Doreen Reifegerste: Zielgruppenspezifische Präventionsbotschaften
Rezensiert von Arnold Schmieder, 19.02.2013
Doreen Reifegerste: Zielgruppenspezifische Präventionsbotschaften. Implikationen evolutionärer Motive jugendlichen Risikoverhaltens.
Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2012.
287 Seiten.
ISBN 978-3-8329-7745-0.
D: 39,00 EUR,
A: 40,10 EUR,
CH: 55,90 sFr.
Reihe: Medien + Gesundheit - Band 5.
Thema
In der als Buch vorliegenden Dissertation stellt die Autorin ein von ihr entwickeltes Modell zu den Motiven für gesundheitsriskantes Verhalten junger Menschen vor, das darum überfällig sei, weil „keine ausreichende theoretische Grundlage“ existiere, „die eine motivationsbasierte, zielgruppenspezifische Wirkungskette für Präventionsappelle abbildet.“ Ihr Anliegen ist es, eine Forschungslücke zu schließen, indem sie ein „interdisziplinäres, funktional ausgerichtetes Modell entwickelt, das für die Präventionskommunikation relevante Determinanten (Risikowahrnehmung und Wirksamkeitseinschätzung) der Gesundheitspsychologie mit den Ansätzen aus der Entwicklungspsychologie und den zugrunde liegenden evolutionären Motiven verknüpft.“ (S. 11) Doreen Reifegerste hält sich zugute, dass es mit ihrem Modell gelungen sei, „die Erkenntnisse verschiedener Fachdisziplinen zu integrieren und für Kampagnenplaner so aufzubereiten, dass praxisnahe zielgruppenspezifische Ableitungen möglich wären“, für eine Gesamteinschätzung und für eine empirische Prüfung des Modells sei jedoch noch eine Reihe von Tests vonnöten. (S. 251)
Aufbau und Inhalt
Ihre klar formulierte Fragestellung geht Doreen Reifegerste zunächst in einem theoretischen Teil an, um daraus ihr Modell zu entwickeln, wie es ihren Ansprüchen genügen und für die Praxis orientierend sein soll. Ihre aus dem Modell abgeleiteten Hypothesen wurden an etwa 400 SchülerInnen der achten bis zehnten Klasse experimentell getestet, was in einem empirischen Teil vorgestellt und zugleich diskutiert wird. In gebotener Ausführlichkeit werden kommunikationsrelevante Determinanten referiert und kritisch diskutiert, jugend- und geschlechtsspezifische Ansätze im Hinblick auf ihre Erklärungsreichweite untersucht, um schließlich pointiert auf evolutionäre Motive in Präventionsbotschaften einzugehen. Eine Darstellung ihres methodischen Vorgehens fehlt nicht, das selbstkritisch eingeschätzt wird. (vgl. S. 244ff) In der Auswertung der Ergebnisse und einer Diskussion bündelt die Verfasserin die zentralen Motive des gesundheitlichen Risikoverhaltens ihrer Zielgruppe, denen Präventionsbotschaften Rechnung tragen sollten.
Schon in der gleich auf das Inhaltsverzeichnis folgenden Zusammenfassung weist die Verfasserin auf ein nach ihrer Meinung wohl belangvolles Ergebnis hin: Jener aus einem Onlinemagazin präsentierte Artikel zu den Folgen des Alkoholkonsums, „der die Rezipienten auf männerspezifische Folgen hinwies, habe „die höchste Risikowahrnehmung“ gezeitigt. (S. 12) Und das bedeutet: „Sowohl bei den Jungen, als auch bei den Mädchen führen die männerspezifischen Präventionsappelle zum Thema Alkoholkonsum zu einer höheren Risikowahrnehmung.“ (S. 242) Da sich vermuten lässt, „dass Jugendliche(n) durch den Alkoholkonsum der Zugang zu einem Partner bzw. einer Partnerin erleichtert wird und somit die Motivation zum Alkoholkonsum auf einem Paarungsmotiv beruht“ (S. 249), wäre im Hinblick auf Kampagnen zu prüfen, ob nicht ein „direkter Appell an das Paarungsmotiv zielführender“ und demnach „geschlechtsunspezifisch darzustellen“ wäre, „inwieweit der generelle Wunsch nach einer Partnerschaft durch erhöhten Alkoholkonsum gefährdet ist (Risikoinformation) bzw. ohne diesen zu erreichen ist (funktionale Alternative zur Erhöhung der Selbstwirksamkeit).“ (S. 248 f) Eine Parallele zu „riskantem Sonnenverhalten“ wird gezogen, zu dem solche jungen Erwachsenen, meist weiblich, verstärkt neigen, die „gerade aktiv auf Partnersuche sind“. Allerdings würden männliche Jugendliche eher zu riskantem Alkoholverhalten tendieren als zu Risiken beim Bräunen, was bei Mädchen und jungen Frauen umgekehrt sein dürfte. Zudem sei auch davon auszugehen, dass Mädchen durch Alkoholkonsum ihre Fitness und ihren Geldbeutel eher für gefährdet halten. Interessanterweise aber habe sich bei den weiblichen Probanden gezeigt, dass präventionsstrategisch „die männerspezifische Version eine bessere Wirkung zeigte als die eigentlich für sie intendierte“, was zu der Vermutung Anlass gäbe, „dass die konkrete Motivation zum Risikoverhalten wichtiger ist als die geschlechtsspezifische Partnerwahlmotivation.“ Unter dem Strich und im Hinblick auf Präventionsbotschaften würde das bedeuten, dass die geschlechterspezifische Paarungsmotivation (…) nicht so eindeutig geschlechterzuordenbar ist, dass dies auch für Präventionsappelle Wirkung zeigt.“ (S. 249 f; Fehler i. Orig.)
Diskussion
Das Buch ist kein Ratgeber und erhebt auch nicht den Anspruch, konkrete Wege aufzeigen zu wollen, wie die Motivbefunde präventionsstrategisch umzusetzen wären. Allerdings gibt die Autorin zu bedenken, dass „möglicherweise die Umsetzung sozialer Appelle in kleineren Interventionen im Freundeskreis (…) oder als Peer Education (personalkommunikativ) erfolgreicher als eine reine massenmediale Umsetzung durch Werbeanzeigen“ sein könnte (S. 256) – was ohnedies problematisch ist. Ist doch von Seiten der Werbung bekannt, dass ihre Botschaften wirken oder nicht und man im Voraus nicht genau einschätzen kann, warum sie wirken oder warum nicht. So gilt auch nach Auffassung der Autorin nach wie vor, „dass die Wirkung einer Präventionsbotschaft nicht a priori durch Experten/Kampagnendesigner abgeschätzt werden kann“. (S. 255) In dem für Gesundheitskampagnen sensiblen Fall, wo junge Menschen die Wahl zwischen gutem Aussehen und einem noch fernen Wohlbefinden haben, ist dieses generelle werbe- oder kampagnenstrategische Problem weniger relevant und man muss nicht zwingend darwinistisch tief graben, um gerade in Bezug auf diese Alterskohorte zu der Erkenntnis zu gelangen: Sex sells…
Nicht untersucht oder ausführlicher thematisiert wird, ob Präventionsbotschaften gerade von Jugendlichen nicht als das empfunden wird, was Sozialwissenschaftler unter dem Aspekt einer Medizinalisierung sozialer Kontrolle diskutieren. Gerade im Übergang zur Adoleszenz und in dieser Entwicklungsphase selbst reagieren junge Menschen, wie sattsam bekannt, ‚empfindlich‘ auf solche Kontrollen. So merkt die Autorin auch an: „Möglicherweise spielen bei Jugendlichen die Sicherheitsmotivation und die Gesundheitsorientierung nur eine untergeordnete Rolle (…) und soziale Funktionen des Verhaltens stehen im Vordergrund. 14-Järige gehen die höchsten Risiken ein (…) und gesundheitsschädliche Verhaltensweisen wie Alkoholkonsum, Drogengebrauch, ungesunde Ernährungsgewohnheiten und riskantes Verhalten im Straßenverkehr steigen in ihrer Stärke und Häufigkeit im Jugendalter an und sinken nach Erreichen des jungen Erwachsenenalters“ wieder ab. (S. 17) Auch dies ist hinlänglich bekannt und richtig ist es natürlich, die jungen Menschen da von falschen Wegen zum Selbst abzuholen, wo sie stehen. So fasst die Autorin zusammen, „dass zwischen den beiden Motiven Fortpflanzung und Selbsterhaltung“, denen sie größte Relevanz beimisst, „häufig eine negative Abhängigkeit besteht und somit motivationale Handlungskonflikte (…) zu berücksichtigen sind, da beide um dieselbe Energieressource konkurrieren (…). Die jeweilige Bedeutung von Überleben und Paarung ist vor allem abhängig vom Alter und Geschlecht eines Individuums und den vorherrschenden Umweltbedingungen. Die weiblichen Motive variieren sogar während eines Zyklus.“ (S. 115) Wenn man sich aus dieser „darwinistischen Perspektive“ die „Adaptionskonflikte bewusst“ macht, „die in verschiedenen Lebensabschnitten vorkommen (…), wird deutlich, dass das Reproduktionsmotiv vor allem in der Jugend relevant ist.“ (S. 119) Was Wunder also, dass „möglicherweise sportliche Aktivität als Mittel zur Aussehensverbesserung attraktiver“ erscheint „als zur Verbesserung der langfristigen Lebenserwartung.“ (S. 256) Um zu erklären, warum dem so ist oder sein könnte, dazu wäre eine interdisziplinäre Anleihe bei sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnissen dankenswert gewesen, die über den darwinistischen Blickwinkel hinaus mehr Facetten (und ggf. schichtenspezifische) des Phänomens hätten erhellen können.
Ebenso wenig wird behandelt, was in einer Kritik des Risikofaktorenmodells der Medizin angemerkt wird und zum Teil empirisch überprüft wurde, wie nämlich Menschen, die sich im Hinblick auf ihre Gesundheit riskant verhalten, dadurch einen ‚psychologischen Gewinn‘ haben, der die möglichen Folgen selbstschädigenden Verhaltens gleichsam kompensiert. Man denke an ‚paradoxe Fälle‘ und die so genannten ‚escapers‘. Zwar waren diese Aspekte nicht Thema des Buches, doch drängt sich diese Anschlussdiskussion auf, nicht nur verallgemeinernd, sondern gerade in Bezug auf wie von der Autorin in den Blick genommene Jugendliche. Ein interdisziplinärer Zugang, der bei einer Dissertation nicht zwingend zu reklamieren ist, würde vielleicht auch hier darüber aufklären, von welch anderen Motiven die favorisierten evolutionären noch begleitet werden und zusammen mit diesen evolutionären Motiven oder gar über sie hinaus Wirksamkeit für jugendliches Risikoverhalten entwickeln.
Fazit
Die Ergebnisse der Studie von Doreen Reifegerste sollten Aufmerksamkeit finden und können sicherlich die notwendige Diskussion um Gestaltung von Kampagnen und Appellen bereichern; denn nach wie vor gilt, dass im Jugendalter „viele gesundheitsbezogene Verhaltensweisen entstehen und sich verfestigen“ und bei Jugendlichen „gesundheitsorientierte Kommunikationskampagnen oft nicht wirksam“ sind. (S. 17)
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 19.02.2013 zu:
Doreen Reifegerste: Zielgruppenspezifische Präventionsbotschaften. Implikationen evolutionärer Motive jugendlichen Risikoverhaltens. Nomos Verlagsgesellschaft
(Baden-Baden) 2012.
ISBN 978-3-8329-7745-0.
Reihe: Medien + Gesundheit - Band 5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14017.php, Datum des Zugriffs 02.11.2024.
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