Monika Rennert: Co-Abhängigkeit
Rezensiert von Arnold Schmieder, 30.11.2012

Monika Rennert: Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb (Freiburg) 2012. 3., aktualisierte Auflage. 265 Seiten. ISBN 978-3-7841-2089-8. D: 23,90 EUR, A: 24,60 EUR, CH: 34,50 sFr.
Thema
Als co-abhängig bezeichnet man die Verhaltensweisen von Partnern, näher stehenden Bezugspersonen und, was nicht vergessen werden darf, Kindern suchtkranker Menschen. Durch ihr Verhalten, das durch die drogenzentrierten Verhaltensweisen des oder der Süchtigen beeinflusst wird (was auch für nicht stoffgebundene Suchtformen gilt), können sie zum einen dazu beitragen, dem Suchtkranken eine Interaktionsplattform zu ermöglichen, die in keiner Weise dazu geeignet ist, den Drogenmissbrauch und die Suchtsymptomatik zu überwinden; zum anderen können diese Co-Abhängigen, besonders Partner und Kinder, vermittels solcher vom Suchtverhalten überformten Beziehungen selbst ‚krank‘ werden, und zwar in einer beachtlichen Spannweite von psychischen und psychosomatischen Störungen. Zu Recht weist die Verfasserin nachdrücklich darauf hin, dass es geschlechtsspezifische Unterschiede im Verhalten von Co-Abhängigen gibt, was für die therapeutische Praxis belangvoll ist. Ebenso wichtig ist ihr Hinweis, dass „Angehörige auch nicht grundsätzlich als Kranke“ zu betrachten sind, eine Sichtweise, die man in der „Literatur und der Praxis auch heute noch“ antreffen könne. Der Verfasserin geht es vornehmlich um „Verständnis für die wechselseitigen Prozesse in den von Sucht betroffenen Beziehungen, auf keinen Fall um Schuldzuschreibung an die eine oder andere Seite“. (S. 12) Auf diesem Hintergrund kreist ihre Arbeit um Wechselbeziehungen von Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit insbesondere in den Familien von Suchtkranken. Typisches Rollenverhalten auch von Kindern, generell suchtfördernde Verhaltensweisen und Persönlichkeitsstörungen von Co-Abhängigen werden vorgestellt. Ausführlich beschrieben werden sowohl die Bearbeitungen dieses Problems in Selbsthilfegruppen als auch Behandlungsprogramme, die sie kritisch-konstruktiv aufarbeitet, was sie in einem Resümee bündelt und als Behandlungskonzept vorschlägt.
Aufbau und Inhalt
Das Buch erscheint nach mehr als zwei Jahrzehnten in dritter Auflage und wurde von Frau Rennert erweitert und ergänzt um einen „Überblick über das, was seit damals entstanden ist“. (S. 11 ff) Allein dieses gut zwanzig Seiten umfassende Kapitel ist für denjenigen, der das Buch seit seiner Erstveröffentlichung kennt, eine lohnende Lektüre, ein eigenständiger Essay darüber, wie sich seit Aufkommen systemisch-familientherapeutischer Ansätze in den 80er Jahren die theoretischen Ansätze zur Co-Abhängigkeit und die praktische Arbeit mit Angehörigen entwickelt hat. Wenn auch die erste Auflage darüber schon Auskunft gibt, und zwar über Theorie(n) der Co-Abhängigkeit und deren therapeutisch-praktische Umsetzung, ist dieser ‚Nachtrag‘ darum erhellend, weil u.a. gezeigt wird, wie und wodurch etliche Ansätze überholt sind oder nachwirken, die sich hauptsächlich darauf bezogen, wie „das Verhalten von Angehörigen dazu beiträgt, die Sucht aufrechtzuerhalten.“ (S. 13) Zwar kursierte in Selbsthilfegruppen, insbesondere bei den Anonymen Alkoholikern, schon vor den Forschungsarbeiten zum Problem der Leitsatz, dass ‚Hilfe in der Nicht-Hilfe‘ besteht, was zum Ausbruch aus diesem circulus vitiosus anleitet, nicht aber ernsthaft die Betroffenheit des engeren sozialen Umfeldes in den Blick nahm. Die Entwöhnung des oder der Betroffenen bzw. die möglichst dauerhafte Abstinenz des oder der Betroffenen stehen wohl immer noch im Mittelpunkt. Das spiegelt sich auch darin, dass der Anteil der Angehörigenberatung seitens der Suchtberatungsstellen statistisch eher gering ausfällt, was dem Finanzierungsproblem durch die Kostenträger korrespondiert, die für die Behandlung der Krankheit aufkommen und für die eine Einbeziehung von Angehörigen höchstens ein Optimierungsfaktor ist: „Die Angehörigen selbst kommen dabei zu kurz.“ (S. 15)
Soweit die trügerische Hoffnung besteht, nach der Entwöhnungsbehandlung würden sich die allermeisten Probleme aller Beteiligten in Wohlgefallen auflösen, soweit durch die Forschung bekannt ist, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht der Fall ist, wäre in Bezug auf therapeutische Praxis und Nachsorge zu erwarten, dass entsprechende Einrichtungen über „weitergehende familientherapeutische Angebote“ (S. 16) verfügen, was jedoch nicht der Fall ist. Hilfreich wäre es für – selbst behandlungsbedürftige – Angehörige eben auch, stünde für sie ein Therapieangebot bereit, „das Elemente aus Psychotherapie sowie Kenntnisse von Sucht und systemischen Prozessen verbindet“, was auch nur vereinzelt zu finden ist. Die Verfasserin zeigt, dass es solche Angebote gibt, deren besondere Herausforderung sie darin sieht, „die Balance zu finden, die Mitverantwortung der Angehörigen für die Beziehung mit dem Suchtkranken auf das angemessene Maß zu beschränken“. (S. 19) Dass und wie dies auch für Kinder gilt, betont die Autorin mit Nachdruck. Bündig stellt sie fest: „Tatsächlich konzentriert sich die professionelle Suchtkrankenhilfe noch immer in erster Linie auf die Behandlung der Süchtigen.“ So weit, so schlecht; denn spätestens mit Erstveröffentlichung von „Co-Abhängigkeit“ dürfte auch der Fachöffentlichkeit klar geworden sein, dass den so genannten Mitbetroffenen vor allem auch mit „Empathie“ zu begegnen ist, was natürlich auch für die Mitglieder von Selbsthilfegruppen gilt, zumal die Verfasserin den Eindruck hat, „dass besonders ‚Ehemalige‘ in der Suchtkrankenhilfe sich hier noch schwer tun und eher Einfühlungsvermögen für andere Süchtige aufbringen.“ (S. 27)
Vom Etikett der „KomplizInnen der Suchtkranken“ muss man sich verabschieden, ebenso von der Vorstellung, alle im Umfeld des Betroffenen würden „krank“, gleichzeitig ist aber festzuhalten, dass „die, die krank werden, (…) durchaus unterschiedliche Störungen“ haben, und zu warnen ist vor vorschnellen und pauschalen Pathologisierungen, wobei jedoch wichtig bleibt, die „individuelle Entwicklung auch im Kontext mit dem Suchtproblem in ihrer Familie zu betrachten“. (S. 29 ff)
All diesen Aspekten trägt das Buch Rechnung. Nach einer Vorstellung des Suchtbegriffs aus systemischer Sicht werden die Ergebnisse zu Herkunftsfamilien von Suchtkranken kritisch in den Blick genommen wie ebenso Modelle zur Entwicklung von Drogenabhängigkeit. Breiten Raum nehmen suchtförderndes Verhalten, typisches Rollenverhalten im Zusammenhang einer Suchterkrankung und so die Wechselbeziehungen zwischen Abhängigkeit und Co-Abhängigkeit ein. Besonders geht die Autorin auf die Anonymen Alkoholiker im Zusammenhang der ‚Entdeckung‘ von Co-Alkoholismus und natürlich auch auf die ersten und wegweisenden Arbeiten zum Problem ein und zieht schließlich eine Parallele zum Trauerprozess (was, wie am Rande eingeflochten sei, anderenorts auch in Bezug auf Arbeitslose aufgezeigt wurde), um es für eine ‚Hilfe zur Selbsthilfe‘ fruchtbar zu machen. Sehr akribisch werden Familienbehandlungsprogramme und Krankheitsmodelle zur Co-Abhängigkeit dargestellt und kritisch erörtert, die klassische Literatur auf den Prüfstein gestellt. Ein ausführliches Literaturverzeichnis fehlt nicht, ebenso wenig wie Adressen und Anlaufstellen für Ratsuchende.
Fazit
Bescheiden meint die Autorin in ihrer Einführung zur dritten Auflage ihres Buches, es sei nach so langer Zeit nach der Erstveröffentlichung bereits „eine Art zeitgeschichtliches Dokument“. (S. 11) Das ist sicherlich richtig, wird dem Buch aber nicht gerecht, das zwar, wenngleich es sich auch an Laien bzw. Ratsuchende richtet, kein Ratgeber im eigentlichen Sinne ist, sondern vielmehr eine in hohem Maße seriöse und gelungene Forschungsarbeit, der nach wie vor große Aufmerksamkeit gehört. Mehr noch ist all jenen diese erste und nach wie vor wichtige deutschsprachige Arbeit zur Co-Abhängigkeit zu empfehlen, die sich leicht in der Fülle der Literatur zum Thema verlieren könnten. Viele, auch dickleibigere Arbeiten weisen oftmals nicht annähernd solche Informationsfülle auf und hinken weit hinter dem Reflexionsniveau her, das die Arbeit von Monika Rennert auszeichnet. Wer im Suchtbereich arbeitet und diese grundlegende Arbeit noch nicht zur Kenntnis genommen hat oder sich jenseits unmittelbarer Betroffenheit gründlich informieren will, der ist mit diesem Buch bestens beraten. Sensibilisiert wird die Leserin oder der Leser auch gegen eine „Funktionalisierung der Angehörigen“ nicht nur in dem Sinne, dass sie „primär“ für den Zweck der „Optimierung der Suchtbehandlung“ einbezogen werden (S. 27), sondern auch – was die Autorin immanent aufzeigt – gegenüber einer Stigmatisierung der Co-Abhängigen bis in den Bereich, dass sie zwangsläufig Symptome aufweisen, die behandlungswürdig sind, was dann eine Pfründe eröffnet. Vor etwas wie ‚iatrogener Noxe‘ – z.B. auch durch ‚interessierte‘ Populärwissenschaft – ist daher gewarnt.
„Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich“, heißt es bei Tolstoi und dies gilt sicherlich auch für Co-Abhängigkeit als Merkmal einer „Beziehungsstörung in dem Sinne, dass wir uns in schädlicher und ungesunder Weise von anderen Menschen abhängig machen“, besonders da, wo wir dazu neigen, sie „als einzige Quelle unserer Identität, unseres Wertes und unseres Wohlbefindens zu benutzen“, leiht die Autorin bei der Selbsthilfegemeinschaft Anonyme Co-Abhängige an. (S. 32) Womit sie ihr Werk beschließt, ist als verallgemeinerungsfähige Aussage zu lesen: „Tatsächlich liegt auch in der Beziehung zwischen Abhängigen und Co-Abhängigen für beide eine Chance zur Genesung, wenn die co-abhängige Person Grenzen setzt – dies bedeutet jedoch keine Garantie, dass die abhängige Person sich auch verändert.“ (S. 242) Man darf mutmaßen, dass in im von Drogenmissbrauch oder im von nicht-stoffgebundenen Suchtgeschehen ummantelten co-abhängigen Verhalten ein möglicherweise normal-alltägliches Beziehungsschicksal seinen Kulminationspunkt findet, der hier, weil eklatant auffällig, behandlungswürdig wird. Was in diesem Fall gilt, gilt jedoch auch allgemein: „Alle Beteiligten können sich aus ihrer Verstrickung auch wieder ent-wickeln.“ (S. 33) Ein Buch also, in dem man auch zwischen den Zeilen lesen kann, und dies ebenfalls mit Gewinn.
Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 30.11.2012 zu:
Monika Rennert: Co-Abhängigkeit. Was Sucht für die Familie bedeutet. Lambertus Verlag GmbH Marketing und Vertrieb
(Freiburg) 2012. 3., aktualisierte Auflage.
ISBN 978-3-7841-2089-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14109.php, Datum des Zugriffs 10.12.2023.
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