Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Münch, 29.10.2012
Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht.
Verlag C.H. Beck
(München) 2011.
3. Auflage.
8 Seiten.
ISBN 978-3-406-60689-2.
22,95 EUR.
Mit begründeten Verweisen auf: Wolf Haas. 2012: Verteidigung der Missionarsstellung. Roman. Hoffmann und campe Hamburg. 238 Seiten. ISBN 978-3-455-40418-0. 19,90 Euro.
Weshalb bei dieser Rezension auch das neue Buch von Wolf Haas eine Rolle spielt
Natürlich können Sie das neue Buch von Wolf Haas lesen, ohne vorher Guy Deutscher auch nur zu im Entfernesten zur Kenntnis zu nehmen; es gibt schließlich auch Menschen, die Austern ohne Muscadet goutieren oder Grünkohl ohne Mettwurst. Aber das Vergnügen ist dann doch sehr geschmälert.
So wird es Ihnen auch gehen, wenn Sie „Die Verteidigung der Missionarsstellung“ lesen, ohne vorher bei Guy Deutscher linguistischer Tiefenforschung „Im Spiegel der Sprache“ solch illustre Figuren der Sprachforschung wie Benjamin Lee Whorf kennen zu lernen. Der Genuss der Lektüren ist einfach geschmälert!
Thema
Doch der Reihe nach: 2010 legte der Linguist Guy Deutscher die Originalausgabe dieses Buches vor und der Originaltitel „Through the Language Glass – How Words Color Your World“ beschreibt präzise den Fokus dieser Studie: Ob Sprache unsere Denkprozesse und unsere Wahrnehmung der Welt beeinflusst?
In diese linguistische Grundsatzdebatte, ihre Verzweigungen und Abzweigungen, ihre historischen Erscheinungsformen und Spitzfindigkeiten nimmt er uns in seinen 320 Seiten mit und ich muss Ihnen gestehen; auf keiner Seite wurde es mir langweilig! Bleibt, so stellt er sich selbst auf den ersten Seiten die Frage, „noch etwas Vernünftiges übrig, das sich über die Beziehung zwischen Sprache, Kultur und Denken sagen lässt?“ (14) und diese Frage beantwortet er mit Leidenschaft und Sachkenntnis; es lässt sich viel Vernünftiges über das Verhältnis von Sprache und Denken sagen!
Aufbau und Inhalt
Deutscher nimmt uns mit auf eine humorvolle und faktengesättigte Reise zu Homer, seinem „weindunklen Meer“ und was der englische Premierminister und Linguist Gladstone aus dieser eigenwilligen Farbgebung ableitete – eine falsche Antwort und richtige Fragen: Wie sehen wir Farben und kann sich diese Sehen in der Entwicklung des Menschen verändert haben? Und kann es sein, dass in unterschiedlichen Kulturen Farben unterschiedlich gesehen werden?
Wie sich die Linguistik mit diesen Fragestellungen die nächsten Jahrzehnte beschäftigte – und auch nicht beschäftigte – als Nichtlinguist habe ich diese Fäden einer Wissenschaftsgeschichte mit Leidenschaft verfolgt.
Über einen kleinen und lesenswerten Exkurs zur Komplexität der Sprachen gelangen wir im zweiten Teil zur Frage der „Sprache als Linse“ und damit zu Edward Sapir und Benjamin Lee Whorf. Und zu der von ihnen vertretenen These, dass „die tiefgreifenden Unterschiede zwischen Sprachen …mit erheblichen Abweichungen in Denkweisen verbunden sein müssten“ (149).
Und an dieser Stelle greife ich einmal kurz nach vorne: Dass der „Held“ bei Haas diesmal nicht Brenner, sondern mit Vornamen Benjamin Lee heißen soll – aber vielleicht dann doch nicht heißt – ist kein Zufall, sondern linguistische Absicht! Doch zurück zu Guy Deutscher und „der mit dem Whorf tanzt“!
Auch diese zentrale Frage der Sprachforschung wird zu einem wissenschaftshistorischen Ausflug genutzt, der – wie kann es anders ein – mit Humboldt beginnt. Klug skizziert Deutscher, wie diese Fragestellung mäandriert, sich in Sackgassen verrennt, die dann durch empirische Feldforschungen widerlegt werden – Wissenschaft im Werden. Und dass eine dieser Sackgassen dann in „Die Verteidigung der Missionarsstellung“ wieder auftaucht – haben Texte nicht doch ein Eigenleben jenseits des Autors?
Die Lektionen in diesem Kapitel sind – zumindest für Guy Deutscher – eindeutig: Sprache ist kein Gefängnis für das Denken; sie hindert uns nicht daran, Ideen zu verstehen, die Sprecher anderer Sprachen verwenden. Aber, so Deutscher, man kann nicht in jeder Sprache über jedes beliebige Thema sprechen; die kulturelle Ausstattung und ihre Artefakte setzen Grenzen, die aber durch Sprachschöpfung überwunden werden können.
Der Denkschleife „kulturelle Prägung“, wie sie der Ethnologe Boas und andere entwickelten, folgen wir mit einem Ausflug nach Australien, wo nicht nur ein alter Streit um den Namen des Kängurus gelöst wird, sondern wo wir auch den unterschiedlichen Raumorientierungen der menschlichen Spezies und ihrem jeweiligen Niederschlag in der Sprache begegnen. Und dem aufregenden Zusammenhang zwischen Sex und Syntax, dem begegnen wir auch noch!
Es versteht sich bei einem angelsächsisch geprägten Wissenschaftler – dessen Muttersprache hebräisch ist – von selbst, dass seine Sprache klar und präzise, leserfreundlich und verständlich ist. Und dies bei den durchaus komplexen Fragen der Linguistik. Es fehlt natürlich nicht ein kleiner Anhang zum Farbsehen aus physiologischer Sicht und die beigefügten Farbtafeln ergänzen die Lektüre durch das Sehen. Ein Musterbeispiel für ein kluges, farbiges und unterhaltsames Einführungswerk in einen spannendes Thema: Die Linguistik.
Und nach der Lektüre ist vor der Lektüre! Die folgt mit der „Verteidigung der Missionarsstellung“ von Wolf Haas – ein „Roman“ wie der Untertitel verspricht. Obwohl mir als Leser auf den über 200 Seiten nie ganz klar wurde, ob dieses Stück Text ein „Roman“ ist, sein sollte oder ob der Untertitel doch nur eine unbegründete Behauptung darstellt.
Die Geschichte, die uns Wolf Haas hier erzählt, handelt von einem Helden – Benjamin Lee Baumgartner – dessen Tragik darin zu liegen scheint, dass in dem Moment, in dem er sich in eine Frau verliebt, sofort eine weltweite Seuche ausbricht! Kausalität hin, Korrelation her – mit der Liebe einhergehen die „Kuhekrankheit“, die „Vogelgrippe“, die „Schweinegrippe“ und zu guter Letzt noch der „Ehec-Erreger“.
So mäandriert die Geschichte zwischen Krankheiten und Lieben, Trennungen und „Missionarsstellung“, beschäftigt sich mit linguistischen Spitzfindigkeiten wie dem „logischen Selbstwiderspruch“ bei Alfred Tarski und wir machen ganz nebenbei die Bekanntschaft des Erzählers, der an einer Arbeit zum „historischen Wandel temporaler zu kausalen Konjunktionen“ schreibt – und dies, während Benjamin Lee im Nebenzimmer die Missionarsstellung betreibt.
„Eine der verblüffendsten Erfahrungen beim Schreiben ist es, dass erfundene Dinge oft wahr klingen und wahre erfunden“ (231) ist mein Lieblingssatz in diesem Buch von Wolf Haas – in jedem seiner Bücher finde ich erstaunlicherweise immer einen Lieblingssatz – und so fabuliert der Autor seine Geschichte oder vielleicht fabuliert auch die Geschichte mit dem Autor.
Ein vergnügliches und kluges Buch für Leserinnen und Leser, die linguistische und erzählerische Überraschungen, Abkürzungen und auch typografische Absonderlichkeiten (so ist der Umschlag in „Alte Haas Grotesk“ gesetzt und – ach schauen Sie doch selber nach!) goutieren können.
Fazit
Nach „Das Wetter vor 15 Jahren“ ist die „Verteidigung der Missionarsstellung“ ein eindeutiger Beleg, dass Wolf Haas auch Geschichten jenseits des Detektivs Brenner schreiben kann. Obwohl, eine Geschichte, in der Brenner einem linguistischen Widerspruch auf die Schliche kommt – ich würde sie lesen!
Sie sollten beide Bücher lesen – denn nur so erlesen Sie sich eine wunderbare Verbindung, eine Melange aus Wissenschaft und Belletristik, eine Lektüre die Sie in beiden Fällen nicht mehr vom Lesesessel lässt. Und was kann man schöneres von einem Buch sagen!
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Münch
Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Fach Verwaltung und Organisation
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Zitiervorschlag
Thomas Münch. Rezension vom 29.10.2012 zu:
Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. Verlag C.H. Beck
(München) 2011. 3. Auflage.
ISBN 978-3-406-60689-2.
Mit begründeten Verweisen auf: Wolf Haas. 2012: Verteidigung der Missionarsstellung. Roman. Hoffmann und campe Hamburg. 238 Seiten. ISBN 978-3-455-40418-0. 19,90 Euro.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14100.php, Datum des Zugriffs 04.12.2024.
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