Stephan Bundschuh, Ansgar Drücker et al. (Hrsg.): Wegweiser. Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus
Rezensiert von Dr. Siegmund Pisarczyk, 22.10.2012
Stephan Bundschuh, Ansgar Drücker, Thilo Scholle (Hrsg.): Wegweiser. Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus. Motive, Praxisbeispiele und Handlungsperspektiven.
Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2012.
346 Seiten.
ISBN 978-3-89974-770-6.
16,80 EUR.
Als Band 1245 in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen.
Herausgeber
Stephan Bundschuh ist Professor für Kinder- und Jugendhilfe an der Fachhochschule Koblenz, Ansgar Drücker Geschäftsführer des Informations- und Dokumentationszentrums für Antirassismusarbeit (IDA) e.V., Thilo Scholle Vorsitzender des IDA e.V.
Thema und Zielgruppe
Die Handreichung ist Studenten/innen der Erziehungswissenschaft, der Sozialen Arbeit, der Politikwissenschaft, Sozialpädagogen/innen und Freizeitwissenschaftlern/innen zu empfehlen. Grundthese: In einer freiheitlich-demokratischen Rechtsordnung gibt es keinen Platz für Rechtsextremismus, Gewalt, Feindbilder und Rassismus.
Alle Autoren/innen bzw. deren Beiträge gleichrangig zu besprechen würde den Rahmen dieser Rezension sprengen. Eingangs lassen sich folgende Fragen stellen:
- Was bedeuten Jugendarbeit und Rechtsextremismus?
- Wofür brauchen wir pädagogische Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus?
- Welche Ziele verfolgt Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus?
- Gibt es erfolgreiche Strategien gegen Rechtsextremismus?
- Mit welchen Herausforderungen wird Jugendarbeit konfrontiert?
- Wo liegen pädagogische Chancen der Jugendarbeit im 21. Jahrhundert?
Aufbau und Inhalt
Diese Publikation besteht aus vier Teilen.
Die Herausgeber schreiben bereits in der Einführung kompakt über pädagogische Strategien gegen Rechtsextremismus; sie beziehen sich u. a. auf die Ereignisse von 2011 in Norwegen, wo der Rechtsextremist Anders Behring Breivik im Jugendcamp so viele Menschen, vor allem Jugendliche, umgebracht hatte. Schließlich wird betont, dass Rechtsextremismus keine Altersfrage ist. Alle Diskussionen über Rechtsextremismus müssen differenziert behandelt werden. Die Begriffe Demokratiepädagogik bzw. Pädagogik gegen Rechtsextremismus sind wichtige Punkte der Herausgeber im Sinne der politischen Bildung gegen Rechtsextremismus im 21. Jahrhundert.
In Teil 1 werden einführend die Ziele der pädagogischen Jugendarbeit prägnant definiert.S. Lange schreibt in ihrem Beitrag, dass Jugendarbeit gesellschaftspolitisch und juristisch gesehen in den Gesamtzusammenhang der Jugendhilfe eingeordnet ist. Sie sieht Jugendarbeit als institutionalisierten Ort der „Freizeit“ (S. 25) und an den Interessen der Jugendlichen orientiert. Jugendarbeit hat einen bildungspolitischen Auftrag und befasst sich mit der Selbstbildung. Eine erfolgreiche Jugendarbeit braucht „Frei“-Räume und notwendiges Personal, um pädagogisch wirkungsvoll die Demokratie zu fördern.
A. Pingel beschreibt in ihrem Beitrag über Jugendsozialarbeit ihre Aufgaben und Präventionspotenziale gegenüber Rechtsextremismus: Jugendsozialarbeit hat den Anspruch, Erziehungs-, Beratungs- und Bildungsangebote zur sozialen und beruflichen Integration zur Verfügung zu stellen (vgl. S. 35). Jugendsozialarbeit ist rechtlich und fachlich in der Jugendhilfe angesiedelt, sie kann ihren Zielgruppen – oft „Benachteiligten“ - lediglich Angebote machen, an denen die Jugendlichen freiwillig teilnehmen. Nach Pingel bedarf es der Zusammenarbeit der Jugendsozialarbeit mit der Jugendhilfe und besonders der Jugendarbeit, um z. B. gemeinsame Projekte durchzuführen wie internationale Begegnungen und Freiwilligendienste.
In Teil 2 erörtern die Autoren die organisatorischen Grundlagen der pädagogischen Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus. Eingangs fragt F. J. Krafeld, ob es einer speziellen Pädagogik gegen Rechts bedürfe. Er verneint diese Frage und signalisiert damit, dass die Antwort viele Facetten hat. Krafeld schlussfolgert, nicht die „Jugendlichen brauch(t)en eine spezielle Pädagogik gegen Rechts, sondern die Pädagogik braucht(e) sie!“ (S. 53). Pädagogik muss sich für gefährdete Jugendliche interessieren, um sie zu begleiten, zu betreuen, Beziehungen aufzubauen und sie mit unterschiedlichen Werthaltungen zu konfrontieren. Rechtsextremismus-Prävention und Gender müssen zentrale Anforderung an die Sozialpädagogik werden. Männlichen Jugendlichen müssen „Räume geschaffen werden, um sich den Dominanzansprüchen und Unterordnungsanordnungen zu entziehen“ (S. 71).
In
einem Beitrag plädiert E. Lehnert
zu Recht für eine geschlechtsreflektierende Jugendarbeit (nicht
immer konfliktfrei aber notwendig) als Möglichkeit gegen
Rechtsextremismus. Nach S. Bundschuh
ist Gewalt eine grundsätzliche
menschliche Fähigkeit, die jedoch
in gesellschaftlichen Interaktionen
vergleichsweise selten
vorkommt: sie drückt ein ungleiches
Verhältnis aus und ist eine situative Interaktion. Der Autor
empfiehlt Zivilcourage und Trainings, um in Gewaltsituationen
couragiert handeln zu können. Es ist ein wichtiger Ansatz, nicht
nur für die Jugendarbeit, sondern auch für die Erwachsenenbildung.
Teil 3 umreißt die gesellschaftlichen Wege der Jugendarbeit in einer demokratischen Gesellschaft. Ch. Kaletsch setzt sich in ihrem Beitrag für eine Pädagogik gegen Rechtsextremismus ein. Für sie ist Rechtsextremismus vor allem eine pädagogische Herausforderung, eine für die außerschulische Bildungsarbeit.
Anschließend befasst sich A. Scherr mit der Frage, was Jugendarbeit kann und was sie zur Aneignung demokratischer Überzeugungen beitragen soll: Es ist die Aufgabe der Jugendarbeit, junge Menschen zur Selbstbestimmung zu befähigen, sie zu sozialem Engagement und zu gesellschaftlicher Mitverantwortung zu führen (vgl. S. 109). Besonders die offene Jugendarbeit muss automatisch gegen Rechtsextremismus vorgehen, u.a. sollen die Konzepte der Diversity-Pädagogik und der Bildungsarbeit gegen Diskriminierung und Rassismus noch intensiver umgesetzt werden.
D. Aderholz und M. Rodrian-Pfennig stellen in deren Beitrag „Demokratisierung der Demokratie: das fortwährende Versprechen“ fest, dass Demokratisierung sich über konkrete Handlungsakte ereignet. (vgl. S. 133).
B. Großegger und B. Heinzlmaier beschreiben wichtige Motive junger Menschen zur Demokratieentfremdung und plädieren für eine Demokratieförderung Jugendlicher als Zielgruppe z. B. durch Akzeptanz, Unterstützung und teilnehmendes Handeln in der Demokratie (vgl. 146).
Im letzten Beitrag dieses Teiles beschreiben A. Drücker und E. Flügge in „Zwischen Ablehnung von Zensur und Schutz der Demokratie: zur Auseinandersetzung junger Menschen mit Rechtsextremismus im Internet und in Sozialen Netzwerken“ die Potenziale des Internets. Zu Recht schreiben sie, dass die veränderte Kommunikation im Internet und im Web 2.0 auch die Sichtweise bzw. den Begriff des Opfers und die Opferperspektive (vgl. S. 152) verändert: Rechtsextremismus im Internet verletzt die Menschenwürde und erfordert Zivilcourage dagegen. Darin liegt die pädagogische Herausforderung.
In Teil 4 beziehen sich die Autoren/Autorinnen auf praktische Beispiele und Empfehlungen für eine Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus. Im ersten Beitrag berichten M. Detzner und H. Mai über „Das Planspiel ’Braucht Cityville eine Bürgerwehr?’ Eine Methode zur Auseinandersetzung mit rechtsextremen Ideologien, Materialien und Praxisreflexion“. Das Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit (IDA) e.V. entwickelte gemeinsam mit der Akademie für Rechtskultur und Rechtspädagogik dieses Planspiel, in welchem sich Teilnehmende in Kleingruppen auf ihre Rolle in der Bürgerversammlung vorbereiten, um einen Antrag einer rechtsextremen Initiative zur Errichtung einer Bürgerwehr zu verhandeln und darüber abzustimmen. Das Planspiel basiert grundsätzlich auf Originaltexten rechtsextremer Gruppierungen, mit denen „menschenverachtende Aussagen“ (S. 184) reproduziert werden, um die Öffentlichkeit zu sensibilisieren.
Im zweiten Beitrag analysieren B. Hafeneger und R. Becker in „´Den Blick nach innen gerichtet’ einen Bericht aus einem Projekt der „Deutschen Jugendfeuerwehr“ über den Umgang mit Rechtsextremismus. Die Autoren liefern eindeutige Ergebnisse des Projektes und ein überzeugendes Monitoring für Theorie und Praxis zu Rechtsextremismus und Feuerwehr. Sie plädieren für die Schaffung einer Koordinationsstelle auf Bundesebene, die besonders die ehrenamtlich engagierten Bürger/-innen über dieses Thema ausreichend informiert, weiterbildet und berät.
Anschließend analysiert A. Ribler in ihrem Beitrag „Sportjugend Hessen: Beratung und Unterstützung von Sportvereinen in der Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus“, anonymisierte Beratungsfälle. Aufgrund von Ergebnissen der durchgeführten Projekte werden Herausforderungen an die Sportvereine formuliert.
Zu diesen zählt Prävention im Sinne der Demokratievermittlung.
Th. Stimpel und Th. Olk liefern mit dem vierten Beitrag dieses Teiles “Zivilgesellschaft stärken. Ein Projekt zur Entwicklung von Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Rechtsextremismus in ländlichen Regionen“ wichtige Informationen und Grundlagen zum Rechtsextremismus besonders im strukturschwachen ländlichen Raum. So schreiben Stimpel/Olk, dass die artikulierten Bedürfnisse der jungen Menschen im ländlichen Raum für weitere Analysen berücksichtigt werden müssen. Pädagogische Jugendarbeit, Prävention und Bekämpfung rechtsextremer Vorfälle durch starken Einsatz zivilgesellschaftlicher Strukturen „kann nicht hoch genug eingeschätzt werden“. (S. 231).
Im letzten Beitrag des Buches schildern Th. Höhne und J. Niklas am Beispiel des deutsch-tschechischen Jugendaustausches „Tandem“ Wichtiges und Überzeugendes zur binationalen Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus. Die Autoren schreiben u. a. „Eine kritische Positionierung gegenüber alltäglichem und institutionalisiertem Rassismus – beispielsweise gegenüber der Diskriminierung und Abschiebung von Roma in Tschechien und Deutschland – erscheint uns als politischer Standpunkt hierbei unabdingbar.“ (S. 245). Höhne/Niklas plädieren für intensive Kommunikation und pädagogische Dialoge zwischen den beiden Ländern, um alle Defizite des internationalen Jugendaustausches auszugleichen.
Diskussion
Die Lektüre bietet, was der Titel verspricht:
Bundschuh/Drücker/Scholle warnen bereits in der Einführung: „Die jüngste Aufdeckung einer neonazistischen Terrorzelle in Deutschland, die für mindestens neun rassistische Morde verantwortlich ist und sich in ihrem Namen auf den Nationalsozialismus bezieht, zeigt, dass solch eine Gruppe nicht ohne Umfeld agieren kann.“ (S. 11) – Sie versuchen ein Bewusstsein der sozialen Sensibilität, der Wachsamkeit und der pädagogischen Verantwortung zu erzeugen. In dieser Studie werden Beiträge herausragender Sozialwissenschaftler/innen und Pädagogen/innen berücksichtigt u.a. L. Bönisch, D. Damm, H. Giesecke, B. Hafeneger, W. Heitmeyer, W. Hornstein, H. Kentler, F. J. Krafeld, T. Olk, H.U. Otto und W. Thole.
Der Begriff des Rechtsextremismusist in dieser Arbeit wie folgt definiert und beinhaltet„Einstellungen (Nationalismus, Ethnozentrismus, Sozialdarwinismus, Antisemitismus, Pro-Nazismus, Befürwortung Rechts-Diktatur, Sexismus) und dann Verhaltensweisen (Protest, Provokation, Wahlverhalten, Partizipation, Mitgliedschaft, Gewalt,Terror).“ (Hafeneger/Becker, S. 188). Damit wird das breite Spektrum der Problematik für pädagogische Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus umrissen.
Die konzeptionelle Stärke der Studie ist, dass die Vielschichtigkeit und Vielseitigkeit der Problematik der Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus klar strukturiert und zielorientiert nachvollziehbar ist.
Das Internet darf nicht als Plattform für Rechtsextremismus wirken. Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus muss im Internet dieser Thematik eindeutige Antworten geben und besonders jungen Menschen plausibel erklären, dass Rechtsextremismus eine Verletzung der Grundwerte unserer Demokratie ist.
Der sinnvollen Freizeitgestaltung in der pädagogischen Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus muss mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Langeweile und Frust müssen besonders in der Freizeit mit pädagogischen Förderangeboten bekämpft werden.
Ehrenamtlich engagierte Gruppenleiter/innen in der Jugendarbeit müssen nach pädagogischen und nach ethischen Kriterien sorgfältig ausgewählt werden.
Für pädagogische Jugendarbeit lassen sich wertvolle Erkenntnisse ableiten, und zwar im Sinne einer Zivilgesellschaft sowie einer Menschenrechtspädagogik und einer interkulturellen Pädagogik, die gegen Gewalt und Rechtsextremismus eindeutig demokratische Positionen beziehen. In einer demokratischen Gesellschaft gibt es keinen Platz für rassistische Feindbildproduzenten.
Es wird dafür plädiert, dass Politik und Pädagogik gemeinsame Strategien für Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus entwickeln müssen. Eine Pädagogik gegen Rechtsextremismus wird nicht nur bejaht, sondern auch eingefordert.
Die gewünschte„Schaffung einer Koordinationsstelle auf Bundesebene“ für Ehrenamtliche kann ebenfalls auf europäischer Ebene erweitert werden.
Die Lektüre bietet für pädagogische Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus überzeugende Beispiele u. a. für binationale Jugendarbeit, die dialogisch, informativ, pluralistisch und international im Abbau von Vorurteilen eine Perspektive für ein gemeinsames Europa aufbaut.
Fazit
Das Buch ist ein überzeugender Leitfaden der politischen Bildung. Aderholz/Rodrian-Pfenning bringen mit ihrer Aussage „Demokratie ist kein uneingelöstes, sondern ein fortwährendes Versprechen“ (S. 125), die Botschaft des Buches auf den Punkt. Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus meint, pädagogisch demokratische Strukturen in der Gesellschaft zu stärken.
Rezension von
Dr. Siegmund Pisarczyk
Diplompädagoge & Nonprofit Manager
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Es gibt 18 Rezensionen von Siegmund Pisarczyk.
Zitiervorschlag
Siegmund Pisarczyk. Rezension vom 22.10.2012 zu:
Stephan Bundschuh, Ansgar Drücker, Thilo Scholle (Hrsg.): Wegweiser. Jugendarbeit gegen Rechtsextremismus. Motive, Praxisbeispiele und Handlungsperspektiven. Wochenschau Verlag
(Frankfurt am Main) 2012.
ISBN 978-3-89974-770-6.
Als Band 1245 in die Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14066.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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