Jürgen Straub (Hrsg.): Der sich selbst verwirklichende Mensch
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 05.10.2012

Jürgen Straub (Hrsg.): Der sich selbst verwirklichende Mensch. Über den Humanismus der humanistischen Psychologie.
transcript
(Bielefeld) 2012.
263 Seiten.
ISBN 978-3-8376-1699-6.
29,80 EUR.
CH: 41,90 sFr.
Reihe: Der Mensch im Netz der Kulturen - Band 12.
„Die Humanistische Psychologie war und ist eine vielfältige und durchaus zwiespältige Angelegenheit“
Der Menschheit Wege aus ihren Miseren, Irrwegen und selbst verschuldeten Katastrophen zu weisen, das nehmen sich über Jahrtausende hinweg immer wieder Menschen vor. Es sind Kassandrarufe genauso wie utopische Projektionen und reale Programme. In den Zeiten der sich immer interdependenter, entgrenzender und globalisierender entwickelnden (Einen?) Welt sind es Prognosen, die von den Berichten des Club of Rome bis hin zu den Bestandsaufnahmen zur Lage der Welt des New Yorker World Watch Institute reichen (siehe dazu die Rezensionen in Socialnet.). Allen ist der Appell gemeinsam, wie ihn die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 in ihrem Bericht „Unsere kreative Vielfalt“ als Aufforderung zum Perspektivenwechsel formuliert hat: „Die Menschheit steht vor der Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“. Diese Suche nach einem „guten“ (Aristoteles) und „geglücktem“ Leben (Elinor Ostrom) kann nicht bestimmt sein von einem egoistischen Immer-Mehr (vgl. dazu die vielfältigen Einlassungen und Diskurse zur Kapitalismus- und Gesellschaftskritik (Holloway, Beck, Morris, Horster, Collier, Senge, u.a.), sondern bedarf einer anderen, humanen Blickrichtung.
Entstehungshintergrund und Herausgeber
Die Humanistische Psychologie entwickelte sich in den 1960er Jahren in den USA, mit dem Ziel, im psychologischen Denken und Handeln der Menschen eine „dritte Kraft“ neben psychoanalytischen und behavioristischen Lebensmodellen einzubringen. Der Mensch als Ganzheit, Humanum und soziales Aktivum ist in der Lage, fähig und Kraft seines Verstandes auch willens, sein Leben selbst zu gestalten. Eine solche optimistische, aktive Betrachtungsweise ist angesichts der lokalen und globalen Katastrophenszenarien, die den Menschen als egoistisches, passives, lern- und wandlungsunfähiges, den „Zwängen“ ausgeliefertes Lebewesen darstellen und den Untergang der Menschheit prognostizieren, nötiger denn je.
Am interuniversitären und interdisziplinären Kulturwissenschaftlichen Institut der Ruhr-Universität Duisburg-Essen gibt es ein u. a. von der Stiftung Mercator gefördertes Forschungsprojekt: „Der Humanismus in der Epoche der Globalisierung – Ein interkultureller Dialog über Kultur, Menschheit und Werte“. Über Teilergebnisse der Forschungsarbeit haben die Kooperanten in der Publikationsreihe „Der Mensch im Netz der Kulturen – Humanismus in der Epoche der Globalisierung / Being Human: Caught in the Web of Cultures – Humanism in the Age of Globalization“ bereits berichtet (u. a.: Jörn Rüsen / Henner Laass, Hrsg., Interkultureller Humanismus. Menschlichkeit in der Vielfalt der Kulturen, 2009, www.socialnet.de/rezensionen/8537.php; Christoph Antweiler, Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10879.php; Jörn Rüsen, Hrsg., Perspektiven der Humanität. Menschsein im Diskurs der Disziplinen, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10385.php Oliver Kozlarek, Moderne als Weltbewusstsein. Ideen für eine humanistische Sozialtheorie in der globalen Moderne, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12558.php).
Das Forschungsteam hat den allgegenwärtigen „psychologische(n) Blick auf das eigene Selbst und seine Beziehungen“ in der globalisierten Welt in einem interdisziplinären Symposium, das sich vom 9. – 11. Juni 2008 mit „Humanismus in der Humanistischen Psychologie“ befasste, aufgenommen. Der an der Fakultät für Sozialwissenschaft an der Universität Bochum lehrende und forschende Sozialtheoretiker und -psychologe Jürgen Straub gibt den Tagungsband heraus.
„Wer mit dem Zustand der Welt und mit sich selbst nicht zufrieden ist, muss philosophieren“, so stellt der Wissenschaftsjournalist Eberhard Straub fest (Eberhard Straub, Zur Tyrannei der Werte, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10807.php). Ergänzend wird man sagen können: und er muss sich der Bedeutung seines psychologischen Soseins bewusst werden.
Aufbau und Inhalt
Im Sammelband kommen Wissenschaftler (warum keine Wissenschaftlerinnen?) zu Wort, die zur historischen Entwicklung der Humanistischen Psychologie Stellung beziehen und sich auf die Suche nach der aktuellen Bedeutung im interdisziplinären Diskurs machen. Neben der Einführung zum Tagungsband reflektiert Jürgen Straub im ersten Beitrag über die Frage: „Wissenschaftliche Psychologie als Humanismus?“, indem er eine „Rekonstruktion eines hybriden Programms zur Errettung der modernen Seele“ vornimmt. Dabei zeigt er die Entstehungsprozesse und Theorien der Wissenschaftsrichtung auf, die von einer popularisierten „Psychologie des Glücks“ bis hin zur „Bewusstseins- und Selbstverwirklichungswissenschaft“ reichen. Diese „grandiose Unbestimmtheit“ kritisiert Straub, indem er feststellt, dass die „Humanistische Psychologie… (der Vergangenheit, JS) eher als Weltanschauung missionarisch handelnder Eiferer erscheint denn als Wissenschaft“ – und demnach einer Revision unterzogen werden muss; etwa hin in Richtung der Handlungs- und Kulturpsychologie.
Der an der Leibniz-Universität Hannover für pädagogische Psychologie tätige Sozialwissenschaftler Alexander Kochinka setzt sich mit „expliziten und impliziten Annahmen über den Menschen und Wissenschaft vom Menschen“ insbesondere in der Gestalt- und Gesprächspsychotherapie auseinander. Er stellt dabei eine Reihe von „nicht richtig Zusammenpassendes“ fest, etwa, wenn „einerseits die Wahlfreiheit des Individuums, seine Kreativität, seine Fähigkeit zur und sein Wunsch nach Selbstverwirklichung in den Mittelpunkt gestellt werden… (andererseits) psychische Prozesse modelliert werden, die keinen Platz für Freiheit lassen“.
Der Münchner Suchttherapeut und Supervisor Helmut Johach (vgl. dazu auch: Manfred Gerspach, Rezension vom 07.04.2010 zu: Helmut Johach: Von Freud zur humanistischen Psychologie. Transcript Verlag, Bielefeld 2009. 336 Seiten. ISBN 978-3-8376-1294-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, www.socialnet.de/rezensionen/9090.php) diskutiert mit „Individualismus und soziale Verantwortung“ kontroverse Tendenzen in der Humanistischen Psychologie. Dabei kommt er jedoch zu dem Ergebnis, dass „im Zeitalter der Globalisierung… der Humanistischen Psychologie heute … eine besondere Aktualität zu(kommt), als sie …eine an den Kriterien von Vorurteils- und Herrschaftsfreiheit orientierte, auf gegenseitige Förderung statt Militanz und Unterdrückung abzielende Dialogkultur ermöglicht“.
Der Kasseler Erziehungswissenschaftler Olaf-Axel Burow reflektiert mit seinem Beitrag „Von der Fragmentierung zum kreativen Feld“ die humanistische Vision als Gegenentwurf zur Kultur des neuen Kapitalismus“. Bei seiner kapitalismus- und gesellschaftskritischen Analyse (vgl. dazu auch: Rolf-Dieter Hepp, Hrsg., Prekarisierung und Flexibilisierung = Precarity and Flexibilisation, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13527.php) bezieht er sich auch auf die von Richard Sennet u.a. formulierte Bedeutung der sozialen Kreativität im unsicherer und kapitalistischer sich gestaltendem Leben der Menschen (Richard Sennet, Respekt im Zeitalter der Ungleichheit, Berlin 2004; sowie: ders., Handwerk, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/1692.php). Er entwickelt daraus ein didaktisches Beispiel für „Synergiekreativität“ und Schlüsselkonzepte zur Schaffung eines kreativen Feldes.
Oliver Kozlarek, dessen Arbeiten zu einer humanistischen Sozialtheorie wir oben bereits genannt haben, benennt in seinem Text „Humanismus als Kritik“ am Beispiel von Erich Fromms „homo negans“ („der Mensch, der ‚nein‘ sagen kann“) und der schöpferischen Liebe in der humanistischen Psychoanalyse Aspekte, die sich an den Fragen der (kapitalisierten und nutzenorientierten) Daseinsbewältigung der Menschen in der neoliberalen Entwicklung reiben und danach, „welche Konsequenzen ( ) ein Denken (hat), … wenn aus ihnen der Bezug zum Menschen herausgekürzt wird?“. In Fromms Denken und seinen progressiven wie kontroversen Auseinandersetzungen, u. a. mit Octavio Paz (1914 – 1998), findet sich, daran erinnert Kozlarek, „die Einsicht, dass (Kritik) nur sinnvoll sein kann, wenn Kritik ihre Normativität aus der Frage extrahiert, wie Menschen menschenwürdig mit ihresgleichen umgehen sollten“.
Jürgen Straub meldet sich mit seiner Frage „Ist die Humanistische Psychologie ein Existentialismus?“ erneut zu Wort. Dabei nimmt er eine „exemplarische Abgrenzung“ zu Sartres (atheistischer) Charakterisierung vor, indem er deutlich macht, dass die Humanistische Psychologie als Weltanschauung wie als systematisch begründete Erfahrungswissenschaft den Glücksversprechen einer schnelllebigen, materialisierten Zeit den Weg ebnete und sich dadurch geradezu anti-existentialistisch darstellt.
Der Berner Psychotherapeut und Psychoonkologe Jürg G. Kollbrunner fordert zu einem „neuen Biss“ auf, indem er „Mundpflege für die Humanistische Psychologie des 21. Jahrhunderts“ anmahnt. Bei seinem Ritt durch die holprigen Holzwege, die gebirgigen Pfade und Irrwege der Bewegung und Entwicklung in der Humanistischen Psychologie begegnen ihm Resignation, Missverständnis und Stoppschilder, aber auch Hinweise auf neu begehbare Wege. Mit dem Begriff „Mundpflege“ wählt er ein Instrument, das sich zur Erneuerung der Humanistischen Psychologie in der medialisierten, manipulativen Öffentlichkeit eignen könnte.
Der Wiener Sozialwissenschaftler und Mitglied des Österreichischen Psychotherapiebeirats, Thomas Slunecko, beschließt den Tagungsband mit seiner Analyse „Der Humanismus im Zeitalter seiner Widerlegung durch die Weltlage“, indem er Konturen für eine post-humanistische Psychologie zeichnet. Mit der Auffassung des Philosophen Peter Sloterdijk – „Die Vertreibung aus den Gewöhnungen des humanistischen Scheins ist das logische Hauptereignis der Gegenwart, dem man sich nicht durch Flucht in den guten Willen entzieht“ (2001) – diskutiert Slunecko die Situation in der „entsicherten Welt“. Diese nicht fatalistisch und resignativ angelegte Analyse mündet in die Herausforderung: „Man muss heute Kybernetiker werden, um überhaupt Humanist bleiben zu können“. Dies kann nach Meinung des Autors erfolgen, wenn es gelingt, „die heraufkommende kybernetische mit der alten humanistischen Ordnung zu verbinden“.
Fazit
Der Tagungsband über den Humanismus in der Humanistischen Psychologie ist kein Abgesang der im 20. Jahrhundert wirksamen Sinnsuche; die Beiträge bringen auch kein nostalgisch aufgeladenes Bedauern über die Zeitenwende zum Ausdruck; vielmehr zeigen die interdisziplinären Auseinandersetzungen über die Entwicklung der Humanistischen Psychologie und ihrer verwandten Ausprägungen ein wissenschaftliches Bemühen, die „dritte Kraft“ in der modernen Psychologie nicht nur zu erinnern, sondern nach ihren Wurzeln zu graben, ihre Austriebe zu beschneiden, zu verpflanzen und gewissermaßen neu zu beleben. Es sind vor allem die positiven Einstellungen zum Leben und zur Hoffnung, dass der Mensch ein wandelbares Lebewesen ist hin zu einem guten, solidarischen Dasein in einer gerechteren (Einen?) Welt, die eine Neuorientierung der Humanistischen Psychologie notwendig und lohnenswert macht!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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