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Reinhard Sieder, Andrea Smioski: Der Kindheit beraubt

Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann, 15.05.2013

Cover Reinhard Sieder, Andrea Smioski: Der Kindheit beraubt ISBN 978-3-7065-5232-5

Reinhard Sieder, Andrea Smioski: Der Kindheit beraubt. Gewalt in den Erziehungsheimen der Stadt Wien. Studienverlag (Innsbruck, Wien, München, Bozen) 2012. 568 Seiten. ISBN 978-3-7065-5232-5. 19,90 EUR.

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Thema

Die Gewalt in und durch Erziehungseinrichtungen der öffentlichen und freien bzw. privaten Trägerschaften ist in den vergangen Jahren im bundesdeutschen Diskurs maßgeblich durch Veröffentlichungen wie die von Peter Wensierski (2006): Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik (www.socialnet.de/rezensionen/3783.php), Manfred Kappeler (2011): Anvertraut und ausgeliefert. Sexuelle Gewalt in pädagogischen Einrichtungen (www.socialnet.de/rezensionen/10661.php) sowie die Arbeit des Runden Tisches Heimerziehung (http://www.rundertisch-heimerziehung.de/) in den öffentlichen sowie fachöffentlichen Diskurs getreten. Zugleich war diese Thematik bereits in den 1960 und 70er Jahren im Fachdiskurs wahrnehmbar und bekannt (vgl. Autorenkollektiv: Ahlheim, R./ Hülsemann, W./ Kapczynski, H./ Kappeler, M./ Liebel,M./ Marzahn, C./ Werkentin, F. (²1974): Gefesselte Jugend – Fürsorgeerziehung im Kapitalismus. Frankfurt a.M. oder auch Meinhof, U.M. (1972): Bambule: Fürsorge – Sorge für wen? Berlin). Durch das vorliegende sehr umfassende Werk haben die Autor_innen erstmals im Auftrag der Stadt Wien erforscht, „wie Menschen, die wesentliche Teile ihrer Kindheit und Jugend in städtischen Heimen verbracht haben, verschiedene Formen der Gewalt in Heimen erfahren und sie seither verarbeitet haben.[…] Die betroffenen ehemaligen Heimkinder seien auf diesem Weg als Opfer illegitimer Gewalt öffentlich anzuerkennen“ (S.9). Dem Buch gilt, so viel sei bereits vorweg angemerkt eine doppelte Anerkennung: einerseits wird so erstmals durch wissenschaftliche Expertise die bisher öffentlich verschwiegene Gewalt in und durch sogenannt pädagogische Erziehungseinrichtungen in der Stadt Wien sichtbar gemacht und dem menschenrechtsverletzenden Leid dieser Menschen eine öffentliche Auseinandersetzung ermöglicht. Andererseits gelingt es den Autor_innen durch ihr Forschungsdesign, dass die befragten ehemaligen Heimkinder sehr ausführlich im Original zu Worte kommen und so eine direkte Konfrontation unmittelbar und sehr tiefgehend ermöglicht wird

Autor_innen

Die Autorin Andrea Smioski ist studierte Soziologin sowie Kultur- und Sozialanthropologin und lehrt an der Universität Wien in sozialwissenschaftlichen Forschungsmethoden.

Reinhard Sieder, Universitätsprofessor an der Universität Wien, studierter Sozialhistoriker, Kulturwissenschaftler und Familiensoziologe sowie ausgebildeter Paar- und Familientherapeut, leitete in der Stadt Wien die sogenannte ‚Historikerkommission‘ zur Aufarbeitung der Gewalt in den Wiener Erziehungsheimen. Er ist Autor zahlreicher, sehr lesenswerter sozialgeschichtlicher sowie familiensoziologischer Forschungsveröffentlichungen.

Aufbau und Inhalt

Das dem Gegenstand angemessen sehr umfangreiche Buch ist neben einer Vorbemerkung und einem Anhang mit Anmerkungen in fünf zentrale Kapitel strukturiert.

In der Vorbemerkung wird der Auftragskontext und die Zielsetzungen geklärt. Es handelt sich bei der vorliegenden Untersuchung um eine im Herbst 2010 von der Stadt Wien beauftragte Studie, um zum einen „durch die Dokumentation und Veröffentlichung von Erzählungen ehemaliger Heimkinder deren Leid und das an ihnen geschehene Unrecht anzuerkennen“ (S.12) zu ermöglichen. Zum anderen verfolgt die Untersuchung die Zielstellung einer „historisch-sozialwissenschaftlichen Analyse der exzessiven Gewalt in Kinderheimen“ (S.13), umso die individuelle Einbettung in den Kontext „Fürsorgesystem“ (S.13) einzubetten. Der Untersuchungszeitraum, mit dem sich die Studie befasst, liegt auftragsbedingt in der Nachkriegszeit der 1950er Jahre bis in die 1980er Jahre. Umgesetzt wird die Untersuchung maßgeblich durch narrativ angesetzte autobiografische Erzählräume. Zudem werden die administrativen Vorgänge der dazu gehörenden ‚Fallakten‘ in Form von Berichten und Gutachten detailliert rekonstruiert und in den Bezug der biografischen Erzählungen gesetzt. Zudem werden exemplarisch drei Expert_inneninterviews geführt mit einer ehemaligen Fürsorgerin, einer Psychologin des Jugendamtes sowie einem ehemaligen Heimleiter, um Einsichten in die professionsbezogenen Perspektiven zu ermöglichen.

Im 1. Kapitel wird eine Nachzeichnung der Geschichte der Fürsorge-Erziehung gegeben, um so die konkreten Handlungsvollzüge in den gesellschaftspolitischen, verwaltungsbezogenen sowie fachwissenschaftlich und theoretischen Diskursbezug zu setzen und die sich konkretisierende Praxislogik nachvollziehbar zu machen. Ausgesprochen detailreich und fundiert entsteht so eine historisch-chronologische Kontextualisierung, die einerseits deutlich macht, dass es sich bei den Gewalthandlungen der Erwachsenen in den Fürsorgeinstitutionen nicht allein um subjektives Fehlverhalten handelt sondern zugleich Organisationslogiken dies nicht nur ermöglich(t)en sowie erforderten. Andererseits wird ersichtlich, dass es sich bei der Pathologisierung und Kriminalisierung von Verhaltensweisen Heranwachsender um einen fachwissenschaftlichen Diskursstrang in einem je zeithistorischen und gesellschaftspolitischen Kontext handelt und somit zugleich das Professionsverständnis nicht nur auf der Mikroebene der direkten Interaktion sondern zugleich auf der Mesoebene der Organisationsdiskurse sowie der fachwissenschaftlichen Positionierungen eine wesentliche Rolle spielt.

Im 2. Kapitel werden nunmehr sechs Biographieverläufe von jeweils drei damaligen Mädchen und Jungen in den Wiener Heimen sehr detailreich nachgezeichnet. In jedem dieser Lebensverläufe einer ‚beraubten Kindheit und Jugend‘ wird der sehr achtsame und ausgesprochen aufwändige Rekonstruktionsprozess spürbar. Nach einer grundsätzlichen Einbettung in die Ausgangslage wird jeweils der biografische Verlauf nachgezeichnet. Wie eingangs erwähnt, finden sich hierbei ausgesprochen eindrückliche Schilderungen im O-Ton der Interviewtranskripte, wobei diese teilweise über mehrere Seiten unkommentiert dargelegt sind und so Einblicke in die Erlebenswelten der ehemaligen Heimkinder ermöglichen. Teilweise, die sei hier durchaus erwähnt, sind diese Öffnungen so erschütternd, dass dem Rezensenten ein Weiterlesen kaum möglich war. Dies zeigt zugleich die Traumatisierung und massive menschenrechtsverletzende Gewalt, die die Biografien dieser Kinder nachhaltig benachteiligend beeinflusst hat, so dass die Gewalt in der Regel bis heute nachwirkt (was aus meiner Sicht eine unabdingbare Verpflichtung für angemessene Entschädigungen notwendig macht). Zugleich werden die teilweise unglaublichen Ausgangslagen ersichtlich, die zu einer Heimunterbringung geführt haben und aus denen nachvollziehbar wird, dass eben nicht die Kinder selbst, wenn gleich zumindest teilweise gutachterlich so beschrieben, anlassgebend sind sondern ihre Lebensumstände, für die jedoch sie massiv bestraft werden.

In Kapitel 3 werden 13 weitere Fallrekonstruktionen ausgeführt, die in ebenso erschütternder Weise, jedoch nicht in der Tiefe und Ausführlichkeit wie zuvor, erschütternde Einblicke in das subjektive Erleben der Gewaltexzesse sowie Erkenntnisse zur systematischen Struktur und Anlage der Ermöglichung von Gewalt auf den unterschiedlichsten Ebenen von Praxis bis Wissenschaft in zumeist staatlichen Einrichtungen der Fürsorge ermöglichen. Daneben wird ein differenzierter Blick möglich in die je nach persönlicher Ausgangslage variierenden Bewältigungsstrategien der Kinder und Jugendlichen in diesen endlos gewalttätigen Zwangskontexten.

Das 4. Kapitel zeichnet auf knapp 80 Seiten an drei exemplarischen Profiperspektiven die Erklärbarmachung der Gewaltvorgänge in einem professionell und institutionell geprägten Rahmen. In diesem Kapitel finden sich diverse Hinweise und Anknüpfungspunkte, die zu einer dringend notwendigen Demokratisierung der stationären Institutionen zumindest der Kinder- und Jugendhilfe sowie der Psychiatrie als wertvoll erscheinen.

Das mit „Synthesen“ (S.495) überschriebene 5. Kapitel fokussiert die Erkenntnisse der Untersuchung zunächst in der Typologisierung verschiedener Formen und Dimensionen der Gewalt in den Einrichtungen der Fürsorge der Stadt Wien. Daran schließen sich 20 Thesen, die eine Erklärung „exzessiver Gewalt“ (S.522) in Einrichtungen der Wiener Kinder- Und Jugendwohlfahrt ermöglicht haben. In sehr dichter Beschreibung werden so Systematisierungen erkennbar, die durchaus für aktuelle Handlungsvollzüge eine analytische Folie anbieten.

Diskussion

Dieses sehr umfangreiche und durchweg lesenswerte Buch verdient höchste Aufmerksamkeit. Eine Profession, die sich nunmehr im normativen Diskurs einer Menschrechtsprofession (Staub-Bernasconi) bzw. Gerechtigkeitsprofession (Schrödter) bewegt muss sich ihrer historischen Bezüge unabdingbar bewusst sein. Es wäre fatal, dies allein individualisierend einzelnen Tätern zuzuschreiben. Aus der vorliegenden Untersuchung wird deutlich, dass die Gewalt in den Einrichtungen durchaus mehrdimensional bedingt ist. Neben den einzelnen gewalttätig handelnden Akteuren zeigt sich zugleich ein System aus gesellschaftspolitischen, fachwissenschaftlichen sowie organisationslogischen Begründungen zur Argumentation der Ermöglichung solcher Menschenrechtsverletzungen an Heranwachsenden. Wie bereits benannt gebührt dieser Studie große Aufmerksamkeit, da die ehemaligen Heimkinder mit ihrer Rekonstruktionsperspektive sehr offen und platzgebend im Original zu Worte kommen. In diesem Sinne zeigt der Rezensent zugleich einen hohen Respekt vor eben diesen Menschen, die uns durch diese Öffnung ihrer nochmaligen und sehr tiefen Auseinandersetzung wertvolle Einblicke geben in die Systematik dieser Organisationslogiken geben. Somit zeigt dieses Buch nicht allein historisch ausgesprochen wertvolle Bezüge. Die Demokratisierung maßgeblich stationärer Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe, der Psychiatrie sowie vieler anderer Handlungsfelder bleibt ein hoch aktuelles und relevantes Thema, gerade auch in Zeiten einer immer stärker deregulierten, zumeist privatwirtschaftlich ausgerichteten Ökonomisierung Sozialer Arbeit. Für diesen notwendig zu führenden Prozess der Transparenz, der Partizipation und auch strukturellen (nicht allein methodischen) Demokratisierung bietet dieses Buch wertvolle Erkenntnisse.

Fazit

Wenngleich sich dieses umfangreiche Buch nicht unbedingt in einem kurzen Zeitrahmen lesen lässt aufgrund der durchweg sehr bewegenden Erzählungen, empfiehlt sich diese Lektüre für alle in der Sozialen Arbeit Tätigen, ggf. als selbstkritische Folie für eigene Praxisvollzüge.

Zudem kann die Untersuchung als sprachlich sehr gut verständliches Lehrbuch eingesetzt werden, da aufgrund des hervorragenden Studiendesigns sehr authentisch professionshistorische Bezüge nahegebracht werden, um in der Entwicklung eines professionsethischen Habitus der Studierenden zur kritischen Reflexion Sozialer Arbeit anzuregen und die von Kuhlmann höchst relevante Frage zu diskutieren: „Eine wichtige Frage bleibt: Was hätte damals und was könnte heute sozial arbeitende Menschen davor bewahren, entlang dem „Zeitgeist“ oder der „Konjunktur“ die Prämissen für ihre Arbeit zu entwickeln?“ (Kuhlmann 2002: 104)

Literatur

  • Kuhlmann, Carola (42012): Soziale Arbeit im nationalsozialistischen Herrschaftssystem. In: Thole, Werner (Hg): Grundriss Soziale Arbeit – ein einführendes Handbuch. Wiesbaden: VS Verlag. S.87-107

Rezension von
Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann
Professor für Soziale Arbeit im Fernstudium an der IU Internationale Hochschule und Studiengangleiter sowie seit 2000 in freier Praxis als Sozialarbeitsforscher, Praxisberater und Trainer tätig. Schwerpunkte: Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Inklusion, Partizipation, Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, Lösungsfokussierter Beratungsansatz, Inklusion, Partizipation, Organisationsentwicklung, Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen Sozialer Arbeit, Gestaltung von Qualitätsmanagementprozessen, partizipative Praxisforschungen und Evaluationen.
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Es gibt 34 Rezensionen von Stefan Godehardt-Bestmann.

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ISSN 2190-9245