Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer: Occupy. Räume des Protests
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 21.11.2012

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer: Occupy. Räume des Protests.
transcript
(Bielefeld) 2012.
191 Seiten.
ISBN 978-3-8376-2163-1.
D: 18,80 EUR,
A: 15,30 EUR.
Reihe: XTexte.
„Occupy artikuliert sich durch seine Verräumlichung“
Über die Bedeutung des Raums für menschliches Leben und Handeln, für Er- und Ausbeutung, für Freuden und Leiden… gibt es vielfältige Erklärungsversuche und Bestimmungen. Im wissenschaftlichen Diskurs hat insbesondere der Wandlungsaspekt des Raums als „Turn“ (vgl. dazu auch: Jörg Döring / Tristan Thielmann, Hrsg., Spatial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, 2008, www.socialnet.de/rezensionen/6606.php) eine neue Aufmerksamkeit für das „Zeitalter des Raums“ (Michel Foucault) erhalten. Der Lebensraum der Menschen wird in der sich ökonomisch, profitorientiert und neoliberal vollziehenden Entwicklung immer mehr zum „Markt“- und immer weniger zum „Chancengleichheits“ – und „Gerechtigkeits“ – Platz. Es sind insbesondere die sich im letzten Jahrzehnt zu Wort gemeldeten und etablierten Initiativen der Globalisierungskritiker, die mit der Überzeugung „Eine andere, bessere und gerechtere (Eine) Welt ist möglich!“ auf die Fehlentwicklungen in der sich immer interdependenter, entgrenzender und egoistischer gemachten Welt aufmerksam machen. Die ungute Entwicklung, die sich nicht zuletzt dadurch äußert, dass die Armen immer ärmer und die Reichen immer reicher werden – und zwar sowohl lokal als auch global – wird insbesondere von nichtstaatlichen Organisationen (NGO) und spontan entstandenen Oppositions-Gruppierungen kritisiert, die im freiheitlich-demokratischen Diskussionsprozess als „Pioniere der Zivilgesellschaft“ (Julie Fisher, in: UNESCO-Kurier 9/2000, S. 15) bezeichnet, von den Verfechtern der Kapitalismus-Entwicklung jedoch als „Spinner“ abgetan werden. Immerhin: Die zunehmende, wenn auch vorerst überwiegend intellektuell sich artikulierende Kapitalismuskritik (vgl. dazu u. a. die Rezensionen zu den Büchern von David Graeber, Ian Morris, Saral Sarkar, Jeremy Rifkin, Paul Collier, Elinor Ostrom, Tomáš Sedlàček, Petra Pinzler, Jean Ziegler … im Fundus der socialnet Rezensionen) geht dabei davon aus, dass eine evolutionäre, „vernünftige“ Entwicklung hin zu einer humanen, ökologisch tragfähigen Gestaltung des Lebensraums der Menschen nicht ohne Machtveränderung und -ausübung möglich ist.
Entstehungshintergrund und Autor
Als am 17. September 2011 im New Yorker Manhattan, dem „Finanzplatz der Welt“, die ersten rund 300 Anti-Wall-Street-Aktivisten ihr Protestlager errichteten und mit der Umbenennung der Straße in „Liberty Square“ ihr Anliegen zur Befreiung der Menschen aus der neokapitalistischen Geldherrschaft zum Ausdruck brachten, da ahnten Wenige, dass dies der Beginn einer mächtigen Bewegung gegen Finanzmanipulation, Spekulation, Schuldenpolitik und Ausbeutung werden könnte. Die Parole – „Occupy Wallstreet“ – markierte die Ohnmacht der Ohnmächtigen, die gegen die Übermacht der Mächtigen antreten und mit ihrer- „Orts“- und „Platz“- Macht erfahren, dass sie Macht haben können. Mit ihren Zielsetzungen und Aktivitäten knüpfen sie, als „Amerikanischer Herbst“ und ausgeweitet als „Europäischer Sommer“, an die Veränderungsprozesse des „Arabischen Frühlings“ an: Mit der auffordernden Frage – „Are you ready for a Tahris moment?“ – wollen sie die Erfahrungen, die in Ägypten und den anderen arabischen Ländern mit Vernetzungs- und Medienaktionen gemacht wurden, aufnehmen (siehe auch: Shadia Husseini de Araújo, Jenseits vom »Kampf der Kulturen«. Imaginative Geographien des Eigenen und des Anderen in arabischen Printmedien, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12016.php). Der Begriff „Occupy“ benennt mittlerweile nicht nur Widerstands- und Protestbewegungen gegen die Finanzmächte in den USA und anderen Ländern der Erde, sondern mutiert zu einer Bezeichnung für ein „Aufstehen von Unten“, der jeweils 1% in der Gesellschaft, was den Wohlstand und die ökonomische und politische Chancen(un)gleichheit betrifft, gegen die wachsende Minderheit der Wohlhabenden: „Of the 1 %, by the 1 %, for the 1 %“.
Die an der TU in Wien und am Visual Cultures Department des Goldsmiths College der Universität London lehrenden und forschenden Kulturwissenschaftler Peter Mörtenböck und Helge Mooshammer haben sich bereits zu Fragen der Kommunikation und Vernetzung in der Globalisierung zu Wort gemeldet (Peter Mörtenböck / Helge Mooshammer, Netzwerk Kultur. Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/9770.php). Am Beispiel der Occupy-Bewegung zeigen sie nunmehr auf, wie sich eine „globale Kultur des Widerstands“ artikuliert und sich beispielhaft entwickelt zu einem „zeitgenössischen Aufstand geben Vorherrschaft“ jeder Couleur,
Aufbau und Inhalt
Die Autoren gliedern ihr Essay in sieben Kapitel.
Im ersten werden die Aktions- und Verlaufsprozesse der Wallstreet-Aktivitäten skizziert: „Von der ökonomischen Krise zur rebellischen Stadt“. Die eher spontan und anfangs lediglich gegen die globalen Finanzpraktiken des Kapitalmarktes in New York gerichteten, zahlenmäßig überschaubaren Protestaktionen, die zudem von der Staats- und Wirtschaftsmacht schnell „platt gemacht wurden“, erreichen, vor allem durch mediale Netzwerke schnell eine auf weitere Orte in den USA und weltweit sich ausweitende Aufmerksamkeit (vgl. auch: Markus Gamper / Linda Reschke, Hrsg., Knoten und Kanten. Soziale Netzwerkanalyse in Wirtschafts- und Migrationsforschung, 2010, www.socialnet.de/rezensionen/10555.php). Die Proteste „gegen die beschleunigte Zunahme von Reichtum und Macht der sogenannten 1%“ entwickeln sich zur Rebellion der (noch) ohnmächtigen 99%. Die neue (alte) Strategie, die von einer „Orts“ – Besetzung ausgeht (lokal handeln), um Veränderungs- und revolutionäre Prozesse einzuleiten (global denken), trifft offenbar auf ein Bedürfnis von Jungen und Alten und bewirkt, dass ein Bewusstsein entsteht, Raum zu besetzen, um ihn lebenswert zu bewohnen, in der Stadt (Mara-Daria Cojocaru, Die Geschichte von der guten Stadt. Politische Philosophie zwischen urbaner Selbstverständigung und Utopie, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13713.php) genauso wie auf dem Lande.
Im zweiten Kapitel – „Besetzungen des öffentlichen Raums“ – werden diese Aktivitäten beschrieben und begründet. Dabei wird entdeckt, was sich im intellektuellen, philosophischen Diskurs als eine neue Qualität ethischen und moralischen Denkens und Handelns darstellt: Der Mensch erschafft sich durch denkendes Tun (Richard Sennet, Zusammenarbeit. Was unsere Gesellschaft zusammenhält, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14034.php), und es wird deutlich, „dass die Provokationen von einst ( ) die Gewissheiten von heute (sind)“ (Lawrence LeShan, Das Rätsel der Erkenntnis. Wie Realität entsteht, 2012, hppt://www.socialnet.de/rezensionen/13512.php). Philosophisches Denken wird zur politischen Aktion.
Wie die Orte des (neuen) Widerstandes aussehen, wird im dritten Kapitel dargestellt: „Zeltlager, Volksküchen, Universitäten“. Die sich als „globale Dörfer der Occupy-Bewegung“ präsentierten Aktionsräume bieten alles, was Protest gegen mächtige Gegner braucht: Aufenthalt, Schutz, Information und Motivation. Es entstehen und stärken sich Bewusstseinsprozesse des Zusammengehörigkeitsgefühls, von Überzeugungskraft und Commons ( Silke Helfrich / Heinrich-Böll-Stiftung , Hrsg., Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/13482.php ), die Erfahrungen von Solidarität und moralischem Handeln entstehen lassen.
Dass die etablierten Mächte den wachsenden Protesten der Occupy-Bewegung nicht tatenlos zuschauen, sondern sie mit ihren Machtmitteln verhindern und aufzulösen versuchten, ist nicht verwunderlich. Im vierten Kapitel werden die subtilen und scheinbar gesetzeskonformen Aktivitäten von Staats- und Polizeimacht beschrieben: „Räumung der Blockaden“. Durch mediale Unterstützung der abhängigen Presse entwickelte sich eine öffentliche Contrastimmung, die lediglich durch einige prominente und mutige Unterstützer abgemildert werden konnte. Als das Occupay-Camp neben der Londoner St.- Pauls-Kathedrale in den frühen Morgenstunden des 28. Februar 2012 von massiven Polizei- und Militärkräften geräumt wurde, da titelte der Evening Standard: „Besetzt für 137 Tage, geräumt in 137 Minuten“.
Im fünften Kapitel wird die Bedeutung der virtuellen Netzwerke – „Onsite / Online“ – als „Twitter-Revolution“ charakterisiert. Weil Widerstandsbewegungen nicht nur gezielt lancierten und gesteuerten Angriffen ihrer Gegner, was meist das Establishment ist, ausgesetzt sind, bedarf es zur Stabilisierung und Identifizierung mit dem Protest Formen der Informationsverbreitung, der Aufklärung, Interaktion und Koordination, die durch die Digitalisierung bereit stehen.
Erfolgreicher gewaltfreier Widerstand kann nicht machtlos sein. Doch die Instrumente der Macht brauchen nicht die gleichen wie die der etablierten Mächtigen zu sein. Die Entdeckung und Erprobung von künstlerischen und kulturellen Aktivitäten werden im sechsten Kapitel thematisiert: „Initiative Kunst“. Im Zusammensein und in den gemeinsamen Aktionen entsteht auch eine Neuformulierung des Sozialen, der Gerechten und des Humanen: „Das Performative, Theatralische und Karnevaleske der Occupy-Besetzungen, die spielerische Inszenierung von Körpern in gemeinsamen Aktionen ist so nicht einfach nur Beiwerk einer politischen Handlung…“.
Im siebten Kapitel beginnen die Autoren mit einer beinahe resignativen Auflistung der scheinbaren Niederlagen der zahlreichen Occupy-Aktionen in der Welt und der Siege der etablierten, neoliberalen Mächte. Doch die Krisen in der Welt, von der Finanz-, Wirtschafts-, Arbeits-, Energie-, Hunger-, bis hin zu der Umweltkrise, machen Widerstand erst recht notwendig. Erforderlich dazu sind (neue) Analysen, die nicht mehr allein Ursachen und Wirkungen gegeneinander aufrechnen, sondern die „das Ereignis und die Bedeutungsverleihung als sowohl eigenständige als auch in sich gefaltete Wirkungsbereiche“ berücksichtigen. Das „Denkmodell der Nachträglichkeit“, das von den Autoren als ein alternativer Lösungsansatz zu den traditionellen Formen des Widerstands in die Diskussion gebracht wird, bedeutet: „Um wahren Widerstand gegen die Entfremdungspraxis des Kapitalismus leisten zu können, gilt es nicht nur, dagegen zu protestieren, sondern sich dem Zugriff durch das System zu entziehen und stattdessen gemeinschaftlich an einer Alternative zu bauen“.
Fazit
Was lässt sich also aus den Erfolgen und Misserfolgen der Occupy-Bewegung lernen? Nicht die resignative Auffassung: „Da kann man sowieso nichts machen!“. Aber auch nicht: „Da muss erst alles Bestehende kaputt gemacht werden, um Neues aufzubauen!“. Vielmehr zeigen sich Perspektiven, die es ermöglichen – in der Occupy-Bewegung wie in allen anderen Denk- und Handlungsformen, die sich daran orientieren, dass eine andere, bessere und gerechtere (Eine?) Welt denk- und machbar ist – den Lebensraum der Menschen auf der Erde menschenwürdig zu entwickeln. Die Autoren zeigen dazu drei Perspektiven auf: Zum einen ein ökosophisches Denken und Handeln dadurch, dass die „Okologien von Umwelt, sozialen Beziehungen und menschlicher Subjektivität“ zusammen gedacht werden; zum zweiten die konsequente Verweigerung der eigenen Enteignung durch Subjektivierung; und drittens die Infragestellung der (verordneten oder gegebenen) Wahrheit und die Ergründung und Besetzung der „Wahrheit“ (siehe auch: Heinz von Foerster / Bernhard Pörksen, Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/13980.php).
„Occupy Wallstreet“, „Occupy Everywhere“, „Occupy Everything“… die Räume des Protests müssen sich sowohl als „Platzhalter“ der Gerechtigkeit in der Welt darstellen, als auch und insbesondere als „Occupy Ourselves“ verwirklichen; denn „Veränderung wird nicht durch die Übernahme der Wall Street oder der Besetzung von allem und jedem erreicht. Veränderung beginnt im Verlangen nach uns selbst“. Diese Botschaft kann man als Revolution oder als Perspektivenwechsel verstehen – sie muss nur realisiert werden, von dir und mir, und damit von der Gemeinschaft all derer, die an eine humane Menschheit glauben und dafür eintreten, sie zu verwirklichen!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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