Richard Gebhardt, Anne Klein et al. (Hrsg.): Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 08.08.2013

Richard Gebhardt, Anne Klein, Marcus Meier (Hrsg.): Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft. Beiträge zur kritischen Bildungsarbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2012. 231 Seiten. ISBN 978-3-7799-2830-0. D: 32,95 EUR, A: 33,90 EUR.
Thema
Schon wieder ‚Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft‘? Nach der Flut von Tagungen und Publikationen zu diesem Thema in den letzten Jahren vermag der Buchtitel wenig Neugier zu erwecken. Nimmt man den Sammelband dann doch in die Hand, wird man durch die hohe Qualität einiger Beiträge belohnt.
Entstehungshintergrund
Der Band enthält die überarbeiteten Vorträge der Kölner Tagung „Dimensionen des Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft“, die im Mai 2011 stattfand, ergänzt um weitere Beiträge.
Herausgeber
Die Herausgeber sind in der politischen Bildungsarbeit gegen Antisemitismus tätig, so Marcus Meier als Geschäftsführer der Kölnischen Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, und beschäftigen sich wissenschaftlich mit Fragen des Rechtsextremismus, des Antisemitismus und der europäischen Erinnerungskultur, so Anne Klein (Universität Köln) und Richard Gebhardt (RWTH Aachen).
Aufbau und Inhalt
Im ersten Teil des Buchs – von der Herausgebern als „Einführung“ deklariert – warnen Albert Scherr, Juliane Wetzel und Astrid Messerschmidt vor den ideologischen Abgründen des Tagungsthemas. Wenn sich antimuslimisch-rassistische Initiativen wie „Pro Köln“ aufgefordert fühlen, gegen einen angeblich von Migranten „importierten Antisemitismus“ zu protestieren – so geschehen im September 2009 (vgl. Häusler 2012, S. 183f.) –, dann bedarf es keines großen Scharfsinns, um zu durchschauen, welches Spiel hier gespielt wird. Das weiß auch Albert Scherr: „Die Thematisierungen von Formen des Antisemitismus, die sich unter Migrant/innen in der Einwanderungsgesellschaft finden, stehen in Gefahr, sich in eine ethnisierende bzw. kulturrassistische Perspektive zu verstricken“ (S. 16). Generell gehe mit der Fokussierung auf den Zusammenhang von Antisemitismus und Migration eine eigentümliche Verschiebung einher, die zu einer Dethematisierung des nach wie vor virulenten Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft führe.
Auch Juliane Wetzel betont die Gefahr der Externalisierung des Problems. Antisemitismus sei ein gesellschaftliches Phänomen, „das in allen politischen und gesellschaftlichen Spektren latent vorhanden ist und quer zu Herkunftsgründen verläuft“ (S.35). Gleichwohl es selbstverständlich auch Antisemitismus unter Migranten gebe und vermutlich in bestimmten Milieus auch signifikant höher als in anderen, fehlten bislang repräsentative empirische Untersuchungen. Eine muslimisierende Wahrnehmung des Problems aber stelle eine in sich heterogene und vielschichtig religiöse Gruppe unter Generalverdacht. Der Begriff „muslimischer Antisemitismus“ sei im übrigen auch mit Blick auf die arabische Welt irreführend, weil es dort keineswegs nur um eine mit dem christlichen Antijudaismus vergleichbare religiöse Judenfeindschaft gehe, sondern um einen modernen, rassistischen, für Israel lebensbedrohlichen Vernichtungsantisemitismus: „(Die) antisemitischen Vorurteilstrukturen [im sog. „muslimischen Antisemitismus“, W.S.] weisen kaum Anknüpfungspunkte an etwaige Traditionen im Islam auf, sondern sind vielmehr Ergebnis der von europäischen Vordenkern des Antisemitismus in die muslimische Welt getragenen Topoi, die dort inzwischen einen zentralen Stellenwert einnehmen“ (S. 32).
Dass die mediale und wissenschaftliche Inszenierung eines „Antisemitismus der Migranten“ gerade der Abwehr migrationsgesellschaftlicher Realitäten dient, betont Astrid Messerschmidt. Dabei stelle die Externalisierung des Antisemitismus zugleich eine Ausgrenzungspraxis dar, der ein koloniales Muster zugrunde liege. Werden die „Anderen“ als rückschrittlich, antidemokratisch und antisemitisch etikettiert, könne man sich selber als fortschrittlich, demokratisch geläutert und vom Antisemitismus befreit betrachten. Eine „antisemitismuskritische Bildungsarbeit“ (S. 52) aber müsse sich den migrationsgesellschaftlichen Realitäten und der mit ihnen einhergehenden neuen Unübersichtlichkeit von Antisemitismen stellen, dabei auch das eigene „Involviertsein“ in Antisemitismus reflektieren und – zentral – die Perspektive derer berücksichtigen, „die durch antisemitische Praktiken diffamiert und angegriffen werden“ ( S. 54).
Eben diesen Herausforderungen einer antisemitismuskritischen Bildungsarbeit unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen widmen sich die Beiträge im zweiten und dritten Teil des Bandes. Sah Adorno im Antisemitismus das „Gerücht über Juden“, so hat dieses heute häufig die Form eines Gerüchts über Israel angenommen. Die ideologische Struktur antisemitischer Israelfeindschaft wird in dem Beitrag von Maike Weißpflug und Richard Gebhardt analysiert. Ressentiments gegen Israel sind gesellschaftlich weit verbreitet und häufig auch bei Menschen anzutreffen, deren Familiengeschichten in traumatischer Weise mit dem so genannten Nahostkonflikt verwoben sind. Wie dies pädagogisch berücksichtigt werden kann, zeigt Jochen Müller in seinem Beitrag. Grundlinien zu einer Pädagogik gegen Antisemitismus unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen sind auch in den Beiträgen von Heike Radvan und Barbara Schäuble zu finden. Beide präsentieren Ergebnisse aus ihren Forschungsprojekten zum Alltagsantisemitismus unter Jugendlichen (Schäuble 2012) und den Wahrnehmungs- und Reaktionsweisen von Pädagog/innen (Radvan 2010) und ziehen Schlussfolgerungen für die politische Bildungsarbeit.
Dass nicht der Antisemitismus, sondern vielmehr das Fehlen eines echten Anti-Antisemitismus häufig entscheidend ist, zeigt eindringlich die Geschichte des deutschen Juden Dieter Tamm, die sich in den Jahren 2002 und 2003 in Berlin ereignete. Es waren nicht nur die antisemitischen Angriffe, sondern vor allem die Gleichgültigkeit und der Mangel an Zivilcourage seiner Nachbarn, die Tamm dazu zwangen, sein Lebensmittelgeschäft aufzugeben und nach Israel zu emigrieren. Ein Lehrstück über Antisemitismus in der Gegenwart, das für die politische Bildungsarbeit genutzt werden kann, wie der Beitrag von Christian Brühl einmal mehr zeigt. Aber auch beim Anti-Antisemitismus gilt es heute genauer hinzuschauen. Dass er zunehmend für Ausgrenzungsstrategien gegen Muslime instrumentalisiert wird, zeigen die Beiträge von Marcus Meier und Heiko Klare, Hans Peter Killguss, Hendrik Puls, Michael Sturm.
Etwas deplatziert wirkt der interessante Exkurs über Antisemitismus und die kaum vorhandene Antisemitismusforschung in Großbritannien, den Doerte Letzmann in ihrem Beitrag unternimmt.
Hervorzuheben sind die Beiträge von Mehmet Can und Anne Klein. Wichtiger als die omnipräsente Fokussierung auf Antisemitismus im Kontext von Migration wäre es, so die These von Can, den Zusammenhang eines globalisierten Antisemitismus mit dem globalen Kapitalismus zu thematisieren. Für den modernen Antisemitismus ist die Identifizierung von Juden mit Geld, Geist und Macht zentral. Antisemitische Verschwörungstheorien haben fast überall auf der Welt Konjunktur. Als „Travestie der Gesellschaftstheorie“ (Marcel Stoetzler) erfüllt Antisemitismus die Funktion von Welterklärung und Religionsersatz zugleich, in der die Juden die Inkarnation des Bösen sind. Umso rätselhafter ist es, dass dazu in der politischen Bildungsarbeit so wenig gearbeitet wird. Eine Ausnahme bildet die „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ aus Berlin. Ausgehend von der Erkenntnis, dass das Kernelement des modernen Antisemitismus in einer besonders bösartigen Form des fetischistischen Antikapitalismus besteht, haben Can und seine Kollegen ein Bildungsangebot entwickelt, das sich auf die Beschäftigung mit den Strukturprinzipien des modernen Kapitalismus konzentriert. Der personalisierenden Deutung ökonomischer Prozesse und der Dämonisierung der Finanzsphäre soll so entgegengewirkt werden.
Eine neue Perspektive findet sich schließlich in dem Beitrag von Anne Klein, die das von Mark Terkessidis (2004) anhand von Rassismuserfahrungen entwickelte „Inventar des Rassismus“ auf den Antisemitismus anwendet. Indem sie den Perspektivwechsel, den Terkessidis für die Rassismusforschung vollzogen hat, auf die Antisemitismusforschung überträgt und am empirischen Material erprobt, löst sie zugleich ein zentrales Desiderat ein, nämlich die Erfahrungen derer zum Ausgangs- und Bezugspunkt zu nehmen, die hier und heute von antisemitischen Praktiken betroffen sind. Die Banalität des alltäglichen Antisemitismus kommt so zum Vorschein – eine Banalität, die aber in der Summe tief verletzend und unerträglich ist: „Die von Antisemitismus Betroffenen sprechen dabei selten von ‚Hass‘; vielmehr splittet sich die erlebte Diskriminierung für sie auf in ein breites Spektrum äußerst differenzierter Erfahrungssegmente. (…) Das Phänomen des Antisemitismus wird durch die Wende zum Subjekt in seiner Vielschichtigkeit greifbar“ (S. 222).
Diskussion
Ich habe schon lange kein Buch mehr gelesen, das so miserabel lektoriert ist wie dieser Sammelband. Gleich reihenweise werden Autorennamen falsch geschrieben – so wird z.B. aus Albert Scherr Albert Scheer (S. 32), aus Nikola Tietze Nikola Tietzke (S. 18), aus Wolfram Stender Wolf Stender (S. 12) oder Wolfgang Stender (S. 28; 69; 208) -; mehrfach fehlen im Text genannte Literaturhinweise in den Literaturlisten; die vielen Schreibfehler sind mitunter grob sinnentstellend: Was etwa soll „antisemitische Bildungsarbeit“ (S. 22; 28) sein? Bildungsarbeit, die antisemitisch ist, könnte man meinen. Gemeint ist aber genau das Gegenteil: anti-antisemitische oder antisemitismuskritische Bildungsarbeit. Man hat den Eindruck, dass der Band im Eiltempo zusammengeschustert wurde, ohne dass sich jemand für eine seriöse Prüfung der Manuskripte verantwortlich fühlte. Der inhaltlichen Qualität einiger Texte ist dies deutlich anzumerken. An Qualität scheint diese Art von Fast-Food-Lektorat aber auch gar nicht mehr interessiert – eine Zumutung für den Leser!
Fazit
Der Band gibt einen Einblick in aktuelle Diskussionen der politischen Bildungsarbeit gegen Antisemitismus. Wer wissen will, wie eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft aussehen kann, ohne auf ausgrenzende Semantiken zurückzugreifen, sollte sich ihn besorgen.
Literatur
- Häusler, Alexander (2012): Feindbild Moslem: Türöffner von Rechtsaußen hinein in die Mitte?, in: Gideon Botsch u.a. (Hrsg.), Islamophobie und Antisemitismus – ein umstrittener Vergleich, Berlin/Boston, 2012.
- Radvan, Heike (2010): Pädagogisches Handeln und Antisemitismus. Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit, Bad Heilbrunn, 2010.
- Barbara Schäuble (2012): „Anders als wir“. Differenzkonstruktionen und Alltagsantisemitismus unter Jugendlichen. Anregungen für die politische Bildung, Berlin, 2012.
- Mark Terkessidis (2004): Die Banalität des Rassismus. Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive, Bielefeld, 2004.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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