Nils Förster: Eine transdisziplinäre Konstruktion von Beziehung
Rezensiert von Prof. em. Dr. Ortfried Schäffter, 27.01.2014

Nils Förster: Eine transdisziplinäre Konstruktion von Beziehung. Implikationen für Führung, Management und Organisationsentwicklung.
Verlag Dr. Kovač GmbH
(Hamburg) 2012.
318 Seiten.
ISBN 978-3-8300-6344-5.
D: 88,00 EUR,
A: 90,50 EUR.
Schriftenreihe strategisches Management - Band 133.
Entstehungshintergrund und Thema
Bei der Untersuchung von Nils Förster handelt es sich um die Publikation einer wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation, die am Lehrstuhl für Internationales Management an der Universität der Bundeswehr München im Kontext einer dort entwickelten Programmatik verfasst wurde. Ihre spezifische Zielsetzung und erkenntnisleitende Fragestellung bezieht sie aus dem Themenbereich „Leadership Excellence“ des von Prof. Hans A. Wüthrich geleiteten Forschungsprojekts „Musterbrecher“. In ihm wird in praxisnaher Forschung empirisch untersucht, inwieweit betriebswirtschaftliche Prinzipien effizienzbasierter Steuerungsverfahren und eine auf Kontrolle gerichtete Führung komplexer sozialer Systeme unter den heutigen Bedingungen struktureller Unbestimmtheit überhaupt noch als zielführend angesehen werden können. Als Alternative böte sich der Forschungsprogrammatik zufolge die Option an, die tradierten Muster eines kontrollierend zielvorwegnehmenden Führungsverhaltens methodisch zu durchbrechen, um dadurch Ermöglichungsbedingungen für eine beziehungsförderliche Organisationskultur der Potentialentfaltung freizusetzen. Dies verlange allerdings eine paradigmatische Abwendung von einer obsolet gewordenen Philosophie linearer Steuerung.
Aus einer derartig charakterisierten Forschungs- und Beratungsprogrammatik heraus verfolgt Nils Försters grundlagentheoretisch angelegte Studie das Ziel, die Problemdiagnose von Unternehmensorganisation, Führungsverhalten und Personalwirtschaft in einen disziplinübergreifenden Bezugsrahmen zu stellen und aus ihm heraus schrittweise eine alternative Sicht systematisch zu begründen. In seiner gesamten Argumentation geht es folglich darum, im erkenntnistheoretischen Rahmen einer konstruktivistischen Theorie ein neuartiges Verständnis von Organisation als einem relationalen Beziehungsgefüge zu entwickeln. Hierbei wird theoretisch begründungsfähig, dass das bisherige instrumentalistisch verengte Verständnis von betriebswirtschaftlicher Rationalität als ursächlich für ökonomisch folgenreiche Fehlentwicklungen betrachtet werden muss. Das bislang unhinterfragte Primat betrieblicher Effizienz erweise sich daher unter den heute gegebenen Rahmenbedingungen struktureller Unbestimmtheit aus der Sicht eines beziehungstheoretisch begründeten Organisationsverständnisses als ökonomisch unwirksam, und aufgrund seiner „Kollateralschäden“ als irrational.
Diskussion des Entstehungskontextes: Auch wenn dieser kontextuelle Hintergrund weder in der Ankündigung, im Einführungsteil, noch in der abschließenden Zusammenfassung deutlich erkennbar offengelegt wird, so erweist sich die grundlagentheoretisch angelegte Studie in all ihren kleinteiligen und hoch didaktisierten Argumentationsschritten letztlich als eine disziplininterne Streitschrift, die in ihrem methodologischen und epistemologischen Zugang darauf abstellt, zentrale identitätsbildende Überzeugungen und Deutungsprinzipien der Betriebswirtschaft und Personalwirtschaft kontingent zu setzen, um sie schließlich in ihrer Gesamtheit systematisch zu destruieren. Mit ihrer Deutung von Unternehmensorganisation als ein relationstheoretisch zu fassendes mehrstelliges Beziehungsgefüge kann die Studie daher den Blick öffnen auf ein postindustrielles Organisationsverständnis, mit dem die bisherige Reduktion auf ein „triviales Maschinenmodell“ (sensu Heinz v. Foerster) überwunden wird. Statt auf einer permanenten Steigerung von Kontrolle, normierenden Verfahren, Effizienz und Beschleunigung habe nun das Führungsverhalten in einer „beziehungsorientierten“ Organisationskultur auf „Potenzialentfaltung“ zu setzen. Der Denkstil traditioneller Betriebswirtschaft und seine noch frühmoderne Steuerungsphilosophie erwiesen sich angesichts der Komplexität einer postindustriellen Gesellschaftsentwicklung mittlerweise als obsolet. Hingegen wird das im Argumentationsgang der Studie exemplarisch vorgeführte „Musterbrechen“ als zukunftsweisende Chance betrachtet, um eine organisationale Beziehungsqualität zu gewährleisten, die als ein kulturbasiertes Alleinstellungsmerkmal nicht von der Konkurrenz kopiert werden und daher dem eigenen Wirtschaftsunternehmen letztlich einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil verschaffen könne.
Aufbau und inhaltliche Schwerpunkte
In fünf Kapiteln folgt die Studie der Argumentationslogik zur grundlagentheoretischen Fundierung einer kulturwissenschaftlichen Programmatik. Sie setzt ein mit einer konsensfähigen, evidenzbasierten Defizitanalyse, identifiziert mögliche problemverursachende Dimensionen und leitet daraus am Ende die zu begründende Programmatik am Lehrstuhl einschließlich einer dort bereits entwickelten Interventions- und Beratungsstrategie als fachlich konsequente Perspektive der Problemlösung ab.
Im ersten Kapitel beginnt der argumentative Eröffnungszug mit der Diagnose eines unvermeidlichen Scheiterns der Unternehmensführung an strukturbedingt paradoxalen Anforderungen wie Steuerbarkeit des Nicht-Steuerbaren, Planung des Unplanbaren, Vertrauen auf der Grundlage misstrauischer Kontrolle, Deutung von Gestaltungschancen als Sachzwänge. Als „symptomatisch“ für strukturell gestörte Beziehungsverhältnisse in Wirtschaftsunternehmen wird ein Katalog offenkundiger Fehlentwicklungen dokumentiert. Ihre Verursachung wird darauf zurückgeführt, dass Unternehmensführung offenbar nur unzureichend ihre Funktion als strukturelle „Gestalterin von Beziehung“ wahrzunehmen vermag, weil sie diese reduktionistisch aus der Dimension eines administrativ formalisierten „Beziehungsmangements“ ableite. Hierzu werden einschlägige betriebswirtschaftliche und personalwirtschaftliche Managementinstrumente kritisch in ihrer dysfunktionalen Wirkung analysiert.
Im zweiten Kapitel wird die Problemdiagnose wissenschaftstheoretisch legitimiert und hierzu einer epistemologischen Reflexion unterzogen. Erkennbar wird die Positionsabhängigkeit und kontextgebundene Perspektivität jedes Deutungsrahmens im Sinne des hier vertretenen konstruktivistischen Wahrheitsverständnisses. Abgeleitet wird hieraus der Anspruch, tradierte und somit selbstverständlich erscheinende Wirklichkeitskonzeptionen reflexiv kontingent setzen, um damit neuartige Handlungs- und Gestaltungsoptionen gewinnen zu können.
Im dritten Kapitel wird der theoretische Kern des Begründungsrahmens erarbeitet, nämlich die kategoriale Klärung eines qualitativ erweiterten Beziehungsbegriffs, der die bisherige instrumentalisierende Eindimensionalität sprengt. Wie bereits im Titel der Untersuchung angekündigt, dient hierfür ein disziplinübergreifender Bezugsrahmen aus drei sogenannten „Leitdisziplinen“. Mit ihm soll auf einer „transdisziplinären“ Deutungsebene eine Multiperspektivität erzielt werden, die der dimensionalen Mehrstelligkeit eines organisationalen Beziehungsgefüges in ihrer Komplexität gerecht werden kann. Für den so entwickelten „Bezugsrahmen“ zur Analyse der Beziehungsstruktur in Wirtschaftsunternehmungen als ein relationales Feld erscheinen Förster drei Dimensionen als Leitdisziplinen relevant, um alle von ihm als wesentlich erachteten Beziehungsmomente in der theoretischen Modellierung berücksichtigen zu können. Herangezogen werden
- Psychologie (Vertrauen und Identität),
- Soziologie (Rolle und Macht) und ganz dem naturalistischen Zeitgeist folgend
- Hirnforschung (Emotionen und Gefühle).
Warum es gerade diese und nicht andere Hinsichten auf eine transdisziplinäre Konstitution eines mehrschichtigen Forschungsgegenstandes sein sollen, lässt sich dem vom Verfasser geäußerten Interesse entnehmen, nämlich ein „Beziehungskaleidoskop“ zu entwickeln, das sich zukünftig in die Fachdiskurse der Betriebswissenschaft transferieren ließe.
Diskussion des theoretischen Kerns: Von einer Außensicht her erscheint es allerdings wenig einsichtig, warum hier nicht auch philosophisch-ethische oder historisch-sozialtheoretische Deutungsperspektiven in das Konstrukt eines transdisziplinären „Beziehungskaleidoskops“ hätten Eingang finden können. Insofern sagt der Begründungskanon viel aus über den gegenwärtigen Diskurs in den Wirtschaftswissenschaften mit seiner offenbar hohen Affinität gegenüber einem zur Naturalisierung einladenden Forschungsansatz. Von der neuralbiologischen Forschung meint man mit dem Nachweis von „Spiegelneuronen“ verlässlicher begründen zu können, dass der Mensch ein soziales und damit beziehungsfundiertes Gattungswesen sei, als aus Forschungsergebnissen der kulturwissenschaftlichen Anthropologie oder aus anerkennungstheoretischen Ansätzen der Sozialphilosophie. Allerdings geht die von Nils Förster gegenüber der betriebswissenschaftlichen Lehrmeinung erweiterte Kategorie der Beziehung erheblich über eine nur formale Konzeptualisierung hinaus. Vielmehr wird ein qualitatives Verständnis im Sinne einer „gelungenen Beziehung“ herausgearbeitet und anhand der „Grundelemente“: Interaktion, Kommunikation und Verstehen operationalisiert. Im Ergebnis besteht dennoch Anlass zum Zweifel, dass Förster mit dem Eklektizismus einer „Begriffslandschaft“ bzw. eines „Beziehungskaleidoskops“ differenter Deutungsperspektiven von Beziehung tatsächlich in der Lage ist, anstatt eines „inter-disziplinären“ nun tatsächlich einen „trans-disziplinären“ Bezugsrahmen zu modellieren. Dieser hätte sich auf einer logisch höheren Stufe zu bewegen, als seine verschiedenen, weitgehend beliebig herangezogenen, Teilaspekte. Insofern kann sein Vorschlag letztlich als ein wenig tragfähiger, weil relationstheoretisch nicht hinreichend durchdachter „generischer Bezugsrahmen für die Beziehung in Management und Organisation“ gelten.
Im vierten Kapitel richtet sich die Argumentation dann auf die praktische Relevanz und die methodische Umsetzung des mehrschichtigen normativ gefassten Verständnisses von „Beziehung“ für Führung, Management und damit auf ein ihm entsprechendes Verständnis von systemisch beziehungsorientierter Organisationsberatung. Stand zu Beginn der Argumentationskette die „Symptomatik“ als Ausgang einer Problemdiagnose noch im Vordergrund, so mündet diese nun ein in die „Anamnese“ spezifischer „Beziehungsphänomene“, wie sie in „rigiden Organisationen“ anzutreffen seien. Im Ergebnis läuft dies auf den Nachweis von strukturell erzeugter „Beziehungslosigkeit“ hinaus. In Gestalt einer praktischen Beratungsaufgabe steht man folglich vor der „Arbeit an einer Beziehungsorganisation“, und damit stellt sich die Frage nach einem professionellen Instrumentarium zur Intervention in die betriebliche Praxis. Für eine solche „Arbeit am System“ wird das „Experiment“ zum methodischen Schlüssel erklärt. Wenn systemische Intervention im Verständnis „experimenteller Systemeingriffe“ nun als „Organisationale Akupunktur“ bezeichnet wird, bleibt der Autor seiner medizinischen Metaphorik treu, kann hierdurch allerdings die zentralen Interventionsdimensionen praxisnah und überschaubar an vier „Reflexionsschritten für eine Konstruktion experimenteller Akupunkturen“ zur Darstellung bringen.
Im abschließenden fünften Kapitel finden sich eine systematisierende Zusammenfassung der zentralen Deutungen und der für Dissertationen unvermeidliche Ausblick auf Forschungsdesiderate.
Fazit
Die Dissertation von Nils Förster antwortet offenkundig auf den internen Bedarf einer Forschungsgruppe, ihr am Lehrstuhl konzeptionell entwickeltes Programm einer beziehungstheoretisch intervenierenden Unternehmensberatung auf grundlagentheoretischer Ebene zu fundieren und damit disziplinär in einen kategorialen Begründungszusammenhang legitimierend einzubetten.
Aufgrund ihres sekundären Charakters wird die Untersuchung daher nur von einem Personenkreis mit Gewinn rezipiert werden, der bereits mit dem Spannungsverhältnis zwischen einer kundenorientierten Beratungsakquise und der wissenschaftlichen Konventionalität seiner grundlagentheoretischen Begründung vertraut ist. Wer also primär Interesse an dem überaus inspirierenden Beratungskonzept „Musterbrecher“ hat, sollte sich zunächst an die populären Bestseller von Hans A. Wüthrich u.a. halten und könnte erst einmal auf den hier vorgelegten, leider jedoch wenig leserfreundlich verfassten Begründungsrahmen verzichten. Erst in Kenntnis des Kontextes und seines praktischen Hintergrunds wird die theoretische Relevanz der Untersuchung in ihrer besonderen Pointe einschätzbar. Eine derartige Hintergrundskenntnis konnte offensichtlich im Rahmen einer Doktorarbeit bei den Gutachtern vorausgesetzt werden, wurde jedoch für die externe Publikation nicht in einer orientierenden Einführung nachgetragen.
Der wissenschaftliche Ertrag lässt sich daher nicht unmittelbar aus der unscheinbar und pedantisch daherkommenden Arbeit einschätzen, sondern erst dann, wenn man sie hinreichend zu kontextualisieren vermag. Dann allerdings wird ersichtlich, dass der überraschte Leser mit einem geradezu faszinierenden historischen Dokument für eine manifeste Identitätskrise innerhalb der betriebs- und personalwirtschaftlichen Spielart der Wirtschaftswissenschaften konfrontiert wird. Nils Försters Studie lässt sich nämlich auf einer performativen Ebene als ein materialreicher und systematisch angelegter Frontalangriff lesen, der sich gegen den paradigmatischen Kern des bisherigen betriebswirtschaftlichen Denkstils richtet und damit eben gegen das, was Max Horkheimer in seiner Kritik der frühen Moderne „instrumentelle Vernunft“ genannt hatte. Die in Försters Arbeit zunächst wenig spektakulär erscheinende „epistemische Widerständigkeit“ in Form von „Musterbrechen“ signalisiert einen, in seinen disziplinären Konsequenzen noch nicht vollständig erkannten, Übergang in eine postindustrielle Epoche. Unter dem Erkenntnisinteresse einer „historischen Epistemologie“ erhält die Arbeit daher in ihrer provokanten Abwendung vom Denkstil einer nun wohl vergangenen Zeit fraglos einen faszinierenden Reiz für den kundigen Leser.
Rezension von
Prof. em. Dr. Ortfried Schäffter
Humboldt-Universität zu Berlin
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