Onur Güntürkün: Biologische Psychologie
Rezensiert von Dr. Alexander N. Wendt, 10.01.2013
Onur Güntürkün: Biologische Psychologie.
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2012.
306 Seiten.
ISBN 978-3-8017-2123-7.
D: 29,95 EUR,
A: 30,80 EUR,
CH: 39,90 sFr.
Reihe: Bachelorstudium Psychologie.
Thema
Biologie, speziell Neuro-Biologie kann im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert nicht mehr wie zuvor vage als eine der jungen Facetten einer modernen Psychologie als Hub Science (Cacioppo, 2007) betrachtet werden. Es handelt sich vielmehr um das prädominante Paradigma einer progredient naturwissenschaftlichen Psychologie. Mit dem Selbstverständnis dieses rasch wachsenden und innovativen Zugangs zur Psyche des Menschen tritt auch Onur Güntürkün in seiner vorliegenden Einführung auf. Er bietet mit diesem Band einen aktuellen Einblick in Konzept und Stand der biologischen Psychologie an.
Autor
Onur Güntürkün studierte Psychologie in Bochum und wurde dort promoviert. Seit 1993 hat er den Lehrstuhl für Biopsychologie an der Fakultät für Psychologie der Ruhr-Universität Bochum inne. Im Jahr 2012 wurde ihm für seine wissenschaftlichen Leistungen der Leibniz-Preis verliehen.
Entstehungshintergrund
Die Einführung ist der Reihe „Bachelorstudium Psychologie“ des Göttinger Verlages Hogrefe zugeordnet. In ihr wurden zu den maßgeblichen psychologischen Forschungs- und Lehrschwerpunkten, wie etwa zur Entwicklungspsychologie (s. www.socialnet.de/rezensionen/10319.php), Publikationen neben dem vorliegenden Band zusammengefasst. Güntürkün selbst spricht von „Faszination und Ehrfurcht“ als motivationale Zugänge zur Materie, die er durch die Struktur und die Form der Einführung an die Leser vermitteln möchte (S. 11).
Aufbau
Das Thema wurde in zwölf Kapitel gegliedert, die in konsekutivem Zusammenhang stehen:
- Neurone und Gliazellen
- Die Funktionsmechanismen von Nervenzellen
- Synapsen und Neurotransmitter
- Neuroanatomie
- Die Organisation der Sinne
- Die Ordnung des Denkens
- Gedächtnissysteme: Arbeitsgedächtnis und deklaratives Gedächtnis
- Gedächtnissysteme: Nicht deklaratives Gedächtnis
- Emotionen
- Sucht
- Hunger und Durst
- Geschlecht
Güntürkün teilt die Kapitel in drei gleich große, methodisch aufeinander folgende Abschnitte: „die Architektur des Gehirns (Kapitel 1 bis 4), das lernende und erinnernde Gehirn (Kapitel 5 bis 8), das fühlende und agierende Gehirn (Kapitel 9 bis 12)“ (S. 11). Jedes Kapitel ist in eine prosaisch-narrative Einführung, einen inhaltlichen Textteil, eine Zusammenfassung und Textverweise gegliedert. Im Anhang des Bandes befindet sich ein Glossar mit einigen rudimentären Schlagwörtern.
Inhalt
Im ersten Abschnitt, die Architektur des Gehirns, setzt sich mit den grundlegenden wissenschaftsgeschichtlichen und biologischen Konzepten und Annahmen auseinander. Hierzu zählt Güntürkün beispielsweise die Entdeckung der Anatomie von Neuronen durch Golgi (S. 17) und Ramón y Cajal (S. 21), die Beschreibung des nervösen Aktionspotenzials durch Hodgkin und Huxley (S. 42f) und die Diversität von Funktion und Typ der Neurotransmitter, deren biologische Vielfalt dazu führt, „dass innerhalb eines winzigen Ausschnitts des Gehirns Neurone verschiedenste „Sprachen“ sprechen können ohne miteinander zu interferieren“ (S. 66f). Die vier ersten Kapitel, die diese architektonische Übersicht bilden, folgen einer explorativen Herangehensweise und setzen bei grundlegenden Konzepten und Methoden der Psychologie an.
Der zweite Abschnitt, das lernende und erinnernde Gehirn, weist inhaltlich bereits über die Biologie auf den genuin psychologischen Anteil am neurowissenschaftlichen Paradigma hinaus. Es handelt sich um den Bezug der mikroanatomischen Komponenten des ersten Abschnitts auf makrologische, psychische Phänomene wie Wahrnehmen, Denken und Erinnern. Methodisch bedarf es an dieser Stelle in Güntürküns Konzept der Einführung der Verfahren, die eine gleichzeitige Beobachtung der mikro- und makrologischen Ebene menschlichen Verhaltens ermöglichen, wie der Funktionellen Magnetresonanztomografie (S. 110ff) oder des Elektroenzephalogramms (S. 144). Zusätzlich greift der Autor jedoch neben den Erkenntnissen auf Basis dieser mechanischen Verfahren, deren empirische Gültigkeit er im Übrigen nicht unhinterfragt lässt (S. 112), auch auf klassische Methoden zurück, wie die Beobachtung klinischer Einzelfälle (u. a. S. 117, S. 158f). Des Weiteren sind die vier Kapitel zum lernenden und erinnernden Gehirn in Tradition des im weiteren Verlaufe des Buches eingeführten James Olds (S. 222) geschrieben. Dies gilt insofern, dass Güntürkün, weil mit Olds „Neurowissenschaft und Psychologie zwei Seiten der gleichen Medaille sind und sich gegenseitig erklären können“, nicht ausschließlich aus der Perspektive der Neurobiologie psychische Phänomene zu erklären versucht, sondern die Domäne der makrologischen Phänomene anerkennt. Zugleich allerdings ist hierdurch der holistische Erklärungsanspruch der Neurobiologie nicht aufgehoben, obgleich er methodisch durch die makroskopische Beschreibungsebene ergänzt wird.
Im letzten Abschnitt, das fühlende und agierende Gehirn, greift Güntürkün vier exemplarische, ursprünglich anderen Teilgebieten der Psychologie zugeordnete Anwendungsgebiete der Neuropsychologie heraus, um aufzuzeigen, welche Phänomene durch Integration des vorgestellten Ansatzes zusätzliche Erklärungsmöglichkeiten gewinnen. Emotionen, als prominentes Beispiel, lassen sich, während sie vormals vorwiegend durch die Allgemeine Psychologie beschrieben wurden, in vielen zuvor unbeachteten Facetten auf Amygdala-Aktivität attribuieren. Gerade die vorbewussten Anteile von Angst oder Aggression lassen sich deutlich distinkter anhand empirischer Daten erfassen, die mit den Methoden der Neurobiologie gewonnen wurden (S. 206ff).
Diskussion
Die Kritik am neurowissenschaftlichen Paradigma in der Psychologie stammt vorrangig aus den Geisteswissenschaften oder von geisteswissenschaftlich orientierten Psychologen. Ohne über die Berechtigung zu dieser Kritik zu sprechen, ist in Bezug auf Güntürküns Werk anzumerken, dass hier keine Erwähnung dieser methodischen und wissenschaftstheoretischen Kontroverse vorliegt. Zwar ist es gerade im Sinne eines Bachelor-Lehrplans nicht notwendiger Bestandteil des Modulplans, neben der Vielfalt der biologischen Details auch die Diversität der Gegenpositionen zu berücksichtigen, doch an die Heranbildung authentischer, kritischer Psychologen gemahnend, sollten bereits kanonische Inhalte mit skeptischer Grundhaltung aufgenommen werden.
Jenseits der Kritik ebendieser Tendenz zum Dogmatismus, die Nebenwirkung der Euphorie innerhalb der Neurobiologie zu sein scheint, kann Güntürküns Arbeit allerdings nur Wertschätzung erhalten. Das Design und der textuelle Stil des Bandes sind ausgesprochen einsteigerfreundlich, wobei Güntürkün zahlreiche Suggestivkräfte, wie die für die Bachelorstudiums-Reihe innovative Einleitungsform zu jedem Kapitel, mobilisiert hat, um die komplizierte Materie anschaulich zu gestalten. Gleichermaßen versucht er, den hohen Umfang an theoretischem Inhalt durch den Bezug zu Biographien von Wissenschaftlern und klinischen Einzelfällen (z. B. S. 117, S. 158f, S. 243) oder kreative Akquirierung der Initiative des Lesers (S. 109f) zu kompensieren.
Zugleich schafft es Güntürkün, den Rahmen einer Einführung nicht zu sprengen. Speziell der letzte Abschnitt zum fühlenden und agierenden Gehirn bietet aus Perspektive der forschenden Neuropsychologie ein unerschöpfliches Reservoir an Bereicherung der Psychologie durch neurobiologische Impulse. Der Autor umgeht diesen Konflikt durch die weitgehend willkürlich und gleichermaßen exemplarische Wahl einiger suggestiver Beispiele aus dem Anwendungsbereich der Neuropsychologie.
Fazit
Onur Güntürkün legt einen lehrreichen, gut strukturierten und suggestiven Band zur Einführung in den neuropsychologischen Forschungsstand, der aktuell ex cathedra in den meisten Bachelorstudiengängen der Psychologie vertreten wird, vor. Es handelt sich um eine systematische Progression von den biologischen Grundlagen (zwischen Synapse und Neurotransmitter) über die methodischen Innovationen der jüngeren Zeit (zwischen EEG und fMRT) bis zu den Implikationen für die Psychologie im Allgemeinen (zwischen Angst in der Amygdala und Hunger durch Leptin). Das Buch ist allen Interessenten an einer akademisch authentischen Sicht auf die Neuropsychologie unabhängig vom Studiengang oder Berufsstand zu empfehlen. Einschränkend ist ausschließlich zu vermerken, dass zeitgenössische Kontroversen, etwa das Leib-Seele-Problem aus Sicht der Gehirnaktivität, nicht beleuchtet werden.
Rezension von
Dr. Alexander N. Wendt
Dr./M.Sc. (Psychologie), M.A. (Philosophie)
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Zitiervorschlag
Alexander N. Wendt. Rezension vom 10.01.2013 zu:
Onur Güntürkün: Biologische Psychologie. Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
(Göttingen) 2012.
ISBN 978-3-8017-2123-7.
Reihe: Bachelorstudium Psychologie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/13999.php, Datum des Zugriffs 03.12.2024.
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