Adelheid Margarete Staufenberg: Zur Psychoanalyse der ADHS
Rezensiert von PD Dr. phil. Ulf Sauerbrey, 12.02.2013
Adelheid Margarete Staufenberg: Zur Psychoanalyse der ADHS. Manual und Katamnese.
Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2011.
317 Seiten.
ISBN 978-3-86099-696-6.
29,90 EUR.
Reihe: Schriften zur Psychotherapie und Psychoanalyse von Kindern und Jugendlichen - Band 21.
Autorin
Adelheid Margarete Staufenberg studierte Germanistik, Politik und Soziologie. Sie arbeitet als Analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin in einer eigenen Praxis in Frankfurt und ist Dozentin am Institut für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie sowie Mitarbeiterin am Sigmund-Freud-Institut in Projekten, die sich mit psychosozial auffälligen Kindern beschäftigen.
Entstehungshintergrund
Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist gegenwärtig die am häufigsten diagnostizierte Störung im Kindes- und Jugendalter. In der Regel erfolg die Diagnostik durch Ärzte auf der Basis der medizinischen Diagnosemanuale ICD 10 oder DSM-IV (ab Mai 2013 dann DSM-V). Diese rein kategoriale Einordnung von Symptomen kann jedoch durchaus den Blick für die Dimensionen abweichenden Verhaltens verstellen. Vor allem die individuelle Entstehung der ADHS rückt damit für den Therapeuten tendenziell aus dem Blick, wenn es sich ohnehin um ein festgelegtes ‚Krankheitsbild‘ handelt.
Aufbau und Inhalt
Diesen Impuls aufgreifend veröffentlicht Adelheid Margarete Staufenberg nun einen Band mit dem Titel „Zur Psychoanalyse der ADHS“, der im Untertitel als „Manual und Katamnese“ konkretisiert wird. Die Publikation basiert auf der Dissertation Staufenbergs aus dem Jahr 2011.
Die Problemstellung einer individuellen Entstehung abweichenden Verhaltens wird am Beispiel der ADHS einleitend skizziert und dabei auch aus kulturkritischer Sicht als Kontroverse diskutiert (Kap. 1). Staufenberg stellt bereits einleitend klar, dass sie das von ihr vorgelegte ‚Manual‘ explizit nicht als „direkte[…] Handlungsanweisungen“ verstanden wissen möchte.
In Kap. 2 wird zunächst die medizinisch-psychiatrische Diagnostik der ADHS auf Basis der ICD 10 und des DSM-IV vorgestellt, deren Geschichte ebenso in den Fokus gerückt wird wie die historische Entwicklung der ADHS bzw. des ADHS-ähnlichen Verhaltens. Das Kapitel enthält außerdem Ergebnisse zur Ätiologie der ADHS, skizziert also zugleich den Stand der gegenwärtigen Ursachenforschung. Hieraus schließt Staufenberg plausibel, dass es bislang keine „‚Grand Theorie‘ der ADHS“ gibt.
In Kap. 3 werden folgend die bisher verfügbaren Zugänge der Psychoanalyse zum Phänomen ‚ADHS‘ beschrieben, wobei dem Leser jedoch bereits ein breiter Einblick in allgemeine psychoanalytische Konzepte geboten wird.
Mit Kap. 4 beginnt die Darstellung des Manuals „zur psychoanalytisch-psychotherapeutischen Behandlung bei Kindern mit psychosozialen Integrationsproblemen, insbesondere HKS/ADHS“. Hierbei wird zu Beginn die Handhabung des Manuals durch den psychoanalytischen Therapeuten thematisiert. Anschließend finden sich Aspekte zur entwicklungspsychologischen Perspektive und Strukturbildung sowie zur Behandlungstechnik (Verbalisieren und Deuten sowie Mitagieren und Gegenübertragung). Dabei wird fortwährend deutlich, dass das Manuel keine reine Kausaltechnik ist, sondern vielmehr hilft, grundlegend abweichendes Verhalten zu reflektierten, zu verstehen und zu deuten: So werden neben den üblichen Kernsymptomen der ADHS (Aufmerksamkeitsdefizite, motorische Hyperaktivität und Impulskontrollstörung) in der Psychoanalyse auch weitere Aspekte wie etwa Trauma, Aggressionen, das Selbstwertgefühl, Schuldgefühle oder Vaterhunger ebenso thematisiert wie auch die Eltern als Begleiter des Kindes oder Jugendlichen mit ihren Schwierigkeiten in den Fokus geraten. Es wird dabei vor allem deutlich, dass die Psychoanalyse nicht allein die Therapie des betroffenen Kindes, sondern zugleich vielschichtige Hilfeangebote für die Eltern bietet.
In Kap. 5 werden Aspekte dieses Manuals an einem Fallbeispiel gedeutet.
Während die vorangestellten Kapitel vor allem auf die therapeutische Hilfe hin ausgerichtet waren, stellt Staufenberg schließlich in Kap. 6 ausführlich die Ergebnisse einer Katamnesestudie vor. Hier wird nun deutlich, dass der häufig zu hörende Vorwurf von Subjektivität und unwissenschaftlicher Deutung in der Psychoanalyse fehl am Platze ist. Die Katamnesestudie zeigt auf, dass die Psychoanalyse auch als Wissenschaft am Nachweis des Erfolges der eigenen Therapieangebote interessiert ist. Staufenberg aktualisierte mit ihrer Forschung bereits Ende der 1990er Jahre erhobene Fallbeispiele in der Katamnesestudie. Es gelingt ihr dabei unter anderem aufzuzeigen, welche Umstände in Diagnostik, Vermittlung und Therapie einen jeweils hohen Erfolg für die Betroffenen erwartbar werden lassen.
Diskussion
Das Buch rahmt zunächst den interdisziplinären Gegenstand der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung ein, um schließlich die für die Psychoanalyse der ADHS relevanten Aspekte im weiteren Verlauf der Darstellung aufzugreifen. Hiermit bietet das Buch nicht nur einen plausiblen Aufbau und einen guten Lesefluss, sondern auch eine in sich schlüssige und verständliche Skizze psychoanalytischer Arbeit mit entsprechend verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen. Dem im Titel festgehaltenen Manual und der Katamnese wird Staufenbergs Buch damit mehr als gerecht. Insbesondere die Katamnesestudie bietet eine Basis empirischer Forschung zum Erfolg psychoanalytischer Arbeit, wobei die Autorin die erhobenen Daten kritisch und differenziert auswertet. Lediglich in Bezug auf die gegenwärtige Ursachenforschung zur ADHS hätten aktuelle Studien, etwa in Bezug auf die Rolle der Bildschirmmedien, einbezogen werden können (vgl. Überblick in Sauerbrey 2013).
Fazit
Das Buch bietet einen hervorragenden Überblick über eine Psychoanalyse der ADHS. Sowohl für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ADHS, als auch für die therapeutische Arbeit mit ADHS-Betroffenen bietet Staufenberg neue Blickwinkel, die der Psychodynamik, d.h. der ursächlichen Entwicklung abweichenden Verhaltens, auf verschiedenen Ebenen die Spur kommen. Somit erscheint das Buch nicht allein für Vertreter der Psychoanalyse als Manual und als Basis relevanter Forschung zur ADHS hilfreich, sondern enthält zugleich wertvolles Anregungspotential für die breiten Arbeitsfelder der Medizin und der Pädagogik. Kurzum: Besonders lesenswert!
Literatur
- Sauerbrey, U. (2013): Pädagogische Blicke auf abweichendes Verhalten, oder ein Plädoyer für eine erziehungswissenschaftliche ADHS-Forschung, In: Zeitschrift für Sozialpädagogik Jg. 11, Heft 1 (angenommen, im Erscheinen).
Rezension von
PD Dr. phil. Ulf Sauerbrey
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsklinikum Jena und Privatdozent an der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften der Friedrich-Schiller-Universität Jena
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Es gibt 20 Rezensionen von Ulf Sauerbrey.
Zitiervorschlag
Ulf Sauerbrey. Rezension vom 12.02.2013 zu:
Adelheid Margarete Staufenberg: Zur Psychoanalyse der ADHS. Manual und Katamnese. Brandes & Apsel
(Frankfurt) 2011.
ISBN 978-3-86099-696-6.
Reihe: Schriften zur Psychotherapie und Psychoanalyse von Kindern und Jugendlichen - Band 21.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14043.php, Datum des Zugriffs 08.11.2024.
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