Michael Bohnet: 40 Jahre Brücken zwischen Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 25.10.2012

Michael Bohnet: 40 Jahre Brücken zwischen Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik. ökonomische, ökologische, politische, soziale und kulturelle Bezüge. Scientia Bonnensis (Bonn) 2011. 680 Seiten. ISBN 978-3-940766-43-4.
Wissensbasierte Entwicklungszusammenarbeit braucht Theorie und Praxis
Das Dilemma, einen adäquaten und stimmigen Zusammenhang zwischen theoretischem Denken und praktischer Durchführung zustande zu bringen, verdeutlicht sich insbesondere in der Entwicklungszusammenarbeit. Spätestens seit der Zeitenwende, in der durch interdependente, entgrenzende und globalisierende Prozesse national orientierte Denk- und Handlungsansätze obsolet geworden sind und Entwicklung als eine lokale und globale Aufgabe in allen Bereichen des menschlichen Daseins verstanden werden muss, kommt die globale Gerechtigkeitsfrage als Menschenrecht zur Geltung. Ökonomische, ökologische, politische, soziale und kulturelle Entwicklung der Individuen und Gemeinschaften wird zur Menschheitsaufgabe und Herausforderung für Theorie und Praxis. Die internationale Entwicklungszusammenarbeit, die noch vor einigen Jahrzehnten als „Entwicklungshilfe“ benannt wurde, hat die Aufgabe, Ungerechtigkeiten, die durch unterschiedliche Entwicklungsprozesse entstanden sind und ökonomisch betrachtet, eine Kluft zwischen Wohlhabenden und Habenichtsen bilden, soll durch bi- und multinationale Kooperationen zwischen den so genannten Industrie- und den so genannten Entwicklungsländern durchgeführt werden und, wie dies das BMZ, das in Deutschland für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zuständige Ministerium als „globale Strukturpolitik“ bezeichnet.
Die der Entwicklungspolitik zugrunde liegenden wissenschaftlichen Theorien, die erklären sollen, wie sich Entwicklung vollzieht, sind einem ständigen Wandel unterzogen. Die Frage nach der „Entwicklung der Unterentwicklung“, etwa im Vergleich der überwiegend ökonomischen Entwicklung der Industrieländer zu den Entwicklungsländern, wurde bestimmt von der Messlatte, wie sich Entwicklung zum wirtschaftlichen Wachstum in einer Gesellschaft verhält. „Wenn ihr euch, ihr Unterentwickelten, in eurem wirtschaftlichen Denken und Tun so verhaltet wie wir, seid ihr entwickelt!“; diese „Modernisierungstheorie“ bestimmte über lange Zeit das Denken und politische Handeln der hegemonialen Macht der (westlichen) Industrieländer. Mit den Unabhängigkeitsbewegungen in den ehemaligen Kolonialländern ist in den 1960er Jahren der Gedanke entstanden, dass Entwicklung etwas mit der Weltmacht des Marktes zu tun habe und Entwicklung sich in Abhängigkeit der Peripherie vom Zentrum vollziehe, was mit den Dependencia-Theorien zu fassen versucht wurde. Mit dem Begriff des „self-reliance“ (Selbstverwirklichung) wurde schließlich die Forderung laut, dass jeder Mensch auf der Erde Anspruch hat, seine Grundbedürfnisse (Nahrung – Arbeit – soziale Gerechtigkeit) erfüllen zu können (siehe dazu: Dieter Nohlen, Hg., Lexikon Dritte Welt, rororo 6295, 1984, S. 171ff; sowie: Dieter Nohlen / Franz Nuscheler, Hrsg., Handbuch der Dritten Welt, Bd. 1, 3. Aufl. 1993, 509 S.).
Als in den 1980er Jahren die Erkenntnis wuchs, dass die (traditionellen, unterschiedlichen) „großen Entwicklungstheorien“ gescheitert seien, angesichts der immer weiter und ungerechter auseinanderdriftenden (wirtschaftlichen) Entwicklungsprozesse auf der Erde, da wurden im internationalen Diskurs um globale Entwicklung ganz unterschiedliche Stimmen laut: Während einer der Väter der internationalen Zusammenarbeit, Gunnar Myrdal dazu aufrief, Entwicklungshilfe einzustellen, weil sie keine Entwicklung ermögliche, entstand auch die Erkenntnis, dass es der Bildung von neuen Entwicklungsstrategien bedürfe, die sich nicht mehr an bi- sondern an multilateralen Kooperationen orientiere. Die engagierte, disziplinäre, interdisziplinäre und multilaterale Diskussion wird insbesondere von der von der Serviceeinrichtung für Entwicklungsinitiativen „Engagement Global“ einmal im Monat herausgegebenen Zeitschrift E+Z (Entwicklung und Zusammenarbeit / Englisch D+C, Development and Cooperation) geführt. Ein Perspektivenwechsel hin zu einer multilateralen Entwicklungspolitik wird erkennbar durch die Vereinbarung, die Ende 2011 vom High Level Forum on Aid Effectiveness (HLF) zustande gebracht wurde, bei der die traditionellen Industriestaaten zusammen mit China, Indien, Brasilien und anderen Schwellenländern sich zu einem übergeordneten Handlungsrahmen verpflichtet haben, der jedoch noch keine Umsetzungs- und Aktionskriterien festgelegt hat. Die Suche nach Konzepten für „global Governance“ geht weiter (vgl. dazu auch: Andreas J. Obrecht, Hrsg., Wozu forschen? Wozu entwickeln? Möglichkeiten und Grenzen der soziologischen Forschung für eine partizipative Entwicklungszusammenarbeit, 2004, www.socialnet.de/rezensionen/4805.php).
Entstehungshintergrund und Autor
„So wie Forscher Fähigkeiten von Policy Entrepreneurs entwickeln sollen, müssen Praktiker den Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen üben“; die vom Fabian Scholtes von der KfW-Entwicklungsbank formulierte Aufforderung zu einer Zusammenarbeit zwischen Theoretikern und Praktikern der Entwicklungszusammenarbeit (Fabian Scholtes, Forschung trifft Praxis, in: E+Z 2/2012, S. 77), gilt es zu beachten, wenn es zu einem fruchtbaren Miteinander auf Augenhöhe kommen soll.
Der 1937 in Berlin geborene Michael Bohnet war Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Duisburg und langjähriger leitender Mitarbeiter des BMZ. Sein 40jähriges wissenschaftliches und politisches Engagement in der Entwicklungsforschung und -politik dokumentiert er in einer Sammlung von grundlegenden Buch- und Zeitschriftenbeiträgen aus den Jahren 1960 bis 2010. Die britische Zeitung „The Times“ hat Michael Bohnet 1996 in der Liste der weltweit wichtigsten und einflussreichsten Persönlichkeiten im Bereich „Umwelt und Entwicklung“ aufgeführt.
Aufbau und Inhalt
Der Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik in Bonn, Dirk Messner, tituliert Michael Bohnet im Vorwort als „Brückenbauer zwischen Theorie und Praxis der Entwicklungspolitik“. Seine theoretischen und praktischen Arbeiten, die sich in acht Büchern und mehr als 200 Fachaufsätzen darstellen, zeigen, so der Laudator, in vorbildlicher Weise „das Zusammenwirken von Theorie und Praxis zur Analyse und zur Lösung von Entwicklungsproblemen“.
Der emeritierte Professor für Internationale und Vergleichende Politik an der Universität Duisburg-Essen, Franz Nuscheler, weist in seiner Einführung darauf hin, dass „zwischen Wissenschaft und Entwicklungspolitik ( ) ein ständiger Übersetzungs- und Rückübersetzungsprozess (besteht), der bewirkt, dass sich einerseits der wissenschaftliche Fortschritt durch diesen Rückkopplungseffekt beschleunigt, andererseits der Informationsgrad der Entscheidungsträger erhöht wird“.
Michael Bohnet zeigt mit seinen Beiträgen exemplarisch den Zusammenhang zwischen Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik auf und kommt zu dem Ergebnis, dass „Praxis ( ) geronnene Theorie (ist)“. Mit diesem, so überschriebenem Text, führt Bohnet in den Sammelband ein und differenziert „sieben Übertragungsmechanismen wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis“ heraus und benennt 18 „exemplarische Beispiele des Zusammenhangs von Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik“. Darin subsumiert er die theoretischen Erkenntnisse, wie sie zur Entwicklungszusammenarbeit vorliegen, mit seinen jahrzehntelangen praktischen Erfahrungen als Theoretiker und Praktiker und filtert damit die eher längerfristig als kurzschrittig wirkenden Theorie-Praxis-Konzepte, die von wissenschaftlichen Gutachten bis hin zur Debatte um internationale Steuern (Tobin-Steuer) reichen.
Die Literaturauswahl wird in neun Kapiteln ausgewiesen: Im ersten Kapitel werden zwei Beiträge zu „Entwicklungstheorien“ aus den Jahren 1969 und 1982 dargestellt. Dabei werden zum einen die Forschungsaufgaben der Sozialwissenschaften im Bereich der Entwicklungstheorien aufgewiesen und auf den Zusammenhang von Friedens- und Entwicklungsländerforschung aufmerksam gemacht; zum anderen werden ökonomische Entwicklungstheorien diskutiert und die Verbindung zur Entwicklungspolitik hergestellt.
Im zweiten Teil werden drei Beiträge zur „empirischen Entwicklungsforschung“ abgedruckt: „Kapitalbildung und Wirtschaftsordnung“ (1975), „Einkommensverteilung in Entwicklungsländern“ (1976) und „Konsequenzen für die Entwicklungsländer aus ihrer Integration in den internationalen Warenaustausch“ (1984). Die Zeitdiagnosen verdeutlichen, dass sich die „Nord-Süd-Beziehungen eher den Strukturen an( )nähern, wie sie zwischen Ost und West herrschen“.
Das dritte Kapitel subsumiert sechs Beiträge zu „Grundfragen der Entwicklungspolitik“ aus den Jahren von 1978 bis 2003 und zeigen die verschiedenen Schwerpunktbildungen in der deutschen Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit auf.
Im vierten Teil werden mit vier Texten „Nord-Süd-Politik und Weltkonferenzen“ dargestellt: „Wie können Nord-Süd-Verhandlungen ergiebiger werden?“ (1983), Ergebnisse des Rio-Gipfels“ (1992), „Von Kairo nach Peking. Über die Dynamik internationaler Frauenpolitik“ (1996) und „Konsequenzen der Entwicklungszusammenarbeit aus den Weltkonferenzen der letzten Jahre“ (1997).
Das fünfte Kapitel thematisiert „Thematische / Übersektorale Fragestellungen der Entwicklungszusammenarbeit“ während des Zeitraums von 1988 bis 2004, wie etwa Fragen zur Regierungsberatung in Entwicklungsländern, Umweltschutz, Menschenrechtspolitik, Armutsbekämpfung und Konfliktbewältigung.
Im sechsten Teil werden „sozio-kulturelle Fragen der Entwicklungspolitik und Wirtschaftsethik“ diskutiert, wie: „Sozio-kulturelle Fragen der Entwicklungszusammenarbeit“ (1992), „Zur wirtschaftlichen Bedeutung von Kultur“ (2001) und „Wirtschaftsethik und Entwicklungspolitik“ (2002).
Das siebte Kapitel setzt sich auseinander mit ausgewählten „Regionen / Ländern“, wie z. B.: „Afrika in der Krise. Was ist zu tun? Die Politik der Bundesregierung“ (1990), „Afghanistan: Wiederaufbau eines zerstörten Landes – Der deutsche Beitrag zum internationalen Programm“ (2002), „China: Auf der Suche nach dem Pfad grüner Reformen“ (2008).
Im achten Kapitel wird die „Europäische Entwicklungspolitik“ reflektiert, und zwar „Der Stabilisierungspakt für Südosteuropa…“ (2001), „Entwicklungspolitische Konzeptionen und Entwicklungszusammenarbeit der neuen EU-Mitgliedsstaaten“ (2005) und „Entwicklungspolitik der Europäischen Union“ (2006). „Eine besondere Herausforderung liegt darin, dass sich die EU in ihrem Bestreben, ihr Profil als globaler Akteur zu stärken und ihrer Rolle in der Welt gerecht zu werden, zunehmend neuer Aufgaben annimmt, die sich aber angesichts der anhaltenden finanziellen Engpässe nicht in der Lage sieht, für diese Aufgaben auch zusätzliche Mittel bereit zu stellen“.
Im neunten und letzten Teil wird mit einem Beitrag aus dem Jahr 1991 auf die Notwendigkeit zur „Evaluierung“ hingewiesen, um „Lehren aus der Projektwirklichkeit“ zu ziehen, und zwar sowohl auf der makroökonomischen und makropolitischen, als auch auf der Projektebene. „Wenn ein Projekt nachhaltig wirken soll, muss es zu einem Teil des einheimischen soziokulturellen Systems werden“.
Im Anhang des Sammelbandes wird deutschsprachige Standard- und Übersichtsliteratur zur Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik aus den Jahren 1960 bis 2010 ausgewiesen. Ein Namensregister erleichtert die Nutzung des Handbuchs. Das Inhaltsverzeichnis der elektronisch vorliegenden erweiterten Fassung des Buches „40 Jahre Brücke zwischen Entwicklungsforschung und Entwicklungspolitik“ in zwei Bänden verweist auf weitere Nutzungsmöglichkeiten. In einer Liste werden die Schriften des Ausschusses Entwicklungsländer des Vereins für Socialpolitik aus den Jahren 1959 – 2006 aufgeführt. Und im Anhang E werden Veröffentlichungen von Michael Bohnet aus den Jahren 1967 bis 2010 genannt.
Fazit
Der Zusammenhang von Entwicklung und Politik, von individuellem und kollektivem, lokalem und globalem Denken und Handeln, von wirtschaftlichem und ethischem Verhalten, und nicht zuletzt von kultureller Dominanz und eigenständiger Entwicklung (vgl. dazu: Jürgen Wilhelm, Hrsg., Kultur und globale Entwicklung. Die Bedeutung von Kultur für die politische, wirtschaftliche und soziale Entwicklung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10774.php) bedarf der theoretischen und praktischen Aufmerksamkeit.
Der gewichtige Sammelband, in dem Michael Bohnets 40jähriges Engagement in der Entwicklungsforschung und -politik teils als Faksimile der Originalbeiträge dargestellt werden, ist ein Hand- und Quellenbuch für Theoretiker und Praktiker der Entwicklungszusammenarbeit, für Politiker, für Lehrende und Lernende, für Wissenschaftler und Studierende, denen die Kluft zwischen Theorie und Praxis zuwider ist und die, wie Bohnet überzeugt sind, „dass Begegnung im Medium der Wissenschaft und der Politik des guten Willens bedarf, der inneren Akzeptanz des Partners und der bewussten Bereitschaft zum offenen, vorurteilsfreien Dialog und Austausch“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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