Harald Weinrich: Über das Haben
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 26.11.2012

Harald Weinrich: Über das Haben. 33 Ansichten. Verlag C.H. Beck (München) 2012. 207 Seiten. ISBN 978-3-406-64094-0. 19,95 EUR.
„Wer mit dem Zustand der Welt und mit sich selbst nicht zufrieden ist, muss philosophieren“
Diese Erkenntnis ist alt. Die Neuigkeit besteht darin, dass wir heute, in der sich immer interdependenter, entgrenzender und unverbindlicher entwickelnden (Einen?) Welt dabei sind, das Wort zu verlieren, das (Lebens-) Werte benennt (Eberhard Straub, Zur Zyrannei der Werte, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10807.php). Die alte philosophische Erkenntnis – Es ist das Wort, das Veränderungen schafft! – geht in der hektischen, virulenten, globalisierten Entwicklung der Welt unter. Ganz oben stehen das business as usual, das throughput growth (Brundtland-Bericht der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“, 1987) und die irrige Auffassung, dass der Mensch auf der Erde alles machen dürfe, was er zu können glaube, einschließlich der Raffgier nach Besitz, Reichtum und egoistischem Immer-mehr. Der mit Vernunft, Gemeinsinn, Verantwortung und Solidarität ausgestattete anthrôpos mutiert zum homo oeconomicus, der materiellem Besitz als erstrebenswerte Lebensexistenz betrachtet und den komparativen Wert des Seins beiseite legt oder längst vergessen hat. Das ist keine Phillipika gegen die Auffassung, dass der Mensch als Konsumwesen Dinge zum Leben benötigt, Grundbedürfnisse etwa oder auch nützliche Güter, die ihm das Leben lebenswert machen; vielmehr geht es um die elementare, die Existenz der Menschheit sichernde Frage, wie gerecht die Lebenswelt der Menschen auf der Erde ausgestattet ist. Anlässe dazu gibt es zahlreiche, und er immerhin beginnende Aufstand gegen die Kapital- und Marktmacht der Habenden beginnt langsam Früchte zu tragen (Tomáš Sedláček, Die Ökonomie von Gut und Böse, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/12902.php). Die Argumentationen reichen von moralischen und ethischen bis hin zu psychoanalytischen Kritiken (Tilmann Moser, Geld, Gier & Betrug. Wie unser Vertrauen missbraucht wird – Betrachtungen eines Psychoanalytikers, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13080.php ), sowie: Jacques Le Goff, Geld im Mittelalter, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13533.php).
Entstehungshintergrund und Autor
33 Ansichten über das Haben, orientiert am auflistenden und reflektierenden essayistischen Diskurs der französischen Intellektuellen, bedingen zwangsläufig den Versuch, eine (erzählerische) Bestandsaufnahme über den philosophischen und alltäglichen Begriff des Habens vorzunehmen; gleichzeitig aber die Gegenposition des Seins im entwicklungspsychologischen und anthropologischen Vergleich einzubeziehen (vgl. dazu auch: Bernard Rathayr, Selbstzwang und Selbstverwirklichung. Bausteine zu einer historischen Anthropologie der abendländischen Menschen, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/11820.php).
Der 1927 geborene Sprachwissenschaftler Harald Weinrich hat an den Universitäten in Kiel, Köln, Bielefeld und München gelehrt und bis zu seiner Emeritierung am Collège de France in Paris gearbeitet. Von ihm sind zahlreiche Publikationen erschienen, die sein Forscherleben kennzeichnen: Über das Vergessen, über die knappe Zeit, über Tod und Teufel, Gut und Böse, usw. Zu seinem 85. Geburtstag legt er nun ein Essay vor, mit dem er den Menschen den Spiegel darüber vorhält, wie sie es mit dem Haben halten. Dazu braucht er keine Statistiken und Analysen, sondern das, was den Sprachwissenschaftler in besonderer Weise auszeichnet: Seine erzählende Sprache, bei der er engagiert Bezug nimmt auf die lokalen und globalen Krisen, die die Menschheit erschüttern: Schulden-, Finanz-, Wirtschafts-, Arbeits- und Umweltkrisen. Es geht um HABEN und NICHT-HABEN als Kategorien menschlichen Daseins; und, weil als Erzählung konzipiert, um Überlegungen zu einer „Kunst des Habens“ (ars habendi) und zur Überwindung der Habgier, um die „Kunst des Nicht-Habens“ (ars egendi).
Aufbau und Inhalt
Die dreiunddreißig Ansichten gliedert Weinrich in fünf Abschnitte.
Im ersten Kapitel bewegt er sich „auf dem Philosophenweg“, indem er mit den Ansichten eins bis sechs den Diskurs der griechischen Philosophen, vor allem von Aristoteles mit der Kategorie des echein (J. Jansen, in Otfried Höffe, Aristoteles-Lexikon, Stuttgart 2005, S. 146f), gleichzeitig eingebunden in hexis, als dem Streben nach vernünftigem Seelenvermögen (F. Ricken, a.a.o., S. 252ff) thematisiert und dabei auch die Kritiker zu Wort kommen lässt. Es folgt die Auseinandersetzung mit der „Anthropologie des Habens“, wie sie bei Johann Gottfried Herder, Max Scheler und Helmut Plessner diskutiert wird, sich weiterhin in Arthur Schopenhauers „Aphorismen zur Lebensweisheit“ artikuliert, in Martin Heideggers „Lehre vom Sein“ darstellt, bei den französischen (Existenz-) Philosophen Gabriel Marcel, Jean-Paul Sartre und Pierre Bourdieu finden und schließlich beim Psychoanalytiker Erich Fromm, der mit seinem „Haben oder Sein“ (1976) die seelischen Grundlagen für eine neue Gesellschaft formuliert, in seinen späteren Werken jedoch die anfangs rigorose Positiv-Negativ-Positionen der Wertprämissen korrigiert hat.
Im zweiten Abschnitt werden mit der Titelung „Treffpunkt Sprache“ die Ansichten sieben bis fünfzehn marktiert, immer mit Kennzeichnungen in der Überschrift, die Signal für die Thematik sind: „Sein und Haben im Satz und Text“, in der Alltagssprache, in literarischen Texten, in Verwaltungs- und Rechtsvorschriften. „Haben als Hilfsverb“, mit dem Hinweis, dass Haben Gegenwart ist. „Mit dem Kriegen kommt das Haben“: „Ich kriege…“, was heute weniger mit dem „Ich wünsche mir…“, sondern eher mit dem „Ich hole mir…“ korrespondiert. Auch die Frage: „Muss man besitzen, was man hat?“ wird heute eher nostalgisch denn realistisch, wenn nicht gar unverständlich registriert. „Andere Sprachen haben anders“, diese sprach- und kulturvergleichende Aussage besagt ja dann vielleicht auch, dass „HABEN… eine universale Kategorie des Denkens“ ist. Mit den „Modalitäten des Habens“ ist das so eine Sache; sie stellen sich als positive wie negative Benennungen dar, versichern und verunsichern gleichermaßen. „Höfliches Haben“ diktiert bestimmte, normorientierte Umgangsformen, aber auch Unhöflichkeiten und Grobheiten (vgl. dazu auch: Günter Gödde, Takt und Taktlosigkeit. Über Ordnungen und Unordnungen in Kunst, Kultur und Therapie, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12967.php). „Haben und Nicht-Haben im Tabu-Test“ will deutlich machen, dass Redensarten und Sprichwörter mit dem Begriff „Haben“ grammatikalische Fallstricke und Missverständnisse enthalten. Schließlich wird mit der fünfzehnten Ansicht das Feld „Marketing für Hab und Gut und für Habseligkeiten“ beackert und den Werbestrategen bei ihrem Haben-Umgang auf die Finger geschaut.
Der dritte Abschnitt wird mit „Lebenszeit und Körperlichkeit“ überschrieben. Mit dem Hinweis „Alles Haben hat seine Zeit“ werden biblische Luthertexte und philosophische Traktate von Hans Blumenberg benutzt, um das Haben-Dasein der Menschen zu hinterfragen. Dabei darf natürlich die religiöse Frage nach dem „Haben und Nicht-Haben im Diesseits und Jenseits“ nicht fehlen. Die amerikanische Dichterin Emily Dickinson schrieb 1862 ein Gedicht, das sie in der ersten Strophe begann mit: „I had no time zu Hate“, und in der zweiten mit: „Nor had I time to Love“. Sie bringt damit in faszinierender und entlarvender Weise Haben und Scheitern zusammen. Mit der Metapher „Die Zeit im Leibe haben“ wird der Zusammenhang von Körper und Seele, Krankheit und Gesundheit, Wohlbefinden und Missbehagen, Wahrheit und Schwindel zur Sprache gebracht und am Beispiel des Hochstaplers Felix Krull in Thomas Manns Roman verdeutlicht. In den Märchentexten der Gebrüder Grimm und von Hans Christian Andersen wird Nacktheit und Armut, Not und Elend am Ende umgedeutet in Bekleidetsein, Wohlstand und Zufriedenheit, aber auch als Aufklärung gegen Manipulation und unangemessener Zurschaustellung eingesetzt: „Aber er hat ja gar nichts an!“. Das Sprichwort „Kleider machen Leuten“ verspricht viel Schindluder, Angeberei und Machtgehabe. In einer Novelle von Maupassant wird der Finger in die Wunde der Täuschung gelegt; bildliche Darstellungen, als Gemälde oder Fotografie, können Wirklichkeiten wiedergeben und Verwirrungen stiften. Das Bild „Die Goldwägerin“ von Vermeer van Delft und Schopenhauers Interpretationen dazu weisen auf „Bildöffnungen“ hin, die „Hab und Gut“ mit anderen Augen zu sehen vermögen.
Im vierten Abschnitt “Buchführung und Bilanzen? werden wiederum Bilder und Vorstellungen zu Hilfe genommen, etwa beim Bau der Frankfurter Bankentürme, die von der Bevölkerung als „Soll und Haben“ tituliert werden. Die Metaphern weisen auf die kaufmännische Praxis der „doppelten Buchführung“ hin, eine kapitalistische Absicherung, die sich im Bild des „Freitag“ in Robinson Crusoes Aufenthalt auf einer Insel als Diener und Sklave darstellt und die symbolhafte Entwicklung des Kapitalismus und Kolonialismus zeigt. Auch „Mephistopheles“, als der Verführer und Beeinflusser darf nicht fehlen. Und in Goethes bürgerlichem Trauerspiel wird Haben, Besitzenwollen und Machtausüben zur Tragödie. „Lass mich Ich sein, damit du Du sein kannst“, diese befreiende Bitte und Forderung wird bei Gottfried Kellers „Romeo und Julia auf dem Dorfe“ ins Gegenteil verkehrt und endet, wie Tragödien enden. Als der Schriftsteller Gustav Freytag 1855 seinen Roman „Soll und Haben“ schreibt, wird preußisch gelebt: Völkisch, königstreu und konservativ, bis hin zu der (scheinbar unbeabsichtigten) Schmähung der Fremden und des Fremden, den Juden. als Besitzende und den Polen als Habenichtse. Da kommt auch der „Haben“-Handelsplatz Börse ins Spiel. Und gewissermaßen als Gegenpol zu Freytags preußischem „Soll und Haben“ argumentiert Emile Zola mit „Alles oder Nichts“; brutale Schnitte, die bis heute den „Raubtierkapitalismus“ (Peter Jüngst, „Raubtierkapitalismus“. Globalisierung, psychosoziale Destabilisierung und territoriale Konflikte, 2004, www.socialnet.de/rezensionen/1787.php), den „Kamikaze-Kapitalismus“ (David Graeber, Kampf dem Kamikaze-Kapitalismus. Es gibt Alternativen zum herrschenden System, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13337.php) und die Gewinner-Verliererpositionen auf Geldbasis bestimmen. Schließlich die Frage, ob Dichter und Denker die besseren Habenden seien. Die ausgewählten literarischen Dokumente, von Walter von der Vogelweide über Heinrich Heine, Georg Büchner bis Katharina Hacker mit ihrem Roman „Habenichtse“ (2006),lassen den Leser äußerst nach-denklich zurück.
Der fünfte und letzte Abschnitt thematisiert die Spannweite: „Streit haben, Krieg haben, Hoffnung haben“. Am Beispiel des „Sängerkriegs um den Rhein“, werden die historischen Ressentiments und Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Franzosen deutlich. Mit dem „Ding Ding Ding“ in Günter Grass‘ Novelle „Katz und Maus“ stellt sich Haben als natürliches, gleichzeitig erworbenes, gehütetes und letztendlich vergebliches Mühen dar. Mit der Parole „Wir werden die Sieger SEIN, weil wir den Führer HABEN“ erweist sich Hitler als „Habenichts“, also als geschichtlicher „Nichtsnutz“. Als die Gruppe 47 im Jahr 1950 seinen Preis an den Lyriker Günter Eich verleiht, da wird besonders sein Gedicht „Inventur“ hervorgehoben, gewissermaßen als Beleg dafür, dass wir über unsere „letzten HABseligkeiten“ nachdenken sollten. „Menschenrechte sind Haben-Rechte“. Es werden Menschenwürde, Friedfertigkeit und Gerechtigkeit gegeben, gleichzeitig aber, wie es in Art. 29 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 heißt: „Jedermann hat Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, in der allein die freie und volle Entwicklung seiner Persönlichkeit möglich ist“. Weil in allen Diskursen immer auch die Folie des griechischen, philosophischen Denkens durchscheint, beendet Weinrich sein Nachdenken über das HABEN mit dem „griechischen Epilog“, indem er die Auseinandersetzung des alternden Kynikers Diogenes mit dem jugendlich strahlenden König von Makedonien, Alexander des Großen, als Exempel wählt, um sein Anliegen, der „Kunst des Habens“ die „Kunst des Nicht-Habens“ gegenüber zu stellen.
Fazit
Diogenes in der Tonne, bedürfnislos ob der materiellen Güter – „Brauchen wir alles, was uns angeboten wird?“ – aber selbstbewusst im Geiste und sich seiner selbst sicher! Wenn diese Legende uns HIER und HEUTE und MORGEN etwas zu sagen vermag, dann dies: Verzicht ist kein Verlust, sondern Vermögen, das sich nicht materiell misst! Und: HABEN und SEIN gehören zusammen; nur dann lässt sich authentisch ausrufen: „Ich suche Menschen – nicht Funktionisten und Egoisten!“.
Harald Weinrichs überwiegend nur skizzierte Gedankengänge über HABEN und SEIN, mit denen er hofft, einer „Haben-Wissenschaft“ zum Gehen zu verhelfen, lassen dem Leser viel Freiraum für eigene Interpretationen, Nachdenklichkeiten und Zuordnungen. Der Autor kalkuliert dabei, ganz im Sinne der Aufforderung „selbst zu denken und nicht denken zu lassen“ (Karl Heinz Bohrer, Selbstdenker und Systemdenker. Über agonales Denken, 2011, https://www.socialnet.de/rezensionen/12903.php) und hoffend, dass die Leser des Buchs intensiver als der Mainstream dies suggeriert darüber nachdenken und andere Haben-Positionen als nur die des „Habens um jeden Preis“ einnehmen.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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