Robert Castel: Die Krise der Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 31.10.2012
Robert Castel: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburger Edition (Hamburg) 2011. 383 Seiten. ISBN 978-3-86854-228-8. 32,00 EUR.
Thema
Dass die Gesellschaftsdiagnosen der zeitgenössischen Philosophie bei einigen Denkern manchmal skurrile Züge aufweisen, kann erheiternd sein, aber auch bedrückend. Denn oftmals verlieren ihre „Diagnosen“ jeden aufklärerischen Sinngehalt. „Kein Mensch nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit mehr ernst, wir alle wissen um deren Korruptheit, und dennoch praktizieren wir sie, das heißt, wir demonstrieren unseren Glauben an sie, weil wir annehmen, dass sie auch wirken, wenn man nicht an sie glaubt. Deshalb ist Berlusconi unser großer Kung Fu Panda“ (Slavoj Zizek, 2012: Das ‚unendliche Urteil‘ der Demokratie, in: Agamben u. A., 2012: Demokratie? Frankfurt, S.123.) dichtet zum Beispiel Slavoj Zizek in einem aktuellen Text. Diesem anekdotischen und um sich greifenden „Slavoj Zizekismus“ – wie man diese Haltung bezeichnen könnte – geht jede „verstehende und erklärende“ Funktion abhanden; übrig bleibt oft nur ein klügelndes Geraune und ein unklares Verhältnis zur Gewalt!
Umso erfreulicher, wenn in dieser neuen Unübersichtlichkeit eine Publikation wie die vorliegende Aufsatzsammlung "Die Krise der Arbeit – neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums" des französischen Soziologen Castel veröffentlich wird, die bereits 2009 unter dem Originaltitel "La montée des incertitudes" (im Deutschen etwa als „Die Zunahme der Unsicherheit" zu übersetzen) in Paris beim Verlag Seuil erschien.
Aufbau
In drei thematischen Schwerpunkten behandelt Castel die "große Transformation" unserer Gesellschaft:
- er konzentriert sich auf die Veränderung der Arbeit durch die Deregulierung der Arbeitsverhältnisse,
- den aktuellen Umbau der Sozialsysteme und
- das Phänomen der "Entkopplung" – bei uns eher unter den Stichwort der Exklusion bekannt.
Und als Abschluss – oder vielleicht eher als Vorausschau – diskutiert er in die "Genealogie des hypermodernen Individuums" die neuen Anforderungen eben dieser "großen Transformation" an das Individuum und seine Möglichkeiten bzw. Unmöglichkeiten.
Erfreulich an diesen – für die Publikation zum großen Teil überarbeiteten Aufsätzen – sind die Aktualität, die Präzision der analytischen Instrumente, die empirische Fundierung der beschriebenen Phänomene, die begründete und immer nachvollziehbare Entwicklung der Begriffe - mit einem Wort: gegen eine anekdotische "everything goes" Glasperlenspielerei setzt Castel eine klare und deutliche soziologische Analyse der Arbeit, wie sie im deutschen Sprachraum nur noch selten zu finden ist.
Inhalt
Seit Mitte der 70er Jahre, so Castels Diagnose, wird die fordistische und tayloristische Arbeit sukzessive ersetzt durch eine prekarisierte Arbeit: Unsichere Arbeit, die zu Erwerbsarmut führt und sich abwechselt mit Zeiten der Beschäftigungslosigkeit, ergreift immer größere Teile der abhängig Beschäftigten; Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit sind seit diesem Transformationsbeginn die Regel. "Die Gesellschaft verliert ganz allmählich ihr Morgen" so zitiert er Paul Valery im Bewusstsein, dass Valery mit dieser Diagnose Frankreich am Vorabend von 1789 beschrieb!
Diese säkulare Transformation der fordistischen und postfordistischen Arbeit hin zur prekären Arbeit ordnet er historisch ein, indem er die zentrale Rolle des Arbeitsrechtes in der Entwicklung des rechtlosen Proletariers hin zum politischen Bürger einer Nation fokussiert. Um dann folgerichtig die Untrennbarkeit eines solches Arbeitsrechtes mit dem politischen Bürgerrecht nachzuweisen: Die soziale und politische Würde der Arbeit und des Arbeiters sind gekoppelt an eben diesem Arbeitsrecht als kollektives Schutzrecht. Und die aktuelle Prekarisierung der Arbeit geht rechtshistorisch zurück vor dieses Schutzrecht, zurück zur Fiktion eines Vertrages zwischen Arbeit und Kapital als Vertrag zwischen Gleichen. Dass die Arbeit erst durch eben diese Rechtsetzungen Freiheit erlangen konnte, macht deutlich, wie bedrohlich die zunehmende Entrechtlichung der Arbeit (zurück zum Kontrakt) für die Autonomie aller abhängig Beschäftigten ist.
Die mit diesen Prozessen gekoppelte Individualisierung der Arbeit (verstanden als Steigerung der Autonomie und der Anforderungen!) verschärft den Druck auf all diejenigen, deren Kapitalausstattung (im Bourdieuschen Sinne) aus welchen Gründen auch immer unzureichend ist, sie werden am Rande der Arbeit marginalisiert.
Diese Prekären, so seine Diagnose, werden institutionalisiert durch Beschäftigungsmaßnahmen, Zuschreibungen und Institutionen – die dauerhafte Unsicherheit der Arbeit und der Existenz wird die Regel. Und obwohl massenhaft Arbeitsplätze fehlen, werden die Betroffenen als die Schuldigen ihrer prekären Existenz benannt und mit Repressionen in prekäre oder Scheinarbeitsformen verschoben.
Die Konsequenzen dieser Transformation der Arbeit für die Sozialstaatlichkeit und die Soziale Arbeit liegen im Fokus des zweiten Teils; bezeichnenderweise überschrieben mit "Der Umbau der Sozialsysteme". Auch hier wieder zu Beginn eine historische Einordnung der Genese der französischen Sozialstaatlichkeit, eine Genese in der die Bedeutung eben dieser Institutionen des Sozialstaates für die soziale Sicherheit und die demokratische Verfasstheit deutlich werden. Dem "Arbeitnehmerstatus" - Castels zentraler Begriff um die Kopplungen von sozialen Rechten mit Autonomie und Demokratie zu fassen – und dem Sozialeigentum – hier verstanden als verrechtlichte Ansprüche der Beschäftigten – kommen in diesen Themenkomplex eine zentrale Rolle zu: Nur diese beiden stehen als letzte und entscheidende Sperrriegel der zunehmenden Rekommodifizierung der Arbeit im Wege!
Der "aktive Sozialstaat" – das französische Pendant zur bundesdeutschen Aktivierung des "Fördern und Fordern" - wird von ihm als das analysiert was er ist, eine neue Form staatlicher Gouvernementalität! Natürlich hat Castel auch einen Blick für die Ambivalenzen des Aktivierungsparadigmas, aber er sieht sehr deutlich, worum es hier im Kern geht: In den diversen Kontrakten der Eingliederungen wird eine Pseudoreziprozität (177) hergestellt, in der Menschen Verantwortung für die Probleme der Arbeitsgesellschaft übertragen wird, für die sie weder verantwortlich sind, noch diese Verantwortung objektiv tragen können. "Unter dem Vorwand ihn zu fördern, gelangt man zu seiner Verurteilung, indem man ihn für sein Scheitern verantwortlich macht. Aber wie soll er nicht in der Regel scheitern, wenn er sich selbst überlassen bleibt" (216) so beschreibt Castel diesen Zusammenhang klar und deutlich.
Der dritte Teil "Die Wege der Entkopplung" beginnt mit einem wahren Meisterstück an angewandter Kulturwissenschaft. Hier zeigt uns Castel, dass er bei Bourdieu und Foucault gelernt hat, hier entwickelt er den Begriff der "Entkopplung" – einem zentralen Begriff um Prekarität zu verstehen – an Hand des „Tristan und Isolde“ Mythos. Vergleicht man dieses Meisterstück einer „Kulturwissenschaft“ mit einem aktuellen Niederschlag des angewandten „Slavoj-Zizekismus“ wie „Demokratie?“ (Agamben u. a. 2012: Demokratie?. Frankfurt.), so wird deutlich, wie elegant und präzise Castel dieses heuristische Werkzeug beherrscht. Denn er interpretiert „Tristan und Isolde“ als den „Roman der Entkoppelung“, einen Roman der die fortlaufende soziale Loslösung von den Zwängen einer Epoche als Entkoppelung, als sozialen Tod liest.
Im diesem dritten Teil macht er auch noch in „Die Marginalisierten der Geschichte“ historisch deutlich, dass die aktuell Entkoppelten sich in eine lange Traditionsreihe von Marginalisierten einreihen lassen. Nichts, so sein Votum, ist an den Strategien der Demütigung und Entwürdigung der unterschiedlichen europäischen Aktivierungsstrategien wirklich neu. Denn den „Satanic mills“ und Arbeitshäusern der Frühindustrialisierung und den aktuellen Entkoppelungsstrategien liegt die gleich Logik zu Grunde: „Die Umstrukturierung einer Gesellschaft in Zuge ihrer Modernisierung führt zu einer Marginalisierung bestimmter sozialer Gruppen“ (273)! Und so ist es – historisch gesehen – kein Wunder, dass die jahrhundertealte Diffamierung der Armen als „unwürdig“, in der neuen Gestalt der „Scheinarbeitslosen“ fröhliche – und oft sozialdemokratische – Urstände feiert: „Es gibt kein Recht auf Faulheit“ tönte 2004 Gerhart Schröder in dieses immer gleiche Horn.
Dem „Stellungs- und Funktionsverlust der Arbeiterklasse“ widmet Castel eines seiner letzten Kapitel unter dem herausfordernden Titel: „Warum die Arbeiterklasse den Kampf verloren hat“. Der ökonomische und politische Aufstieg der Arbeiterklasse ist gebrochen, ihr Statusverlust hat sich mit der Veränderung der Arbeitsgesellschaft verschärft und die Arbeiterklasse in Gänze hat sich aufgeteilt in sehr unterschiedliche Gruppen mit unterschiedlichen Lebenslagen und Interessen – so seine Diagnose. Und er beschreibt, und das macht seine Diagnose so beängstigend, eine „Ausbreitung von Arbeitsverhältnissen unterhalb eines garantierten sozialen Grundstatus“ (301)! Neue Ungleichheiten zwischen den diversen Gruppen der ehemals einheitlichen Arbeiterklasse treten auf, die Homogenität der Klasse wird zerstört, Entsolidarisierung und Entkollektivierung sind die Folge. An anderer Stelle sprach er in diesem Zusammenhang von der „Rückkehr der Unsicherheit“. „Sie haben das Gefühl keine Zukunft zu haben“ (308) beschreibt er in einem Postskriptum dieses neue Phänomen. „Dieser Teil der Nation (Die Arbeiterklasse – T.M.) würde sich nicht ungestraft diskreditieren lassen, zumal er zwar verloren hat, aber nicht seine Ehre“ (308) – so sein bitteres Fazit zum Ende.
Als „Schluss“ bietet uns Robert Castel eine – man kann fast sagen – Meditation zur „Herausforderung, ein Individuum zu werden“. Historisch entwickelt er die große Erzählung des modernen europäischen Individuums, koppelt diese an die „Entzauberung der Welt“, an das Privateigentum und macht deutlich, wie stark selbst die Erklärung der Menschenrechte die Mühseligen und Besitzlosen, die Pauper, aus eben diesen Menschenrechten herausnahmen – weil sie besitzlos waren!
Mit der Koppelung der Arbeit mit neuen Sicherungsformen – Bourdieu hat an anderer Stelle daran erinnert, das die Einführung der Sozialversicherung mit der Erklärung der Menschenrechte gleichzusetzen ist – entsteht eine neue Form von Eigentum, die Castel das „Sozialeigentum“ nennt: „Als Nichteigentümer von Gütern wird der Arbeitnehmer zum Eigentümer von Rechten“ (339); ein Eigentum welches vom Kollektiv geschützt wird!
Das „Hypermoderne Individuum“ entwickelt er auf diesem Hintergrund als zeitgenössische Diagnose: Sie sind narzisstische Individuen im Überfluss, die sich selbst als Ziel und Endzweck begreifen; „in die Einsamkeit seines eigenen Herzens eingesperrten Individuums“!
Diesem „Individuum im Übermaß“ stellt er das „bloße Individuum“ (par défaut) gegenüber: es sind jene, denen „die nötigen Mittel fehlen, um ihre individuelle Freiheit tatsächlich zu übernehmen“ (356). Ihr Alltag ist desorganisiert, sie verlieren an Lebenssinn - sie sind Individuen, die im Mangel leben. Sie leben in den Grauzonen unserer Gesellschaft, in dauerhafter Unsicherheit, in dauerhafter Unregelmäßigkeit, in einer „Kultur der Zufälligkeit“. Dieses Prekariat, so seine Diagnose, ist „heute ein ganzer Subkontinent, der sein Einzugsgebiet ausdehnt und gleichzeitig zerstückelt bleibt“ (359) und es ist für ihn völlig offen, ob diese „bloßen Individuen“ unter den Bedingungen der Unsicherheit und des Verlustes überhaupt ihren Status als Individuum aufrecht erhalten können.
Dass gerade für diese Exkludierten die Sozialstaatlichkeit mit ihren Institutionen unabdingbar ist und dass der Abbau des sozialstaatlichen Sozialeigentums eben diese Exklusion noch verstärkt – daran gibt es für ihn keinen Zweifel. „Die Überwindung dieses Desasters hängt davon ab, ob man gewillt ist, dieser Hybris des Kapitals Grenzen zu setzen, indem man sie durch Gesetze domestiziert“ (368) – so skizziert er eine mögliche Perspektive für eine demokratische und soziale Politik. Damit die Gesellschaft ein Morgen hat!
Fazit
Robert Castels Diagnosen der zeitgenössischen Arbeit, ihrer Transformationen und der damit verkoppelten Unsicherheiten sind keine angenehme Lektüre. Sie liefern keine wohlfeilen Affirmationen des Status quo, aber sie sind auch keine verklügelten „große Erzählungen“ , die sich aufklärerisch geben.
Sie werfen vielmehr Licht auf die Schattenseiten der Arbeitsgesellschaft, erklären ihre Mechanismen der Macht, die zu Prekarität und Elend führen, und skizzieren im besten Falle mögliche Wege hin zu einer solidarischen Gesellschaft.
So ist auch „Die Krise der Arbeit“ Sozialwissenschaft im eigentlichen Sinne, sie ist kritisch.
Denn ist Sozialwissenschaft nicht kritisch, so ist sie nicht!
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation
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Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 31.10.2012 zu:
Robert Castel: Die Krise der Arbeit. Neue Unsicherheiten und die Zukunft des Individuums. Hamburger Edition
(Hamburg) 2011.
ISBN 978-3-86854-228-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14096.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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