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Daniel N. Stern, Nadia Bruschweiler-Stern et al.: Veränderungsprozesse

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.10.2012

Cover Daniel N. Stern, Nadia Bruschweiler-Stern et al.: Veränderungsprozesse ISBN 978-3-86099-901-1

Daniel N. Stern, Nadia Bruschweiler-Stern, Karlen Lyons-Ruth, Alexander C. Morgan, Jeremy P. Nahum, Louis P. Sander: Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma. Brandes & Apsel (Frankfurt) 2012. 277 Seiten. ISBN 978-3-86099-901-1. D: 29,90 EUR, A: 30,80 EUR.
Aus dem Amerikan. übers. von Elisabeth Vorspoh.

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Thema

Forschung, vor allem wenn es um die menschliche Psyche geht, ist immer auf dem Weg. Die gerade auf anthropologische und psychologische Aspekte stützende, psychoanalytische und -therapeutische Nachschau darüber, wie sich Veränderungen in der menschlichen Entwicklung vollziehen, ist darauf angewiesen, dass die Forschung sich interdisziplinär organisiert. Die Boston Change Process Study Group (BCPSG) ist ein in den 1990er Jahren entstandene Forschungsinitiative, die auf die theoretischen und praktischen Prozesse der Entwicklungsforschung, vornehmlich der Säuglingsforschung, reagiert und die verschiedenen Theoriebildungen, Abwandlungen, Gedankengänge, Feldversuche und praktische Psychoanalyse zu einem kohärenten Modell zusammenführt, das den Reichtum des therapeutischen Austauschs verdeutlicht.

Mit der „Theorie der Entwicklung“ soll es gelingen, für die psychotherapeutische Behandlung Orientierungshilfen zur Verfügung zu stellen. Das Modell gründet auf der Annahme, dass die Qualität der therapeutischen Beziehung ein Anker für die Veränderung des impliziten Beziehungswissens zwischen Patient und Therapeut ist. Dabei bestimmen, unter Berücksichtigung des historischen Verlaufs im psychologischen, psychotherapeutischen und psychoanalytischen Diskurses, sechs Paradigmen das psychoanalytische Denken: Die Ablösung der Eine-Person-, durch eine Zwei-Personen-Psychologie – die wachsende Bedeutung der entwicklungspsychologischen Forschung für die Konzeptualisierung von therapeutischen Interaktionen – der Beitrag des dynamisch-systemischen Denkens – die Berücksichtigung der Intersubjektive und das Interaktive im Entwicklungsprozess – die wichtige Rolle der impliziten Kommunikation – die Rolle der Intention als primärer Regulator des interaktiven Austauschs.

Autorinnen und Autoren

Der US-amerikanische Entwicklungspsychologe und Psychoanalytiker, Honorarprofessor an der Universität in Genf, Lehrernder an der Cornell University Medical School, Lektor an der Columbia University und Mitglied der BCPSG, Daniel N. Stern, gibt das Fachbuch heraus. Im Brandes & Apsel Verlag sind in dritter Auflage von ihm erschienen: „Der Gegenwartsmoment. Veränderungsprozesse in Psychoanalyse, Psychotherapie und Alltag; sowie: Ausdrucksformender Vitalität, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11513.php).

Das 2010 im W. W. Norton & Company Verlag New York erschienene Buch „Chance in Psychotherapy. A Unifying Paradigm“ wird erstmals in deutscher Sprache vorgelegt. Es handelt sich überwiegend um Publikationen, die von den Autorinnen und Autoren der BCPSG (Daniel N. Stern, Nadia Bruschweiler-Stern, Karlen Lyons-Ruth, Alexander C. Morgan, Jeremy P. Nahum, Louis W. Sander) in verschiedenen Fachzeitschriften veröffentlicht wurden.

Aufbau und Inhalt

Das vereinheitlichende Paradigma der Theoriebildung zur Darstellung von Veränderungsprozessen in der Psychotherapie wird im ersten Kapitel mit dem Beitrag „Nicht-deutende Mechanismen in der psychoanalytischen Therapie: Das ‚Etwas-Mehr‘ als Deutung“ positioniert, indem mit dem „Etwas-Mehr“ Veränderungsprozesse angesprochen werden, die „etwas mehr voraussetzt als lediglich die Deutung im Sinne eines Bewusstmachens des Unbewussten“. Mit Hilfe von klinischem Material wird ein Rahmen geschaffen, „innerhalb dessen das Etwas-Mehr verstehbar wird, und … wo und wie es seine Wirkung entfaltet“; und zwar in zwei Bereichen: dem deklarativen – oder bewussten verbalen – und dem impliziten prozeduralen oder relationalen Bereich. Es ist der „Moment der Begegnung“ zwischen den Interakteuren, der implizites Beziehungswissen zu einer gemeinsamen impliziten Begegnung im therapeutischen Veränderungsprozess schaffen kann.

Im zweiten Kapitel wird „implizites Beziehungswissen“ als Konstrukt diskutiert, „durch das die ‚inneren Objektbeziehungen‘ in ein umfassenderes Repräsentationssystem aufgenommen werden“. In Fallbeispielen und Forschungsergebnissen zeigt das BCPSG-Team auf, wie Begegnungsmoment und Deutung wirksam werden können, um „einen neuen Zustand der Intersubjektivität“ zu erreichen.

Das dritte Kapitel befasst sich mit „Erkennungs-, Anerkennungs- und Rekognitionsprozessen“, die vom Teammitglied Louis W. Sander erforscht werden: „Ich spüre, dass du spürst, dass ich spüre…“; es sind die Grundlagen der „dyadischen Systeme“, die Rekognitionsprozesse und die relationalen Schritte im psychotherapeutischen Setting aufzeigen: „Wenn sich zwei Psychen aufeinander einlassen, entsteht etwas Neues und Einzigartiges, nämlich ein intersubjektives Feld“.

Im vierten Kapitel setzen sich die Autoren mit der Mikroebene der therapeutischen Interaktion auseinander: „Das Implizite erklären: Die lokale Ebene und der Mikroprozess der Veränderung in der analytischen Situation“. Es ist die „Ebene der intersubjektiven Regulation im Bereich des impliziten Wissens auf der lokalen Ebene“, in der „emotionale Prozeduren oder implizites Beziehungswissen verankert und lebenslang reorganisiert“ wird.

Im fünften Kapitel wird aufgezeigt, „dass sozial ausgerichtete Intentionen häufig als gemeinsame Richtungen oder als Eigenschaften der Dyade und nicht des Individuums auftauchen: „Das ‚Etwas-Mehr‘ als Deutung im kritischen Rückblick : Ungenauigkeit und Ko-Kreativität in der psychoanalytischen Begegnung“. Dabei werden die Ungenauigkeiten, wie sie in mehreren Fallbeispielen vorgestellt werden, nicht als Fehler oder Entgleisung des therapeutischen Dialogs betrachtet, sondern „als Erzeugerin potentiell kreativer Elemente, die die Richtung der weiteren dyadischen Entwicklung auf unerwartete, ja sogar unverwechselbare Weise verändern kann“.

Das sechste Kapitel thematisiert das Problem, wie Konflikte im psychoanalytischen Sinn verstanden werden. Es geht um die Frage, wie „die dynamischen Eigenschaften von Affekt und Intentionalität ( ) … auf die verbal-reflexive Ebene transportiert und explizit bearbeitet werden (können)“ – „Die Fundierungsebene psychodynamischer Bedeutung: Impliziter Prozess und seine Beziehung zu Konflikt, Abwehr und dynamischem Unbewussten“. Die Fallbeispiele dokumentieren, „dass Konflikte und Abwehrvorgänge im Bereich implizit repräsentierter Interaktionen erzeugt werden und sich herausbilden, wenn sie in der Beziehung gelebt werden“.

Im siebten Kapitel geht es um „Formen relationaler Bedeutung“. Dabei werden problematische Aspekte der Beziehung zwischen den Bereichen des Impliziten und des Reflexiv-Verbalen diskutiert. Die Unterscheidung zwischen Sprachlichem und Nichtsprachlichem, als Gesten etwa, bestimmt die Entschlüsselung von Bedeutungen. Im „Prozess der Intentionsentfaltung“ beruhen die Kommunikationsschritte in der Therapie auf drei Komponenten: Die Intention wird implizit erlebt – Die implizite Erfahrung gründet in nonverbalen mentalen/körperlichen Konzepten – Zwischen dem Impliziten und dem Reflexiv-Verbalen besteht eine unausweichliche Disjunktion.

Das achte und letzte Kapitel bringt, gewissermaßen als Zusammenfassung des integrativen Paradigmas, „eine Erklärung der therapeutischen Wirkung unter dem Blickwinkel impliziter relationaler Prozesse“. Dabei wird die Vorstellung modifiziert, dass therapeutische Veränderungen (allein) auf der Qualität der Interventionen des Analytikers beruhe. Das Konzept geht vielmehr aus von „einem dyadischen Blickwinkel und definiert Qualität innerhalb eines relationalen Modells, das die Betonung auf Eigenschaften des Prozesses legt, der sich zwischen zwei Personen entwickelt“.

Fazit

Die fachspezifische Darstellung des integrativen Paradigmas, als „Theorie der Entwicklung“, lässt sich als ein „Mehr“ und „Anderes“ im psychoanalytischen Diskurs lesen. Die Abwendung von einer Ein-Person- und Hinwendung zu einer Zwei-Person-Psychologie, wie auch eine Veränderung der Konzeptualisierung therapeutischer Interaktionen, hin zu einer stärkeren Berücksichtigung des Beziehungswissens im intersubjektiven Feld, „das durch die Überschneidung des impliziten Beziehungswissens des Patienten einerseits und des Therapeuten andererseits konstituiert wird“, eröffnet sich für die Psychoanalyse, beginnend mit der Säuglingsforschung und sich ausweitend auf die gesamtpsychische Verfasstheit des Menschen, eine neue Betrachtung, die Auswirkungen auch auf die kognitiven Neurowissenschaften haben dürften. Zu recht titelt der Verlag das Buch als Grundlagenwerk, das in der Forschung, Lehre und Praxis seinen Platz hat!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1693 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245