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Steffen Mau: Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.11.2012

Cover Steffen Mau: Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? ISBN 978-3-518-06215-9

Steffen Mau: Lebenschancen. Wohin driftet die Mittelschicht? Suhrkamp Verlag (Frankfurt/M) 2012. 271 Seiten. ISBN 978-3-518-06215-9. D: 18,00 EUR, A: 18,50 EUR, CH: 25,90 sFr.
Reihe: Edition Suhrkamp - Sonderdruck.

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Die neuen gesellschaftlichen Gefährdungen

Wenn es um Deutungen geht, wie sich gesellschaftliche Entwicklungen vollziehen und analysiert werden können, ist es manchmal hilfreich, dem Volk aufs Maul zu schauen. In Sprichwörtern und Zitaten nämlich kann man die Wegegabelungen, Sackgassen, Einbahnstraßen und vorplanierten Prachtboulevards er-fahren und eine Ahnung von den Wirklichkeiten, Prophezeiungen und Ideologien bekommen, die in der jeweiligen gesellschaftlichen Entwicklung angesagt sind. Es ist die doppeldeutige Zuweisung des Sprichworts „Ab durch die Mitte“, zum einen in der Bedeutung von „auf dem schnellsten Weg abtreten“, beim Theater; zum anderen in der militärischen Praxis des schmerzhaften und unwürdigen „Spießrutenlaufens“, die den gesellschaftlichen Status des Mittelstandes signalisiert. Oder es bieten sich Parallelen an, wie sie sich in der Spielanweisung beim asiatischen Go-Brettspiel zeigen: „Versuche nicht auf direktem Weg die Mitte zu besetzen“, weil du damit verlieren wirst und dem Gegner ein leichtes Spiel bietest. Auch das ebenfalls aus Asien stammende Sprichwort kann herangezogen werden: „Wer seine Mitte nicht verliert, der dauert“, was im deutschen Sprichwort heißt: „Wenn du mit dir selbst im Reinen bist, bist du sicher!“.

Nicht von Ungefähr sind die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um Aufstieg und Macht und die Furcht vor Abstieg und Ohnmacht immer schon Bestandteil im gemeinschaftlichen Zusammenleben der Menschen gewesen – sie sind es heute noch und werden es auch in Zukunft sein! Sich dabei in der Mitte zu platzieren, suggeriert nicht selten das Gefühl von Sicherheit und Beständigkeit, verspricht Ausgleich, Wohlstand und Frieden und schützt vor den Gefahren, die sich an der Spitze oder kurz vor dem Abgrund auftun. Da erscheint es ratsam, sich in die Mitte zu begeben und für seine Lebensperspektiven den Mittelweg einzuschlagen. Diese, spätestens seit dem 18. und 19. Jahrhundert akzeptierte und in demokratischen Gesellschaften gewissermaßen als Mainstream eingeschliffene Entwicklung, gerät immer mehr ins Wanken: Wir da oben. Ihr da unten. Und die in der Mitten? Beim Versuch, hinaufzuklettern, stürzen immer mehr ab! Sich in der Mitte etablieren, das war Gestern! Heute, so pfeifen es die Spatzen von den Dächern, herrschen in der Mitte die Ängste vor; und die Egoismen schießen wie die Pilze nach einem satten Regen aus dem Boden! Das Juste Milieu, als Marker für diejenigen, die in der Mitte der Gesellschaft ordentlich bis üppig zurecht kamen und als Ausweis für ein anständiges Leben galt, steht in Frage.

In der bundesrepublikanischen Geschichte bestimmten die Metaphern Mitte und Maß über die Jahrzehnte hin den Diskurs und schuf das Selbstverständnis, das vom Willen zum Wiederaufbau, über das Wirtschaftswunder bis hin zur wohligen Einrichtung des „Keine-Experimente“ – Slogans reichte. In der Mitte der Gesellschaft wird dabei eher mit dem Aufstieg geliebäugelt und dieser auch zielstrebig angegangen, als an den Abstieg auch nur zu denken. Das bedeutete allerdings auch, dass die in der Mitte darauf bedacht waren, dass nicht alles in der Gesellschaft Mitte ist; die Abgrenzungen hin zu denen da unten mussten in jedem Fall sichtbar und lebbar bleiben. Wem wundert es, dass dieser Mitte-Begriff sich bald auch soziopolitisch und geostrategisch zeigte? (vgl. dazu: Herfried Münkler, Mitte und Maß. Der Kampf um die richtige Ordnung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10350.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Spätestens seit der durch die Finanz- und Wirtschaftskrisen erschütterten scheinbaren Selbstverständlichkeiten, dass ökonomisches Streben nach dem Mehr(wert) und nach Wachstum die menschliche Existenz und ein „gutes Leben“ sichern könnten, geht Angst um bei denjenigen, die sich eingerichtet haben auf Wohlstand und ausreichendem Besitzstand. Es ist die Mitte der Gesellschaft, mit regelmäßigem Einkommen, das eine ökonomische Weiterentwicklung beim business as usual in Aussicht stellt, die darum bangen, ihre erworbenen Ansprüche an das Leben zu verlieren, oder zumindest vom gewohnten Lebensstandard Abstriche machen zu müssen. Was entsteht daraus, wenn eine Gesellschaft wie die in der Bundesrepublik (und in anderen Industrieländern) von einer „starken Mitte“ geprägt ist? Wenn diese Mitte ins Wanken gerät, oder abbröckelt? Wenn sich also wirtschaftliche und soziologische Veränderungen in diesem Gesellschaftsaufbau ergeben? Gibt es dann eine Revolution?

Der an der Universität Bremen politische Soziologie und vergleichende Analyse von Gegenwartsgesellschaften lehrende Steffen Mau (Jg. 1968) stellt erst einmal überraschend fest: „Die Mittelschicht ist bis heute ein soziologisch weitgehend unerforschtes Terrain“. Woher kommt das? Wie ist zu erklären, dass etwa Schriftsteller oder Filmemacher die Thematik artikulieren, die Soziologen und Politikwissenschaftler, die Gesellschaftsforscher also, weniger? Es liegt zum einen, so vermutet Mau daran, dass es schwierig sei zu erkennen und zu vermitteln, wie eine Gesellschaft, die immer mehr von Ungleichheit und Wettbewerb geprägt ist, dem individuellen Anspruch auf Lebenschancen noch gerecht werden könne; zum anderen wohl auch daran, dass ein Soziologe oder Politikwissenschaftler, der sich analysierend und forschend an die Thematik wagt, selbst dem Mittelstand angehört und dadurch möglicherweise Schwierigkeiten mit der Objektivität habe. Es ist deshalb äußerst verdienstvoll, dass Mau sich mit der Frage „Wohin driftet die Mittelschicht?“ auseinandersetzt – und das zudem tut, indem er nicht zuallererst in seiner Analyse Fachtermini und komplizierte Formeln benutzt, sondern mit einer populär gehaltenen Sprache Argumente, Ursachen und Perspektiven benennt und „Reformperspektiven für die ganze Gesellschaft“ aufzeigt.

Aufbau und Inhalt

Steffen Mau gliedert das Buch in sechs Kapitel.

Im ersten und zweiten formuliert er einen historischen und aktuellen Überblick zu der Frage, wer eigentlich zur Mittelschicht gehört, wie sie entstanden ist und wie sich der Mittelstand in der Gesellschaft eingerichtet hat. Im zweiten Teil geht es um „Erschütterungen der Mitte“. An mehreren Fallbeispielen zeigt er auf, wie Angehörige des Mittelstandes aus der Bahn geworfen werden, abrutschen, ausgesourst, arbeitslos und mittellos werden und wie sich die Ungleichheitsschere öffnet. Es sind keine Vermutungen oder Spekulationen, sondern der Autor belegt diese Bestandsaufnahme mit konkreten Zahlen und Entwicklungen. Die „Refeudalisierung sozialer Ungleichheit“ stabilisiert diejenigen, die (scheinbar) einen sicheren Posten und damit ein regelmäßiges, den erreichten Lebensstandard stabilisierendes Einkommen haben, auch diejenigen, die „clever“ und bereit sind, sich an die neoliberalen Markt- und Konkurrenzmechanismen anzupassen, vielleicht sogar finanzielle Abstriche in Kauf nehmen, um „mitschwimmen“ zu können im „Haifischbecken“ des „Kamikaze-Kapitalismus“ (vgl. dazu: David Graeber, Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum herrschenden System, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13337.php). Der Rückbau des Sozialstaates trägt ein weiteres dazu bei, dass die Unsicherheiten in der Mittelschicht wachsen, Entsolidarisierungstendenzen und Egoismen ebenfalls.

Das dritte Kapitel ist überschrieben mit „Statuspanik: Reale Gefahr oder falscher Alarm?“. Die dominanten Kapital- und Wirtschaftsmächte tun alles, um die Ängste der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für ihre Profitgier zu nutzen (vgl. dazu auch: Norbert Blüm, Ehrliche Arbeit. Ein Angriff auf den Finanzkapitalismus und seine Raffgier, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11382.php). „Je größer die Ungleichheit, desto riskanter das Scheitern“, so verdeutlicht Mau die Situation, und er beschreibt konkret die Fallhöhe, die Mittelschichtler hin zum Prekariat haben (siehe dazu auch: Rolf-Dieter Hepp, Hrsg., Prekarisierung und Flexibilisierung = Precarity and flexibilisation, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13527.php).

Mit dem vierten Kapitel wird mit dem nostalgischen Blick zurück eine Bestandsaufnahme der Verunsicherungen in der Gegenwart vorgenommen: „Die Mühen der Selbstbehauptung“. Eine neue Verhaltensweise bei den Mühen der Alltagsbewältigung und der Prospektierung der Zukunft entsteht: Coping. „Wir handeln, wissen aber oft nicht, mit welchem langfristigen Ertrag“ ( Nora Nebel, Ideen von der Zeit. Zeitvorstellungen aus kulturphilosophischer Perspektive, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12020.php ). Es sind Irritation, die sich bis zu pathologischen Krankheitsbildern entwickeln können: „Im Hinblick auf die seelische Gesundheit ist die Beziehung zur Arbeit niemals neutral“ (Christophe Dejours, Hrsg., Klinische Studien zur Psychopathologie der Arbeit, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13188.php).

„Neue Kälte in der Mitte?“, mit dieser Frage, die sich gleichzeitig als Feststellung artikuliert, wird das fünfte Kapitel getitelt. Die traditionelle Auffassung, zumindest in der Arbeiterbewegung, dass Solidarität der Kitt sei, der eine Gesellschaft zusammen hält, gerät ins Wanken, angesichts der zwingenden und vielfach erzwungenen Anpassungstendenzen des abhängig arbeitenden Menschen an die ökonomischen Vorgaben. Wohlfahrtsstaat oder Ego-Gesellschaft – zwischen dieser Gemengelage bewegt sich auch die Mittelschicht. Die Aufforderungen, die Gesellschaft und auch Europa sozial zu gestalten (Michael Sommer / Hans J. Schabedoth, Hrsg., Europa sozial gestalten!.2008, www.socialnet.de/rezensionen/6035.php) gerieren sich eher als Pflichtübungen von Sozialpolitikern denn als ernsthafte Bemühungen, die Kapitalmacht in ihre Schranken zu weisen.

Im sechsten Kapitel wirbt Steffen Mau für eine Politik der Lebenschancen. Zwar sind Mittelschichtler nicht per se Revolutionäre, und den Aufforderungen, die „notwendige Revolution“ zu beginnen, stehen sie eher skeptisch und ablehnend gegenüber; aber den Herausforderungen, für ein kooperatives Mensch-Natur-Verhältnis einzutreten, wird sich auch die Mittelschicht nicht verschließen können (Peter M. Senge, u.a., Die notwendige Revolution. Wie Individuen und Organisationen zusammenarbeiten, um eine nachhaltige Welt zu schaffen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11714.php). Mau empfiehlt, um die Widersprüche und Brüche, wie sie sich zwischen den individuellen und gesellschaftlichen Ansprüchen der Bürger in einem demokratischen, freiheitlichen Staat einerseits und den regulierenden Kräften von Staat und Markt andererseits darstellen, zu überwinden, Einstellungen, die er als „postheroisches Verständnis“ benennt: „Der Sozialstaat muss und kann nicht der Held sein, der alle Probleme löst…“. Dazu bedarf es mehrerer Korrekturen und Perspektivenwechsel; etwa, dass (wirtschaftliches) Wachstum als Wohlstandsgarant nicht mehr taugt. Der Autor plädiert für eine „Lebenschancenpolitik“, die es allen Menschen in der Gesellschaft ermöglicht, ihre Rechte wahrzunehmen: Bildungschancen, Arbeits-, Zeit- und Risikosouveränität. Sein Vorschlag, anstelle der verschiedenen Chancenkonzepte, wie etwa bedingungsloses Grundeinkommen (siehe dazu: Bernhard H. F. Taureck, Gleichheit für Fortgeschrittene. Jenseits von „Gier“ und „Neid“, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10159.php), oder „Teilhabegesellschaft“ (Gerd Grözinger, u.a., 2006), einen „Lebenschancenkredit“ einzurichten, der dazu beitragen könnte, Chancengerechtigkeit zu ermöglichen. Die Idee wird getragen von der Überzeugung, dass eine Gesellschaft nur dann gerecht, human und innovativ bestehen kann, wenn sozialer Friede, Zufriedenheit und Menschenwürde herrschen.

Fazit

Die ökonomische, ethische und gesellschaftspolitische Vorstellung, „dass mehr wird, wenn wir teilen“, hat Nobelpreisanerkennung gefunden (Elinor Ostrom, Was mehr wird, wenn wir teilen. Vom gesellschaftlichen Wert der Gemeingüter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11224.php). Und die Mahnung, dass ein Immer-Mehr-Immer-Schneller-Immer-Höher und der Wachstumswahn die Menschen in der Welt nicht zufriedener und glücklicher macht, sondern die Menschheit in den Abgrund treiben (Petra Pinzler, Immer mehr ist nicht genug! Vom Wachstumswahn zum Bruttosozialglück, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13332.php), ist immer deutlicher zu vernehmen. Auch die verloren gegangene Erkenntnis, dass es einer Wiederentdeckung der Gemeingüter für alle Menschen auf der Erde bedarf (Heinrich-Böll-Stiftung / Silke Helfrich, Hrsg., Wem gehört die Welt? Zur Wiederentdeckung der Gemeingüter, München 2009, http:// www.socialnet.de/rezensionen/7908.php), ein Paradigmenwechsel hin zu einem „Allmende-Bewusstsein“ angezeigt ist (Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung, Hrsg.,: Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, www.socialnet.de/rezensionen/13482.php) und eine andere, bessere und gerechtere (Eine?) Welt möglich ist, bedarf einer forcierten und überzeugenden lokalen und globalen Aufklärung.

Das Buch von Steffen Mau „Lebenschancen“ mit der bedeutsamen, gesellschaftlichen Frage „Wohin driftet die Mittelschicht?“ impliziert die Menschenrechtsüberzeugung „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen“. Diese auf Verantwortungsethik beruhende Überzeugung kann es nicht zulassen, dass, wie es sich lokal und global darstellt, die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Diejenigen in unserer Gesellschaft, die zum so genannten Mittelstand gehören und entweder sich aufmachen, um in der Wohlstandsleiter hinauf zu steigen, oder, wie das Buch verdeutlicht, dabei sind, in das Prekariat abzurutschen, müssen sich daran machen, Lebens- und Wohlstandschancen für alle Menschen in der Gesellschaft zu schaffen!

Die Informationen und Argumentationen sind geeignet, den gesellschaftlichen Diskurs um das „gute Leben“ für alle Menschen, in Deutschland und in der Welt, zu befruchten!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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ISSN 2190-9245