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Margret Müller, Norbert Seidl: Lebenswelt für demenzkranke Menschen

Rezensiert von Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind, 24.02.2004

Cover Margret Müller, Norbert Seidl: Lebenswelt für demenzkranke Menschen ISBN 978-3-936065-12-1

Margret Müller, Norbert Seidl: Lebenswelt für demenzkranke Menschen. Modellprojekt heimverbundene Hausgemeinschaft Wetter. Fachhochschulverlag (Frankfurt am Main) 2003. 128 Seiten. ISBN 978-3-936065-12-1. 9,50 EUR.
Reihe Dementia services development, Band 2.

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Zur Thematik und Vorgeschichte des Buches

Im Bereich der stationären Altenhilfe haben sich in letzter Zeit gravierende Veränderungen hinsichtlich der Versorgung Demenzkranker zugetragen. Bis vor einigen Jahren galt das Dogma der so genannten "integrativen" Betreuung Demenzkranker. Das bedeutete, Demenzkranke und Nicht-Demenzkranke gemeinsam in einem Wohnbereich oder auf einer Station zu versorgen. Ausnahmen wurden nur dahingehend gemacht, dass besonders unruhige und laute Bewohner tagsüber in besonderen Räumlichkeiten betreut wurden (das "teilintegrative Konzept"). Demenzstationen wurden hingegen als "Segregation", "Ausgrenzung" und Gettobildung" und damit als Versorgungsansatz minderer Qualität aufgefasst.

Erst die Rezeption internationaler Erfahrungen in der stationären Versorgung Demenzkranker führte vor ca. 10 Jahren zu einem allmählichen Umdenken. Die Wohngruppen aus Schweden, die demenzspezifischen Pflegeheime in den Niederlanden und in England sind Beispiele für neue demenzspezifische Milieustrukturen, die zusehends auch Befürworter in Deutschland fanden. Auch das so genannte Cantou-Modell aus Frankreich gehört zu diesen demenzspezifischen Ansätzen. Bei dem Cantou handelt es sich um eine Demenzwohngruppe, bei der neben der Pflege und Betreuung auch hauswirtschaftliche Tätigkeiten (Einkaufen, Kochen, Abwaschen, Wäsche waschen) verrichtet werden.

Den Ansatz des "Cantou" nahm das KDA als Grundlage für sein Modell "Hausgemeinschaft", das sie seit einigen Jahren mit geringem Erfolg als "vierte Generation" des Altenpflegeheimbaus propagiert.

Die vorliegende Arbeit versteht sich als eine wissenschaftliche Begleitung eines Modellprojektes heimverbundene Hausgemeinschaft in Wetter (Hessen).

Die Autoren sind Mitarbeiter der Fachhochschule Frankfurt.

Inhalt

Zu Beginn der Arbeit werden knappe und recht allgemeine Ausführungen über das gerontopsychiatrische Versorgungssystem in Deutschland und neuere Ansätze aus dem Ausland gemacht. Im Anschluss hieran wird die "Hausgemeinschaft" als "neues Paradigma in der stationären Versorgung" Demenzkranker ausgegeben und mit folgenden Attributen belegt: Deinstitutionalisierung, Personen- und Alltagsorientierung und Normalität (Kapitel I - III).

In Kapitel IV wird eine Konzeptanalyse der heimverbundenen Hausgemeinschaft in Wetter vorgenommen, wobei folgende Aspekte im Mittelpunkt der Darstellung stehen: Alltagsnormalität als Struktur (Tagesstruktur, Aufnahme- und Ausschlusskriterien, die Rolle der Angehörigen), die Räumlichkeiten zum Wohnen, das Personalkonzept, Dienstgestaltung und Finanzierung.

Bei dem Modell in Wetter handelt es sich um eine 223 qm große Wohnung im Erdgeschoß eines Mehrfamilienhauses, in der sechs Demenzkranke ständig von zwei Pflege- bzw. Hauswirtschaftsmitarbeiterinnen versorgt werden. Organisatorisch und wirtschaftlich ist diese Wohngruppe an ein Altenpflegeheim im selben Ort angebunden. Die Mehrkosten dieses Modell werden durch Umlage von den Heimbewohnern (erhöhter Pflegesatz) getragen.

In den folgenden Kapiteln V - VIII haben die Autoren u. a. die Vorgehensweisen ihrer wissenschaftlichen Begleitung erläutert:

  • Auswertung und Analyse der Pflegedokumentation im Zeitraum Dezember 1999 bis einschließlich April 2001 (ca. 500 Seiten)
  • Teilnehmende Beobachtung an vier Messzeitpunkten: an zwei Tagen ganztägig und an zwei Tagen nur nachmittags. Alle Informationen wurden durch Tonbandaufzeichnungen dokumentiert und anschließend transkribiert.
  • Befragung der Mitarbeiter mittels eines "leitfadengestützten Interviews mit narrativem Charakter". Alle Interviews wurden auch mit Tonband aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Zwei der sieben Mitarbeiter aus dem Tagdienst verweigerten jedoch die Teilnahme an der Mitarbeiterbefragung.

Kapitel VIII enthält die Ergebnisse der Untersuchung und einen Ausblick. Es wird hierbei besonders die neue Qualität oder der "Paradigmenwechsel" in der neuen Konzeption "Hausgemeinschaft" hervorgehoben: die besondere Berücksichtigung der Bedürfnisse und Wünsche der Demenzkranken. Nach Einschätzung der Autoren bieten traditionelle stationäre Versorgungsformen nicht diese strukturellen Rahmenbedingungen einer Hausgemeinschaft.

Im Anhang werden wesentliche Informationen, Daten und Fakten über das Modellvorhaben Hausgemeinschaft Wetter zusammengetragen: u. a. über die Konzeption, die Bewohner und das Personal.

Kritische Würdigung

Folgende Sachverhalte der vorliegenden Publikation sind nach Einschätzung des Rezensenten unzureichend und damit kritikwürdig:

  • Es fehlen Informationen über die Bewohner: Schweregrad der Demenz (keine Demenzdiagnostik), keine Hinweise über das Ausmaß demenzspezifischer Verhaltensweisen, keine Informationen über den Grad der kognitiven und ADL-bezogenen Einschränkungen (Hilfe- und Pflegedürftigkeit) und das Fehlen der Informationen über den Umfang und die Intensität der hauswirtschaftlichen Handlungen bei der Gestaltung des Alltags.
  • Keine Informationen über die Gestaltung des Tages bezüglich der Verknüpfung von hauswirtschaftlichen und pflegerischen Handlungen bei den Mitarbeitern werden angeführt.
  • Das Ausmaß der Angehörigenintegration, die für Demenzwohngruppen äußerst wichtig ist, wird nicht durch Fakten oder Fallbeispiele belegt.
  • Die Aspekte des Personaleinsatzes bei nur sechs Bewohnern und die damit verbundenen erhöhten Personal- und auch Pflegekosten werden weder thematisiert noch kritisch analysiert.
  • Es dominieren programmatische Aussagen über das Positive der Hausgemeinschaft an sich ohne ausreichende Begründung durch Daten und Fakten. Auch wird der Nachweis nicht erbracht, warum das Modell "Hausgemeinschaft" gegenüber einer Demenzwohngruppe im Heim überlegen ist.
  • Es fehlt bei den Autoren die kritische Distanz zu der Konzeption insgesamt. Es herrscht also ein bewusste Parteinahme für das Modell vor, die wiederum eine wissenschaftliche Aufarbeitung und Analyse nicht zulässt. So werden z. B. die in der Fachliteratur aufgezeigten Schwachstellen des Konzeptes Hausgemeinschaft nicht angeführt und interpretiert.

Fazit

Einschätzungen, die in dem Modell Hausgemeinschaft eine Fehlentwicklung hinsichtlich Organisation, Struktur und Klientelbezogenheit sehen, können durch vorliegende Erhebung nicht entkräftet werden. Die Aussagen der Autoren bleiben im Affirmativen verhaftet und können somit kein komplexes und reflektiertes Bild von diesem Konzept erstellen. Entsprechend gering ist damit auch der Stellenwert dieser Publikation für die fachliche Auseinandersetzung.

Rezension von
Dr. phil. Dipl.-Psychol. Sven Lind
Gerontologische Beratung Haan
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Zitiervorschlag
Sven Lind. Rezension vom 24.02.2004 zu: Margret Müller, Norbert Seidl: Lebenswelt für demenzkranke Menschen. Modellprojekt heimverbundene Hausgemeinschaft Wetter. Fachhochschulverlag (Frankfurt am Main) 2003. ISBN 978-3-936065-12-1. Reihe Dementia services development, Band 2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/1389.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.


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