Rahel Schomaker (Hrsg.): Migration und Integration als [...] Ordnungsprobleme
Rezensiert von Dr. Andreas Siegert, 05.02.2013
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Rahel Schomaker (Hrsg.): Migration und Integration als wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnungsprobleme.
Lucius & Lucius
(Stuttgart) 2012.
258 Seiten.
ISBN 978-3-8282-0562-8.
D: 38,00 EUR,
A: 39,10 EUR.
Reihe: Schriften zu Ordnungsfragen der Wirtschaft - Band 95.
Thema
Menschen wandern, seit sie die Erde bevölkern. Gleichwohl sind ihre Wanderungsmotive unterschiedlich. Sowohl die Wanderung, als auch die Integration von Migranten in die Aufnahmegesellschaft können bislang nicht umfassend und kohärent theoretisch erklärt werden. Als faktisches Einwanderungsland hat sich Deutschland den mit Migration und Integration verbundenen Fragen zu stellen, wie z.B.:
- Wie kann eine erfolgreiche Integration gefördert und gefordert werden?
- Welche Hürden stehen gesellschaftlicher Teilhabe und dem Bildungserfolg von Einwanderern entgegen?
- Wie werden qualifizierte Arbeitskräfte angeworben?
- Wie werden gesellschaftliche Normen und Werte der Aufnahmegesellschaft vermittelt?
- Oder was und wie kann unsere Gesellschaft von Einwanderern lernen?
Diese Fragen berühren unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen, werden nun schon seit Jahren öffentlich diskutiert und sind weiterhin aktuell. Schließlich ist eine in sich stimmige und den Bedürfnissen einer Wissensgesellschaft angemessene Einwanderungspolitik Deutschlands auch heute noch nicht erkennbar (vgl. Beitrag von Peters/ Weigert: 203). Anspruch des Buches ist es, sich den Themen Migration und Integration interdisziplinär zu nähern (Vorwort, S. VI).
Entstehungshintergrund
Entstanden sind die elf Beiträge des Buches aus dem 44. Forschungsseminar in Radein im Februar 2011.
Herausgeberteam, Autorinnen und Autoren
Wenngleich die Autoren unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen abdecken, vermittelt die lose Aneinanderreihung der Beiträge nicht den Eindruck einer abgestimmten interdisziplinären Annäherung an die Themen Migration und Integration. Zu lose ist der gesetzte Rahmen, zu willkürlich erscheint die Themenwahl und auch inhaltliche Bezüge zwischen den Beiträgen werden weder im Vorwort, noch in den Beiträgen selbst hergestellt.
Aufbau
Gegliedert ist die Publikation in die Teile
- „Migration und Migrationspolitik“,
- „Integration und Integrationspolitik“ sowie
- „Schlüsselfelder der Migrations- und Integrationspolitik“.
Der erste Teil widmet sich den Themen (Überschriften der Artikel werden verkürzt wiedergegeben) „historische Perspektive europäischer Wanderungsbewegungen“ (Peter Hertner, Prof. Dr., Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg), „Wanderungsdynamik, Integrationsmuster und politische Implikationen“ (Barbara Dietz, Dr., Osteuropa-Institut Regensburg), „Theorien der ökonomischen Migrationsforschung“ (Dietrich von Delhaes-Günther, Prof. Dr., Handelshochschule Leipzig), „Folgen von Migration auf Herkunfts- und Zielländer“ (Nils Otter, FH-Prof. Dr., Fachhochschule Kärnten) und der „medialen Wahrnehmung und Darstellung von Migration“ (Dirk Wentzel, Prof. Dr., Hochschule Pforzheim).
Entsprechend der Gliederung behandelt der zweite Teil Integrationsaspekte: „Einflussfaktoren und Mechanismen von Integrationsprozessen“ (Stefan Luft, PD Dr., Universität Bremen), „Migrantenkriminalität“ (Ina Holznagel, Dr., Staatsanwaltschaft Dortmund) und „Moscheen als NIMBY-Güter“ (Justus Haucap, Prof. Dr./ Ulrich Heimeshoff, Dr., beide Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf).
Der dritte Teil enthält Beiträge zu „Arbeitsmarkteffekten der Einwanderung“ (Heiko Peters, Dr./ Benjamin Weigert, Dr., beide Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung), der „Schattenwirtschaft in OECD-Ländern“ (Friedrich Schneider, Prof. Dr., Johannes-Kepler-Universität Linz/ Lars Feld, Prof. Dr., Universität Freiburg) und der „Integration von Zuwanderern in das deutsche Bildungswesen“ (Stefan Luft).
Ausgewählte Inhalte
Exemplarisch wird je Kapitel ein Beitrag vorgestellt.
Delhaes-Guenther („Theoriebildung in der ökonomischen Migrationsforschung“): Nicht deutlich wird, warum und nach welchen Kriterien die erläuterten Theorien ausgewählt wurden und welcher Erkenntnisgewinn sich aus der Behandlung von zum Teil überholten Migrationstheorien der letzten 130 Jahre ergibt. Die ökonomische Betrachtung des Themas jedenfalls ist auf Arbeitsmärkte verengt und lässt eigene Reflexionen vermissen. Die Gelegenheit, den Widerspruch der Wirtschaftswissenschaften aufzugreifen, dass nämlich einerseits Migration unter dem Aspekt der (ökonomischen) Attraktivität von Arbeitsmärkten betrachtet wird, bei dem freier Handel allen Beteiligten Vorteile bringt, während andererseits auf die Vorzüge von Instrumenten verwiesen wird, die z.B. die Zuwanderung „geringqualifizierter Arbeitskräfte“ steuern sollen, greift der Artikel nicht auf. Das ist umso bedauerlicher, weil Beiträge von Co-Autoren Gelegenheit geboten hätten, auf sozio-kulturelle Einflüsse von Markthandeln einzugehen oder die in den Wirtschaftswissenschaften oft unterstellte Rationalität von Marktteilnehmern in Frage zu stellen, sowie sich daraus ergebende Konsequenzen für Theorie und Praxis abzuleiten.
Haucap/Heimeshoff („Sind Moscheen in Deutschland NIMBY-Güter?“): Der Beitrag liefert ein anschauliches Beispiel dafür, dass Menschen nicht nur – und vielleicht nicht einmal dominierend – ökonomisch motiviert handeln. Denn das Ausleben eigener Identität und Religiosität wird von Ortsansässigen und Migranten gleichermaßen als wichtig erachtet. Interessant wäre im Übrigen zu erfahren, ob sich die gesellschaftliche Akzeptanz von NIMBY-Gütern mit räumlicher Entfernung zu Moscheen verändert. Das Thema zeigt auch, dass politischer Handlungsbedarf besteht, um eine differenzierte und angemessene „Willkommenskultur“ in Deutschland zu etablieren. So wurde z.B. für den Bau von Kindergärten (die teilweise ebenfalls als NIMBY-Güter betrachtet wurden!) eine entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen. Das Beispiel illustriert, wie wichtig die Formulierung und Durchsetzung einer kohärenten Einwanderungspolitik und der Verzicht auf politische Stammtischparolen (z.B. „Kinder statt Inder“) ist, um den Anforderungen einer international ausgerichteten Wissensgesellschaft in Deutschland gerecht zu werden. Insofern ist das Beispiel auch Beleg für Sinn, Richtung und Notwendigkeit staatlicher Markteingriffe (vgl. auch Zimmermann, Barrett 2011).
Luft („die Integration von Zuwanderern in das deutsche Bildungswesen - Probleme, Ursachen, Perspektiven“): Die Einleitung des Beitrags lässt befürchten, dass überwiegend Zuwanderern die Verantwortung für ihr schlechtes Abschneiden im deutschen Bildungssystem zugewiesen wird (S. 238: „…Bildungssozialisation im Herkunftsland, Bildungsferne, Spracharmut, mangelhafte Deutschkenntnisse der Eltern und fehlende Einbindung in soziale Netzwerke. Andere pädagogische Vorstellungen … kommen hinzu.“). Diese Befürchtung bestätigt sich nicht. Vielmehr werden, abgeleitet von umfassenden Informationen und nachvollziehbaren Argumenten, unter „Perspektiven“ (S. 250 ff.) die Verantwortung politischen Handelns und die gesellschaftliche Konsequenz des Nicht-Handelns aufgezeigt.
Wie wichtig es ist, politische Angebote zu unterbreiten unterstreicht die Studie von Shamir (2012), die empirische Befunde dafür liefert, dass undifferenzierte Integrationsangebote ihr Ziel mit großer Wahrscheinlichkeit verfehlen. Ihre Vergleichsstudie belegt, dass das Rechtsempfinden jüdischer Emigranten stark von der Interaktion mit und ihrer Einbindung in die Aufnahmegesellschaft geprägt wird und sich darüber Vertrauen entwickelt oder leidet. Bildungsinstitutionen in Deutschland sind – nach Abschaffung der Wehrpflicht – eine der wenigen verbliebenen Angebote, kulturelle Normen und Werte der deutschen Gesellschaft über soziale Schranken hinweg zu erleben und zu erlernen. Das Fazit des Autors: „Insgesamt müssen sich die gut ausgestatteten Bürger stärker als bisher an einem innerstädtischen Lastenausgleich … beteiligen… [Denn die] Hauptlast der Integration kann sinnvoller Weise nicht auf Dauer weitgehend den sozial schwächsten Angehörigen dieser Gesellschaft überlassen bleiben, die weder die Möglichkeit zur Abwanderung haben, noch die Fähigkeit, wirkungsvoll Widerspruch anzumelden“. Thema und Schlussfolgerung des Artikels machen deutlich, dass es sich zweifellos um ein „Schlüsselfeld der Migrations- und Integrationspolitik“ handelt.
Diskussion
Um dem erklärten Ziel des Buches, einer interdisziplinären Bearbeitung der Themen Migration und Integration, näher zu kommen, wäre eine über die Darstellung gängiger – und von den Autoren (z.B. von Delhaes-Günther) als unzulänglich bezeichneter – Migrationstheorien hinausgehende Analyse wünschenswert. Der Beitrag von Wentzel zur medialen Darstellung von Migration wiederum ist sehr interessant, arbeitet allerdings den Zusammenhang zu Ordnungsfragen der Wirtschaft nicht erkennbar heraus. Andererseits lässt die Mitwirkung zahlreicher Volkswirte erwarten, dass ökonomische Folgen staatlicher Eingriffe oder Untätigkeit auf Arbeitsmärkten (wie z.B. über die Anerkennung oder Nicht-Anerkennung von Qualifikationen und Kompetenzen oder die Einwanderungskontrollen insbesondere in Industriestaaten; vgl. Chang 2010), die Entwicklung und Pflege einer Willkommenskultur (vgl. Ostrom 1999, North 1999: 39) oder unzureichende Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Migranten (vgl. Sievers et al. 2010) behandelt würden. Mit Recht weist Luft (124) darauf hin, dass „Medien und Politik die publikumswirksame Skandalisierung“ von Migrations- und Integrationsfragen beförderten. Folglich entsteht, wie Luft (137) ausführt, eine Fokussierung „auf die Andersartigkeit und die Herkunftsidentitäten“ und führt zu der oft als fehlend beklagten Willkommenskultur in Deutschland (vgl. hierzu auch den lesenswerten Beitrag von Haucap/ Heimeshoff) – und Wettbewerbsnachteilen bei der Anwerbung ausländischer Fachkräfte (Peters/ Weigert: 203). Schließlich erhöhen die – nicht abschließend – aufgezählten politischen Defizite Eintrittsbarrieren in den deutschen (Arbeits-)Markt zum Nachteil aller Beteiligten (Siegert 2011).
Fazit
Die Themen Migration und Integration aus der Perspektive unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zu betrachten, ist ein sinnvoller und begrüßenswerter Ansatz. Leider erreicht die vorliegende Publikation dieses Ziel nicht. Unabhängig von den genannten Aspekten ist festzuhalten, dass einige Beiträge interessante Aspekte in die Diskussion einbringen und lesenswert sind. Umso bedauerlicher ist, dass die Einzelbeiträge nicht besser aufeinander abgestimmt wurden und eine (interdisziplinäre) Weiterentwicklung z.B. im Rahmen eines gemeinsamen Fazits oder die Anregung weiterführender Forschungen nicht verfolgt wurde. Nicht erkennbar wird jedenfalls, nach welchen Kriterien die „Schlüsselfelder“ von Migration und Integration festgelegt wurden. Denn allein die von den Autoren in die Diskussion eingebrachten Themen hätten im Übrigen auch eine andere inhaltliche Festlegung des Kapitels III („Schlüsselfelder der Migrations- und Integrationspolitik“) zugelassen.
Literatur
- Chang, Ha-Joon (2010): 23 Lügen, die sie uns über den Kapitalismus erzählen, München
- North, Douglas Cecil (1992): Institutionen, institutioneller Wandel und Wirtschaftsleistung. Tübingen
- Ostrom, Elinor (1999): Die Verfassung der Almende. Bd. 104. Tübingen
- Siegert, Andreas (2011): On socialization, patriotism and trust: the migration of homeward-bound Russian academics. Nationalities Papers, Vol. 39, No. 6, Nov. 2011, S. 977-995
- Sievers, Isabell/ Griese, Hartmut/ Schulte, Rainer (2010): Bildungserfolgreiche Transmigranten. Eine Studie über deutsch-türkische Migrationsbiographien. Frankfurt am Main
Rezension von
Dr. Andreas Siegert
Fachhochschule für Ökonomie und Management (Studienort Berlin)
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