Martin Nörber (Hrsg.): Peer-Education
Rezensiert von Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker, 03.06.2003

Martin Nörber (Hrsg.): Peer-Education. Bildung und Erziehung von Gleichaltrigen durch Gleichaltrige. Votum Verlag (Münster) 2003. 383 Seiten. ISBN 978-3-407-55891-6. D: 39,90 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 66,00 sFr.
Zum Verlag, in dem das Buch erscheint
Das von Martin Nörber herausgegebene Buch zur Peer Education ist m. W. das erste in der neuen Reihe Beltz-Votum. Das ist zunächst ein Anlass, der verlorenen Eigenständigkeit des Votum Verlages Münster nachzutrauern. Der Verlag hat mit seinem deutlichen Schwerpunkt auf Jugendhilfe für deren wissenschaftliche Reflexion und praktische Qualifikation Wichtiges geleistet. Dank dafür gebührt dem maßgeblichen Gründer und erfolgreichen Geschäftsführer des Votum Verlages Ullrich Gintzel.
Rückbesinnung auf die Ursprünge
Angesichts eines so angesagten Themas wie "Peer Education" erstaunt es auf den ersten Blick, dass das Buch einen größeren historischen Rückblick auf ältere theoretischen Reflexionen über Gleichaltrigenerziehung bietet, zum einen von David Ausubel (1968) über die Funktion gleichaltriger Jugendgruppen und zwei größere Texte von Brigitte Naudascher, und zwar Auszüge aus ihrem Buch "Die Gleichaltrigen als Erzieher" von 1977 und "Jugend und Peer Group" von 1978. Ein zweiter Blick macht deutlich, dass die damals geleistete theoretische Komplexität der Reflexion zum Thema bisher kaum eingeholt ist. Stattdessen scheint die Peer Education besonders vom "Machen, Machen, Machen" bestimmt zu sein und weniger von einer kritischen Analyse und theoretischen Bestimmung. Nörbers Buch kann nun als ein erfreulicher Einstieg in eine solche auch theoretisch fundierte Analyse von Peer Education gesehen werden.
Aufbau und Inhalte
Das Buch hat zwei große Teile: zum einen die theoretische Reflexion (mit den heutigen und historischen AutorInnen) und zum anderen eine Vorstellung der verschiedenartigsten praktischen Ansätze von Peer Education.
Die theoretischen Reflexionen liefern differenzierte Betrachtungen des Peer Group-Phänomens (AutorInnen: C. Dannenbeck, G. Klosinski, A. Schröder), wobei besonders auf die psychologischen Prozesse in Peer Groups eingegangen wird und weniger auf soziologische Deutungsweisen, und Texte zur Peer Education als sozialpädagogische Arbeitsweise (M. Kästner, E. Apel und M. Nörber). Nörber - ein profunder Kenner der Jugendverbandsarbeit - liefert den theoretisch aufschlussreichsten Text, der auch angesichts der aktuellen Debatte prüft, inwieweit Peer Education ein Bildungs- oder Erziehungsangebot ist. Eine Bestimmung dieser Begriffe (Erziehung als gesellschaftliche Normierung und Kompetenzvermittlung; Bildung als selbsttätige Entwicklung von Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität) erlauben ihm, kritisch zu prüfen, ob und welche Peer Education-Ansätze "nur" erzieherisch sind (besonders in Schule) und in Gefahr geraten, Jugendliche für Erwachsenen-Zwecke zu funktionalisieren, und wo sie bildende Potenziale entfalten (in der Jugendarbeit). Die Herkunft vieler Peer-Projekte aus Schule und Prävention zeigt, dass es häufig um eine trickreiche "Nutzung" (Nörber) von Jugendlichen für erzieherische Ziele von Erwachsenen und Institutionen geht. Jugendliche sollen dann von Erwachsenen trainiert und in ihrem Auftrag als "Hilfssheriffs" Gleichaltrigen Wissen vermitteln und sie zum richtigen Handeln anhalten. Es fragt sich folgerichtig, wer denn von solcher "Education" profitiere: die "agierenden" oder auch die "agitierten" Jugendlichen (Nörber)? Anders gesagt: gelingt es nur für die "Educators" oder auch für die Endverbraucher - wie es Ziel von Jugendarbeit ist - Bildung im Sinne von Ausweitung von Selbstbestimmung und Partizipation möglich zu machen? Mit dieser Perspektive kann man die vielen Praxisberichte kritisch unter die Lupe nehmen, man kann sie aber auch als Anregung und Anleitung für eigene Projekte nutzen.
Eine empirische Analyse zur Wirkung eines Peer Education-Programms zu Liebe, Sexualität und Schwangerschaftsverhütung (E.Appel/D. Kleiber) zeigt denn auch (in Übereinstimmung mit den Selbsteinschätzungen der vielen Projektberichte im Buch), dass die agierenden Peers profitieren - sie erfahren besonders Wissenszuwachs,
aber zum Teil auch Steigerung von Selbstvertrauen und Kommunikationskompetenz, während die agitierten Peers kaum Wirkungen zu erkennen geben.
Die Themen der vorgestellten Peer Education-Projekte sind weitreichend: AIDS und Sexualität, Drogengebrauch, Computerkompetenz bei Mädchen, Streitschlichtung, Natur und Umwelt, Unterstützung, Beratung und Begleitung von Jugendlichen. Die Vorgehensweise der Projekte ist im Prinzip immer ähnlich: Es müssen (geeignete!) Gleichaltrige für das Projekt gewonnen werden, sie werden ausgebildet und auf Peers losgelassen (mit unterschiedlichen Begleitungen, Reflexionen und Evaluationen). Die meisten Projekte wollen Wissen und Handlungskompetenz der Zielgruppe steigern. Viele betonen den Wert der jugendlichen Partizipation in den Projekten, besonders die Beteiligungsrechte für die Peer Educators. Nicht immer wird dies umgesetzt: Je enger die Projekte ein bestimmtes "Curriculum" durchziehen, desto geringer sind die Veränderungschancen der mitwirkenden Jugendlichen. Einer ganzen Reihe Projekte gelingt es aber doch, den aktiven Peers Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen.
Je präventiver die Ausrichtung des Projektes, desto defizitärer fällt das jeweils unterstellte Bild der Endverbraucher aus. Nur zwei Projekten gelingt es dagegen aus meiner Sicht, Erfahrungen bildender Jugendarbeit zu eröffnen, in der die Interessen und (Selbstbestimmungs-)Potenziale der teilnehmenden Jugendlichen herausgefordert werden. So in einem Streitschlichterprojekt der Falken in einem großen Bundeskinderzeltlager (die 8- bis 15-jährigen Streitschlichter betrachteten Konflikte nicht als zu präventivierende Gewalt, sondern als normal und ermöglichen sich und anderen, zu konstruktiven, selbstbestimmten Lösungen zu kommen und so Mitbestimmung im Zeltlager insgesamt auszuweiten). Der Suchtbeauftragte (!) des Hohenlohekreises initiierte ein Peer-Projekt der Jugendtelefon- und -internetberatung. Aber ausgehend von den durch die Peer-Berater erkannten Bedarfen an weiterer Jugendarbeit wurden über das ursprüngliche Projekt weit hinausgehenden Initiativen realisiert, z.B. ein Internetradio, ein Jugendbandwettbewerb, ein Ferienprogramm und eine Taschengeldbörse. Hier wurden Jugendliche nicht für erwachsene Erziehungsziele funktionalisiert, sondern ihre Interessen wurden unter ihrer Mitbestimmung und Mitgestaltung realisiert und so jugendarbeiterische Bildung möglich.
Fazit
Das Buch ist so empfehlenswert, weil es zweierlei leistet. Zum einen bietet es Rüstzeug für eine theoretische Reflexion und Weiterentwicklung von Peer Education, zum anderen ein breites Spektrum von Projekten, aus deren Erfahrungen man lernen kann.
Einziges Manko: Mir fehlen einige Texte über den "Klassiker" der Peer Education, nämlich die traditionelle (und durchaus nicht anachronistische) Gruppenarbeit und Gruppenleitung von Peers in der Jugendverbandsarbeit.
Rezension von
Prof. Dr. Benedikt Sturzenhecker
Universität Hamburg
Fakultät für Erziehungswissenschaft
Fachbereich 2, Arbeitsbereich Sozialpädagogik/Außerschulische Bildung
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