Misun Han-Broich: Ehrenamt und Integration
Rezensiert von Prof. Dr. Nausikaa Schirilla, 23.01.2014
Misun Han-Broich: Ehrenamt und Integration. Die Bedeutung sozialen Engagements in der (Flüchtlings-)Sozialarbeit. Springer VS (Wiesbaden) 2012. 228 Seiten. ISBN 978-3-531-18688-7. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 50,00 sFr.
Thema
Die sonst sehr auf Integration ausgerichtete deutsche Politik sieht für Flüchtlinge, die noch nicht anerkannt sind oder mit einer Duldung in Deutschland leben, keine Integrationsmaßnahmen vor. Im Gegenteil, Flüchtlinge leben oft in weit abgelegenen Lagern, durften früher jahrelang, bzw. dürfen aktuell ein knappes Jahr nicht arbeiten, sollen keine Deutschkurse besuchen und wurden von der Bevölkerung getrennt gehalten. Die Isolierung und von oben verordnete Segregation ist Teil der Abschreckungspolitik gegenüber Flüchtlingen und hat verheerende Folgen für deren soziale und psychische Situation. In dem Feld zwischen politischer Segregation, Menschenrechtsarbeit und Überlebenswillen der Flüchtlinge haben sich ehrenamtliche Strukturen entwickelt. Die ehrenamtliche Arbeit ist politisch, caritativ oder religiös motiviert und Ehrenamtliche bieten soziale, psychologische und auch rechtliche und politische Unterstützung für Flüchtlinge auf den verschiedensten Ebenen. Diese Ehrenamtsstruktur ist Gegenstand der Arbeit von Han-Broich.
Han-Broich untersucht ehrenamtliches Engagement für Flüchtlinge auf den verschiedensten Ebenen. Sie beantwortet damit
- Fragen einer Theorie des Ehrenamts, da sie Motive und Hintergründe des Engagements erforscht.
- Fragen der Integration der Flüchtlinge, da sie nach der Rolle der Ehrenamtlichen für die Integrationsprozesse fragt und
- Fragen nach interkultureller Kompetenz, da sie auch danach fragt, welche Auswirkungen das Engagement für die Flüchtlinge auf die Ehrenamtlichen hat und was sie dabei lernen oder entwickeln.
Autorin und Entstehungshintergrund
Misun Han-Broich hat Philosophie und Soziale Arbeit studiert und selber jahrelang in der Flüchtlingssozialarbeit gearbeitet. Die Studie stellt ihre Doktorarbeit dar. Sie verbindet theoretische Ausführungen, einen eigenen empirischen Teil und praktische Empfehlungen.
Aufbau und Inhalt
In dem einleitenden Teil beschreibt die Autorin ihr Forschungsinteresse – stellt die aktuelle Forschungslage dar, beschreibt die Problemstellung und konkretisiert die Forschungsfrage.
Daraufhin erläutert sie ihr methodisches Vorgehen, beschreibt die Grundgesamtheit und ihre verschiedenen Auswertungsmethoden. Daran anschließend werden die Interviewpartner vorgestellt und damit wird zugleich in das Thema eingeführt. Han Broich erläutert die soziale und rechtliche Situation von Flüchtlingen in Deutschland, sie beschreibt Fluchtursachen, Alltag, Arbeitssituation und das soziale und psychosoziale Umfeld von Flüchtlingen. In dem folgenden Teil werden die Daten nach verschiedenen Aspekten ausgewertet und diskutiert – so geht es einerseits um eine Theorie des Ehrenamts und um das Verhältnis von ehrenamtlichem Engagement und Gesellschaft.
In dem nächsten Kapitel, was ohne Zweifel das interessanteste ist, wird der Beitrag des Ehrenamts zur Integration der Flüchtlinge dargestellt.
In einem weiteren Kapitel wird nach der fachlichen Beziehung des Ehrenamts zur Flüchtlingssozialarbeit gefragt.
Der abschließende Teil fasst die bisherigen Ergebnisse zusammen und entwickelt sie auf einer theoretischen und auf einer praktischen Ebene weiter. Han-Broich fasst die Relevanz des Ehrenamtlichen Engagements der Flüchtlingshelferinnen zusammen und entwickelt darauf Folgerungen für eine Integrationspolitik und für eine Ehrenamtspolitik. Anschließend entwickelt sie ein Ehrenamtskonzept mit einem interkulturellen Bildungsangebot und beschreibt so konkrete und praktische Handlungsempfehlungen für die soziale Arbeit.
Diskussion
Die zentrale forschungsleitende These, dass nämlich das ehrenamtliche Engagement durch die Kontakte auf der persönlichen Ebene und durch den Kulturaustausch einen zentralen Beitrag zur Integration der Flüchtlinge darstellt, wird in der Untersuchung bestätigt. Methodisch werden die verschiedenen genannten Ebenen unterschiedlich untersucht: Die Autorin machte problemzentrierte Interviews mit Ehrenamtlichen, ethnographische Interviews mit Flüchtlingen und Experteninterviews mit Fachkräften in der Flüchtlingssozialarbeit. In der Auswertung werden diese verschiedenen Zugänge miteinander verbunden. Da in der Forschungshypothese auch eine Kausalbeziehung behauptet wird, werden Flüchtlinge mit und ohne Ehrenamtserfahrung befragt. In der Auswertung versucht die Autorin aus den Interviewdaten Indikatoren für Integration abzuleiten und diese in einer Skala darzustellen und die verschiedenen Integrationstufen und Ehrenamtskontakte zu vergleichen. Auch wenn nicht jeder Auswertungsschritt zwingend nachvollziehbar ist, so ist das Gesamtergebnis logisch dargestellt und überzeugend begründet.
Als Ergebnis hält die Autorin daher fest, dass das Ehrenamt die kognitiv-kulturelle und die sozial-strukturelle Integration begünstigt, dass positive (kulturelle) Kontakte entstehen, die die soeben genannte Wirkung zeigen und auch negative Erfahrungen mit der Mehrheitsgesellschaft kompensieren. Die Ehrenamtlichen wirken so als Brücke zwischen Flüchtlingen und Mehrheitsgesellschaft und erfahren dabei auch selber eine Horizonterweiterung, lernen andere Welten und Kulturen kennen, erfahren sich selber anders und erlernen neue soziale Kompetenzen. Die positive Wirkung des Ehrenamts bezieht Han-Broich auf das Konzept einer ressourcenorientierten prozessorientierten und damit aktivierenden Flüchtlingssozialarbeit und zeigte Parallelen mit einem gemeinwesenorientierten Ansatz in der interkulturellen sozialen Arbeit auf. Die Gemeinwesenorientierung besteht einerseits in der Vernetzung von Flüchtlingen und Gemeinwesen und in der Aktivierung von Ressourcen im Gemeinwesen und durch die Flüchtlinge.
Abschließend betont Han-Broich noch einmal, dass sie das Ehrenamt nicht als politischen oder finanziellen Zwängen geschuldeten Ersatz für professionelle Tätigkeit oder als deren Ergänzung sieht, sondern als „Quelle für eine gerechte und humane Gesellschaft“ (S. 196). Daher entwickelt sie abschließend ein Bildungskonzept für Ehrenamtliche mit einem interkulturellen Fokus,
Fazit
Die Studie verlangt manchmal vom Leser das Verfolgen von nicht immer nachvollziehbaren Hin- und Herbewegungen in der Datenauswertung und in der Einführung und Diskussion verschiedener theoretischer Ansätze. Aber das Buch bietet die umfassende Untersuchung einer klaren Hypothese und einen sehr guten Überblick über Flüchtlingssozialarbeit, Ehrenamtstheorien und Ansätzen interkultureller sozialer Arbeit. Es ist für alle, die mit Flüchtlingen arbeiten oder forschen und für alle, die an innovativen theoretischen und auch praktischen Entwicklungen zum Ehrenamt arbeiten, sehr zu empfehlen.
Rezension von
Prof. Dr. Nausikaa Schirilla
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Es gibt 41 Rezensionen von Nausikaa Schirilla.
Zitiervorschlag
Nausikaa Schirilla. Rezension vom 23.01.2014 zu:
Misun Han-Broich: Ehrenamt und Integration. Die Bedeutung sozialen Engagements in der (Flüchtlings-)Sozialarbeit. Springer VS
(Wiesbaden) 2012.
ISBN 978-3-531-18688-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14112.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.
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