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Monika Schwarz-Friesel, Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert

Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 20.08.2013

Cover Monika Schwarz-Friesel, Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert ISBN 978-3-11-027768-5

Monika Schwarz-Friesel, Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert. Walter de Gruyter (Berlin) 2012. 444 Seiten. ISBN 978-3-11-027768-5. D: 79,95 EUR, A: 82,20 EUR.
Reihe: Europäisch-jüdische Studien – Beiträge - 7.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.

Seit Erstellung der Rezension ist eine neuere Auflage mit der ISBN 978-3-11-055398-7 erschienen, auf die sich unsere Bestellmöglichkeiten beziehen.

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Thema

Als vor zwei Jahren der erste Bericht der vom Innenministerium eingesetzten Expertenkommission Antisemitismus der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, stieß sein Befund bei vielen auf ungläubiges Staunen und Kopfschütteln. Dass judenfeindliche Äußerungen bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitet seien, sei nun doch zu viel des Guten und verkenne die Leistungen der Bundesrepublik Deutschland in der Bekämpfung des Antisemitismus. Der Bericht verschwand schnell in einer Schublade des Ministeriums, wo er bis heute unberührt liegt. Wie richtig aber die Kommission mit ihrer Einschätzung lag, zeigt nun die empirische Studie von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz. Keineswegs nur an den Rändern der Gesellschaft, sondern in der ökonomisch gut situierten und politisch moderaten Mitte findet sich Antisemitismus in bedeutendem Umfang – ein Antisemitismus, der im Gestus des ehrbaren Bürgers daherkommt.

Autoren

Monika Schwarz-Friesel ist Professorin für allgemeine Linguistik an der Technischen Universität Berlin, Jehuda Reinharz Professor em. für Jüdische Geschichte der Neuzeit an der Brandeis University in Waltham, Massachusetts.

Entstehungshintergrund

In einer mehr als siebenjährigen Forschungsarbeit haben die beiden Wissenschaftler über 14.000 E-Mails, Briefe, Postkarten und Faxe, die zwischen 2002 und 2012 an den Zentralrat der Juden und die Israelische Botschaft in Berlin aus allen Regionen Deutschlands geschickt wurden, gesammelt, klassifiziert und analysiert. Als Vergleichskorpus diente ihnen u. a. eine Sammlung von über 1.000 E-Mails und Briefen an die Israelischen Botschaften in Wien, Bern, Den Haag, Madrid, Brüssel, London, Dublin und Stockholm aus den Jahren 2010 bis 2011.

Aufbau und Inhalt

Das Buch enthält elf Kapitel.

Nach der Einführung folgt im zweiten Kapitel die Darstellung des Korpusmaterials. Über 70 Prozent der Zuschriften sind eindeutig antisemitisch. Aufschlussreich ist dabei die Verteilung des Materials nach politischen Orientierungen. Nur jeweils knapp vier Prozent der Schreiber kommen aus dem extrem rechten und linken Spektrum. Die absolute Mehrheit aber ist der politischen Mitte zuzurechnen, darunter viele Akademiker: Anwälte, Ärzte, Pfarrer, Journalisten, Lehrer, Professoren etc., also Mitglieder der gesellschaftlichen Elite, die ihre antisemitischen Invektiven für so unproblematisch, ja notwendig und moralisch ehrbar halten, dass sie ihre Briefe und Emails nicht nur mit Absender, sondern häufig auch mit Hinweisen auf ihre politische Einstellung, ihre grundanständige Gesinnung und ihre Zugehörigkeit zu einer der großen Volksparteien versehen und mit frappierender Regelmäßigkeit ihre zum Teil seitenlangen Ausführungen mit Floskeln beenden wie „endlich gesagt zu haben, was gesagt werden muss“.
Bevor aber die Interpretation dieser Zuschriften erfolgt, setzen sich Schwarz-Friesel und Reinharz zunächst mit der Funktion der Sprache bei der Etablierung und Tradierung von antisemitischen Stereotypen auseinander und gehen auf die historische Genese des Judenhasses und seine tiefe Verankerung in den abendländischen Denkstrukturen ein.

Dass Sprache die Macht hat, Realitäten zu erzeugen, die mit der tatsächlichen Welt nichts zu tun haben, zeigt das dritte Kapitel u. a. anhand des klassisch-antisemitischen Satzes des Berliner Historikers Heinrich von Treitschke aus dem Jahr 1879: „Die Juden sind unser Unglück!“. In ihm wird kollektiv allen Juden die Verantwortung für die Probleme der Welt zugesprochen. Die jüdische Existenz an sich wird als Grundübel konzeptualisiert und damit zugleich eines der ältesten antisemitischen Stereotype reaktiviert. Über Sprache werden judenfeindliche Inhalte nicht nur etabliert, sondern auch im kollektiven Gedächtnis tradiert. So finden sich Formulierungen wie „Die Juden bedrohen den Weltfrieden“ oder „Israel bedroht den Weltfrieden“ in großer Zahl im Textkorpus wieder. Dass es sich dabei im Kern um nichts anderes als eine modernisierte Variante des Treitschke-Diktums handelt, vermag die sprachwissenschaftliche Analyse überzeugend darzustellen.

„The Longest Hatred“ – wie treffend diese Formulierung von Robert S. Wistrich ist, wird im vierten Kapitel deutlich, das in geschichtswissenschaftlicher Perspektive die Einzigartigkeit der jahrtausendealten Judenfeindschaft gegenüber anderen Formen des Menschenhasses hervorhebt. Der Vergleich historischer Texte zeigt dabei eine frappierende Persistenz und Homogenität judenfeindlicher Stereotype. Ungebrochen reichen diese über den Zivilisationsbruch hinweg bis in die Gegenwart. Die Autoren zögern nicht, diesen beschämenden Sachverhalt klar und deutlich anzusprechen: „Es kam nach 1945, als das Ausmaß der Verbrechen an den Juden weithin bekannt und deutlich wurde, keineswegs zu dem tiefgreifenden Wandel im kollektiven Bewusstsein, den dieser Zivilisationsbruch hätte einleiten müssen. (…) Dass Judenfeindschaft in nahezu allen Schichten der Gesellschaft als ein integraler Teil der viel beschworenen abendländischen Denkstrukturen seit Jahrhunderten zum kulturellen Allgemeingut gehörte, wurde weder von den institutionellen Eliten noch von der Bevölkerung hinreichend erörtert und damit die Chance verpasst, ein wirkliches Umdenken einzuleiten“ (S. 91). Stattdessen bildete sich in der paradoxen Gleichzeitigkeit einer öffentlichen Sanktionierung des politischen Antisemitismus und der ungebrochenen Fortexistenz judenfeindlicher Stereotype im Alltag das Phänomen eines „Antisemitismus ohne Antisemiten“ heraus, wie Bernd Marin schon 1979 zutreffend beobachtete.
Der „Alltagsantisemitismus“ (S. 98) in Deutschland heute – ein Begriff, den Schwarz-Friesel und Reinharz sparsam, aber an zentraler Stelle verwenden – hat genau diese paradoxe Form, wie die vielen Beispiele aus dem Textmaterial zeigen: „Ich bin garantiert kein Antisemit und verbitte mir Argumentationen in diese Richtung – meine Kritik ist ausschließlich auf die Politik Israels gerichtet“, „Ich bin SPD-Wähler, schon immer (…) Wie gesagt, ich als Durchschnittsdeutscher äußere Ihnen hier meine Gedanken. Ich bin kein Nazi, kein Rechtswähler und kein Judenhasser“; „Ich bin kein Nazi! Aber Ihr gieriger Verein mit seinen dauernden Geldforderungen regt mich auf“ usw. usf. (vgl. S. 357ff.). Es ist ein Ja, aber-Antisemitismus, der aus der Mitte der Gesellschaft kommt, meistens implizit bleibt und sich selbst als überfällige und notwendige „Israel-Kritik“ versteht, dabei aber genauso obsessiv ist wie die extremeren Varianten.

Damit ist der zentrale Befund zur Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert angesprochen, der in dem umfangreichen fünften, sechsten und siebten Kapitel am empirischen Material belegt wird. Finden sich in den Schreiben in großer Zahl die immergleichen Stereotype des vormodernen und modernen Antisemitismus wieder – die Juden als Fremde, als Christusmörder, Kindermörder, Antichristen, als Geldmenschen, Wucherer und Ausbeuter, als Parasiten und Schmarotzer, als Schweine und Ratten, als minderwertige Rasse, als Störenfriede, als Weltverschwörer, als heimatlose Wanderer, als Inkarnation des Bösen –, häufig kombiniert mit Versatzstücken aus dem NS-Jargon, so steht bei den Kodierungen dieser z. T. uralten Stereotype immer wieder der Staat Israel im Mittelpunkt. Die miteinander vernetzten, ein „mentales Modell“ bildenden Stereotype bleiben sich gleich, werden aber konzeptuell auf Israel verschoben. Dies liest sich dann so: „Für den Überfall auf den Libanon gehört ihr jüdischen Weltverbrecherschweine ausgerottet“ (S.181) oder „Der Krüppel- und Unrechtsstaat Israel ist die Fortsetzung der kranken Gedanken an Nazi-Deutschland“ (S. 183) oder „Ein total schlimmes Volk ist das. Israel ist der Teufel. Sorry, aber so ist es“ (S. 222).

Vergleichsweise knapp fällt das achte Kapitel aus, in dem die Autoren antisemitische Zuschriften analysieren, die den Israelischen Botschaften anderer europäischer Länder zugingen. Dabei zeigt sich, dass in allen untersuchten Ländern der „Anti-Israelismus“ – ein auf irrealen, paranoid-projektiven Feindbildkonstrukten basierendes Aggressionsverhalten gegen Israel – heute die dominante Formvariante des Antisemitismus ist. Deutlich wird allerdings auch, dass im deutschen Diskurs die Judenfeindschaft stärker durch Tendenzen der Schuld- und Erinnerungsabwehr sowie durch die im Textkorpus omnipräsenten Stereotype von der jüdischen „Holocaustausbeutung“ und dem jüdischen „Meinungsdiktat“ bestimmt ist. Auch dies ein Ergebnis, das es festzuhalten verdient, da hier die bislang noch wenig untersuchte politisch-psychologische Kontextualität antisemitischer Äußerungsformen hervortritt.

Antisemitismus ist, so formulierte es Jean-Paul Sartre in seinen berühmten „Réflexions sur la Question Juive“ aus dem Jahr 1946, nicht nur eine Weltanschauung, sondern auch eine Leidenschaft. Genau diesem affektiven Unterbau des antisemitischen Weltdeutungssystems widmen Schwarz-Friesel und Reinharz das neunte Kapitel ihrer Studie. Dabei zeigt sich, dass das emotionale Potenzial des Textmaterials tatsächlich enorm ist. In knapp 50 Prozent der Schreiben finden sich Verbalformen des Hasses, und zwar sowohl in den extrem rechten Varianten wie „Wir hassen Euch Judenschweine!“ oder „Ich kann nicht beschreiben, was ich für einen Hass für euer Land empfinde“ als auch in den eher unpersönlichen Varianten der gebildeten Mitte wie „Die Welt hasst Israel!“ oder „So sät man Hass“. In vielen weiteren Texten zeigt sich überdies eine enorme Gefühlskälte und Indifferenz gegenüber allem, was mit der Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden zu tun hat. Sehr zu Recht fordern die Autoren deshalb, dass die Antisemitismusforschung die Affektdimension der Judenfeindschaft stärker „in ihre Erklärungsansätze integrieren muss“ (S. 297).

Die ungeheuere Aggressivität vieler Zuschriften steht im Fokus des zehnten Kapitels, das Beispiele präsentiert, in denen Juden als Juden beschimpft, beleidigt, verhöhnt, verunglimpft und bedroht oder – auch dies wieder vorwiegend in den Zuschriften aus der demokratisch gesonnenen Mitte – belehrt, ermahnt und in ihrer moralischen Integrität in Frage gestellt werden.

Welche Legitimationsstrategien die selbsternannten „Anti-Antisemiten“, „Humanisten“, „Friedensaktivisten“ und „besorgten Bürger“ für ihre antisemitischen Anwürfe wählen, stellt schließlich das elfte Kapitel dar.

Diskussion

Es kommt selten vor, dass eine Sprachwissenschaftlerin und ein Historiker gemeinsam ein Buch verfassen. Und noch seltener ist es, dass es sich dabei um ein Buch über Antisemitismus handelt. Der besondere Erkenntniswert der Studie erklärt sich aus diesem seltenen Fall einer geglückten Kooperation, in der die Präzision sprachwissenschaftlicher Dechiffrierungsarbeit und die Spannweite und das Detailwissen geschichtswissenschaftlicher Reflexion sich gegenseitig bereichern. Hinzukommt die Quantität und Qualität des empirischen Materials. Mir ist keine andere, neuere Forschungsarbeit zum Antisemitismus bekannt, die auf einem so umfangreichen und authentischen Material basiert, wie diese. Zugleich erzwingt das Material geradezu die Fokussierung auf das bislang weitgehend unerforschte Phänomen des Alltagsantisemitismus. Bemerkenswert ist schließlich nicht nur die intellektuelle, sondern auch die emotionale Leistung der Autoren, die sich durch ein von unfassbarem Hass und obsessiver Wut geprägtes Textmaterial hindurcharbeiten mussten.

Fazit

Dies alles macht das Buch zur wichtigsten empirischen Studie, die in den letzten Jahren zum Thema Antisemitismus im deutschsprachigen Raum erschienen ist. Ein Buch zudem, das im besten Sinne aufklärend ist. Es widerlegt die wohl gepflegte Legende, Antisemitismus gebe es in Deutschland nur noch an den Rändern der Gesellschaft – bei einigen „Ewiggestrigen“ oder „geistig Gestörten“. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist gerade die Normalität des Alltagsantisemitismus, die so schockierend ist. Alltagsantisemitismus ist ein Phänomen in der Mitte der Gesellschaft. Nach der Lektüre des großartigen Werks von Monika Schwarz-Friesel und Jehuda Reinharz wird niemand mehr diesen besorgniserregenden Sachverhalt ignorieren können.

Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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Es gibt 23 Rezensionen von Wolfram Stender.

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ISSN 2190-9245