familie beziehen. Unterschiede bestehen auch im Tatverhalten (Planvoll agierende Täter: Tatvorbereitung und zielgerichtetes Gewaltverhalten mit spontan-konfusen Anteilen; Impulstäter: von außen nicht nachvollziehbare Handlungsabläufe; Kipp-Täter: deutlicher Wechsel in der Tatdurchführung zwischen planvollem und spontanem Verhalten).
Im Gruppenvergleich nach der Traumageschichte ergeben sich drei Untergruppen: das Cluster „frühe Deprivation“ (also Probanden die unmittelbar nach der Geburt ein Deprivationstrauma durch wechselnde Betreuungspersonen, Vernachlässigung und körperliche oder sexuelle Misshandlung traumatisiert wurden), das Cluster „frühe Misshandlung und sexueller Missbrauch in der Kindheit“ und das Cluster „frühe Misshandlung ohne sexuellen Missbrauch in der Kindheit“. Bei Tätern der ersten Clustergruppe dominieren Täter, die zum Zeitpunkt der Tat eine enge persönliche Beziehung zum Opfer haben, welches bei realer Unterlegenheit als dominant erlebt wird. Die Täter stehen unter Drogeneinfluss, die Tatdauer ist eher kurz, die Gewaltanwendung ist deutlich gering, es besteht so gut wie keine Tatplanung. Das Nachtatverhalten ist gekennzeichnet durch Vertuschungs- bzw. Wiedergutmachungshandlungen, die oft dazu führen, dass der Täter zu identifizieren ist. Die zweite Clustergruppe berichtet häufig über Erinnerungsausfälle bezüglich des Tatgeschehens (was mit einem Austreten aus der Situation charakterisiert ist, vergleichbar mit der Situation des eigenen Traumaerlebnisses), der Vergleich zwischen selbst erlebtem Trauma und Tatprofil lässt Wiederholungen bezogen auf Tatort und bestimmte Täterhandlungen erkennen (Wiederholung/Umkehr). Das Nachtatverhalten ist gekennzeichnet durch das Fehlen von Vertuschungshandlungen. Die dritte Vergleichsgruppe fällt durch schwere oder gefährliche Körperverletzungsdelikte auf, das Opfer wird dabei nicht getötet. Die Täter stehen insgesamt unter Drogeneinfluss, die Opfer sind dem Täter (Bewaffnung, Mittäter) objektiv unterlegen, stellen im subjektiven Erleben der Täter jedoch eine Bedrohung dar.
Der Gruppenvergleich nach Persönlichkeitsstil beschreibt weitgehend intakte Verhältnisse in den Herkunftsfamilien bei Tätern mit narzisstischem Persönlichkeitsstil und einschneidende Trennungserfahrungen im Kindesalter, Fremdbetreuung (teilweise mit sexueller Missbrauchserfahrung) bei den Borderlineprobanden. Im Cluster „Borderline“ sind sämtliche Probanden frühkindlich und komplex mehrfach traumatisiert. Im Cluster „Narzissten“ finden sich sowohl Probanden mit, als auch ohne frühkindliche Traumatisierung. Unterschiede ergeben sich im Bereich der Tatdurchführung, wo Borderlinprobanden durch unstrukturierte, über den „Tatzweck“ hinausgehende Handlungen (z. B. bei Sexualdelikten) auffallen, die Handlungen sind, im Vergleich mit narzisstisch geprägten Tätern eher ungeplant und spontan.
Abschließend formulieren die Autoren Rückschlüsse aus den getroffenen Clustervergleichen, die sich auf den Zeitpunkt und das Ausmaß der von den Tätern selbst erlebten Traumatisierung beziehen: „Insbesondere das Ausmaß verwendeter, als ‚Täterhandschrift‘ zu bezeichnender Tatdetails steht im Zusammenhang mit dem Alter bei Ersttraumatisierung: ‚Je früher die Traumatisierung, desto höher die Übereinstimmung zwischen Tat- und Traumaprofil in den Details‘ und „je früher die Traumatisierung und je komplexer die Traumatisierung, desto höher die Detailübereinstimmung“ (156).
Kapitel fünf dient der Reflexion der Forschungsmethodik und einzelner Ergebnisse. Die Autoren setzen sich hier zum einen mit möglichen Problemen im Forschungsprozess, zum anderen mit denkbaren Umsetzungsmöglichkeiten der Forschungsergebnisse in die praktische Tätigkeit, insbesondere in das Täterprofiling auseinander. Vorbehaltlich einer intensiveren Prüfung an großen, regional weniger eng gefassten Stichproben, empfehlen die Autoren Leitfragen zu den Tatortaspekten „Tatplanung und deren konsequente Umsetzung“, „Tatplanung und nicht konsequente Planverwirklichung“ und „desorganisiertes, planloses Deliktverhalten“, entsprechende hypothetischen Ableitungen zur Traumaätiologie des Täters und weitere ermittlungstechnische Ableitungen.
Im abschließenden sechsten Kapitel erfolgt ein Ausblick auf die Bereiche Rückfallprophylaxe und forensische Traumatherapie. Die Autoren bringen hier ihre Forschungsbefunde in Verbindung mit der Tatsache, dass in Justizvollzugsanstalten eine größere Anzahl von Gewaltstraftätern mit eigener frühkindlicher Traumaerfahrung einsitzen. Für deren Behandlung sollte neben forensischen Aspekten (deliktorientierte Kriminaltherapie, sicherer Behandlungsrahmen) eine störungsorientierte Psychotherapie treten, die auch angemessen auf die ursächlichen Bedingungen, also die Traumafolgestörung eingeht.
Zielgruppe
Der Forschungsbericht richtet sich an Fachkräfte aller Berufsgruppen, die in der Beratung und Behandlung von Straftätern tätig sind. Die Autoren argumentieren auf Grundlage ihrer Forschungsergebnisse mit einer konzeptionellen Umgestaltung der Strafvollzugsanstalten i. S. einer stärkeren Betonung der Straftäterbehandlung, was das Buch auch für Verantwortliche in Politik und Verwaltung interessant macht.
Diskussion
Im vorliegenden Forschungsbericht werden die Biografien inhaftierter Gewaltstraftäter unter dem Fokus psychotraumatologischer Aspekte analysiert. Die Autoren greifen dazu auf ein mehrdimensionales Forschungsraster zurück, das Genderaspekte, Deliktart, den Planungsgrad der Delikte, die Traumageschichte der Täter und den Persönlichkeitsstil der Täter berücksichtigt. Die längstens bekannte These zum Zusammenhang frühkindlicher Traumaerfahrung und späterer Täterschaft wird dadurch erneut belegt, zugleich in ihrer Struktur differenzierter beurteilbar. Dadurch werden wichtige Hinweise in Bezug auf weitere Forschungsaufgaben und praktische Handlungsempfehlungen generiert. Durch die gründlich recherchierten und umfangreich gestalteten Einleitungskapitel, in denen auch der aktuelle Wissensstand zur Thematik referiert und zusammen gefasst wird, erhält der Leser einen knappen, jedoch ausreichenden Überblick. Dem Rezensenten fehlt jedoch eine Synopsis zur Traumaverarbeitung, mit Hinweisen auf förderliche und hinderliche Verarbeitungsprozesse. Allerdings ergibt sich aus dem Forschungsdesign, dass genau diese Fragestellung beim hier gewählten Zugang zur Fragestellung ausgeschlossen war. Herausragend ist die Diskussion der Forschungsergebnisse und der möglichen Implikationen für die Praxis in den Bereichen Täterprofiling und Täterbehandlung. Allerdings bleiben die Autoren methodische Hinweise zum Wie einer täterorientierten Traumabehandlung und den damit verbundenen Problemen und Fallstricken schuldig.
Fazit
Dass ein Zusammenhang zwischen selbst erlebten Traumata und späterer Gewaltdelinquenz im Sinn einer Traumatransmission besteht ist durch zahlreiche Publikationen belegt. Weitgehend offen ist jedoch, warum es zu einer solchen Umkehr der Gewalterfahrung kommt. Die vorliegende Studie verschafft neue Einblicke in die Zusammenhänge zwischen traumatischer Erfahrung und ihrer Reinszenierung in Straftaten. Dadurch werden wertvolle Erkenntnisse für die Erstellung von Täterprofilen (Profilings) und das Verständnis der Taten gewonnen, die unverzichtbare Grundlagen für die Behandlung von Gewaltstraftätern sind. Der vorliegende Forschungsbericht ist allen Praktikern in der polizeilichen Täterfahndung und Straftäterbehandlung unbedingt zu empfehlen.
Rezension von
Dr. phil. Gernot Hahn
Diplom Sozialpädagoge (Univ.), Diplom Sozialtherapeut
Leiter der Forensischen Ambulanz der Klinik für Forensische Psychiatrie Erlangen
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