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Friederike Schmidt: Implizite Logiken des pädagogischen Blickes

Rezensiert von Prof. Dr. Susanne Gerull, 16.01.2013

Cover Friederike Schmidt: Implizite Logiken des pädagogischen Blickes ISBN 978-3-531-18751-8

Friederike Schmidt: Implizite Logiken des pädagogischen Blickes. Eine rekonstruktive Studie über Wahrnehmung im Kontext der Wohnungslosenhilfe. Springer VS (Wiesbaden) 2012. 308 Seiten. ISBN 978-3-531-18751-8. D: 39,95 EUR, A: 41,10 EUR, CH: 50,00 sFr.
Reihe: Research.

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Thema

Friederike Schmidt untersucht in ihrer empirischen Arbeit, wie sozialpädagogische Fachkräfte ihre Klient(inn)en wahrnehmen. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, entlang welcher Orientierungen sie den Blick auf ihre Klientel entfalten (S. 99 f.). Das Interesse der Autorin liegt auf den vermuteten kollektiven Handlungsorientierungen der untersuchten Sozialpädagog(inn)en, die allesamt in Teams der Wohnungslosenhilfe im Rahmen der Hilfe für Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten nach § 67 ff. SGB XII tätig sind.

Autorin

Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in einem BMBF-Forschungsprojekt an der Universität Trier. Bei der vorgelegten Publikation handelt es sich um ihre Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades Dr. phil. an der Freien Universität Berlin.

Aufbau und Inhalt

Die Autorin gliedert ihre Publikation nach der Einleitung in sieben Kapitel, die an den Aufbau eines klassischen empirischen Forschungsberichts angelehnt sind. So stellt sie in den ersten Kapiteln den Forschungsstand zum Blick der Sozialen Arbeit sowie den Dimensionen der Blicklogik dar. Im nachfolgenden Kapitel beschreibt sie ihr methodisches Vorgehen. In den Kapiteln vier bis sechs stellt sie die Ergebnisse ihrer empirischen Forschung vor, die sie im letzten Kapitel in Form einer Schlussbetrachtung zusammenfasst und kritisch am zu Beginn dargestellten Forschungsstand diskutiert. Der Anhang besteht aus einem umfangreichen Literaturverzeichnis sowie den von ihr angewandten Interview-Transkriptionsregeln.

Einleitung. In ihrer Einleitung führt Friederike Schmidt in die Grundlagen ihres Themas ein. So führe visuelle Wahrnehmung zu Verstehen und der Gestaltung der pädagogischen Intervention, der Zugang beruhe jedoch auf einer selektiv-interpretativen Praxis (S. 14). Mithilfe ihrer empirischen Forschung, die sie an dieser Stelle kurz im Rahmen der dokumentarischen Methode verortet, soll dieser Zugang näher erforscht werden.

Forschungsstand. Die beiden Kapitel zum Forschungsstand befassen sich mit dem Blick der Sozialen Arbeit sowie den Dimensionen der Blicklogik. Im ersten Teil stellt sie die Ergebnisse einer Literaturrecherche vor, die sich neben grundsätzlichen Kontextinformationen zur Wohnungslosenhilfe bzw. der Hilfe nach § 67 ff. SGB XII vor allem auf den Forschungsstand zur Wahrnehmung und zu den Deutungsmustern Sozialer Arbeit bezieht. Der zweite, ausführlichere Teil beschäftigt sich mit den Dimensionen der Blicklogik, die sie in Wahrnehmung als mimetische, diskursive und habituelle Praxis unterscheidet. Hier legt sie den grundlagentheoretischen Rahmen ihrer Studie. Die Grundthese hierbei ist, dass es einen „kollektiv geteilte[n] Wahrnehmungsraum“ gibt, dessen Blicklogik sich „im Handeln entwickelt und konstituiert“ (S. 59). Mit einer Zusammenfassung schließt die Darstellung des Forschungsstands.

Methodischer Rahmen. Friederike Schmidt hat in neun Berliner Einrichtungen der Hilfe nach § 67 ff. SGB XII Gruppendiskussionen mit den pädagogischen Teams geführt und vier davon mit der dokumentarischen Methode nach Bohnsack ausgewertet. Die von ihr im Rahmen der Auswertung gebildeten Typen sind dabei nicht mehr die einzelnen untersuchten Teams, sondern die in den Gruppendiskussionen von ihr identifizierten Elemente der Blicklogik (S. 118).

Darstellung der Ergebnisse. Die folgenden Kapitel vier bis sechs sind nach den von ihr identifizierten Blicklogiken strukturiert, nämlich professionelles Selbstverständnis, Wissen und Wahrnehmungsfokus. In allen drei Kapiteln werden diese Blicklogiken detailliert anhand von Textpassagen in der originalen Transkription rekonstruiert. So arbeitet sie im vierten Kapitel zwei grundsätzliche Formen eines professionellen Selbstverständnisses heraus: Mit einem protonormalistischen Selbstverständnis werden Klient(inn)en nach ihren Ergebnissen „vor dem Hintergrund einer negativ-selektiven Wahrnehmung“ (S. 181) im Zuge ihrer Denormalisierung erfasst. Das flexibel-normalistische Selbstverständnis dagegen zeichne sich durch eine Normalisierung der Klient(inn)en und deren Anerkennung aus (S. 181). Im fünften Kapitel wertet sie die Gruppendiskussionen anhand von sechs Wissensbeständen aus, nämlich Herkunftsmilieus, Entwicklung, Gesundheit, Geschlecht, Bildung und Diskriminierung. Trotz des grundsätzlich identischen Wissensbezugs erleben und betrachten die von ihr untersuchten Teams ihre Klient(inn)en unterschiedlich. Während als ein Typ von ihr die Orientierung an den Dispositionen der Klient(inn)en identifiziert werden konnte, bezieht sich der andere Typ auf deren Handlungsmöglichkeiten. Als drittes Element des impliziten pädagogischen Blickes stellt Friederike Schmidt im sechsten Kapitel den Wahrnehmungsfokus in den Vordergrund. Neben den zwei zuvor erwähnten Typen Dispositionen und Handlungsmöglichkeiten der Klientel konnte sie zwei Wahrnehmungspraxen herausarbeiten, die „quer zu den Fokussen liegen“ (S. 260), nämlich die Wahrnehmung der Klient(inn)en als abweichend mit gleichzeitiger Einordnung in einen negativen Horizont sowie als abweichend, aber in ihrer Andersartigkeit anerkannt (S. 260). Anschließend betont die Autorin, dass alle drei Blicklogiken, die aus den Gruppendiskussionen rekonstruiert werden konnten, sich gegenseitig bedingen und bestimmen würden: „Erst in diesem Zusammenspiel der Logikelemente lässt sich die implizite Logik des pädagogischen Blicks adäquat begreifen“ (S. 261).

Schlussbetrachtung. In ihrer Schlussbetrachtung fasst Friederike Schmidt ihre Ergebnisse noch einmal zusammen, strukturiert an den drei von ihr identifizierten Blicklogiken. Sie stellt die Konsequenzen für die Soziale Arbeit dar, wobei sie vor allem die erforderliche kritische Reflexion des eigenen Blickes anmahnt. Abschließend fasst sie in einem Ausblick die offen gebliebenen bzw. neu entstandenen Fragen zusammen, die weitere empirische Studien zu diesem Thema erforderlich machen würden.

Diskussion

Friederike Schmidt hat in ihrer Dissertation eine spannende und in der Praxis der Sozialen Arbeit noch viel zu wenig diskutierte Frage aufgegriffen. Während regelmäßig darüber reflektiert wird, WAS wir wahrnehmen, fragt sie explizit nach dem WIE. Mit einer (den meisten Dissertationen innewohnenden) Akribie, die teilweise zu etwas redundanten Passagen führt, rekonstruiert sie anhand eines exemplarischen Arbeitsfeldes, nämlich der Hilfe nach § 67 ff. SGB XII, wie und anhand welcher Logikelemente Klient(inn)en wahrgenommen werden. Das Arbeitsfeld ist dabei das gemeinsame und verbindende Element der untersuchten Teams, es lässt aber vieles darauf schließen, dass die Ergebnisse der Untersuchung auch auf andere Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit übertragbar sind. Einziger Mangel der Arbeit sind einige inhaltliche Unstimmigkeiten im ersten Kapitel, wenn bspw. die Hilfe nach § 67 ff. SGB XII pauschal als „Wohnungslosenhilfe“ bezeichnet wird oder eine Reduzierung der Sozialen Arbeit insgesamt auf Einzelfallhilfen erfolgt. Dies kann aber den exzellenten Gesamteindruck der Studie nicht schmälern, zumal es hier ja nicht explizit um das Arbeitsfeld Wohnungslosenhilfe geht.

Fazit

Trotz der umfangreichen Ergebnisdarstellung mit vielen Textpassagen aus den Gruppendiskussionen ist die Publikation vor allem für Wissenschaftler/-innen sowie Lehrende und Studierende der Sozialen Arbeit und Pädagogik geeignet, da die Präsentation der Ergebnisse auf einem hohen abstrakten und theoretischen Niveau erfolgt und sich keine unmittelbare Umsetzung der wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Praxis anbietet. Eine speziell für die Praxis aufbereitete Zusammenfassung der Erkenntnisse wäre daher sinnvoll und empfehlenswert, denn die Studie trägt mit ihren nachvollziehbar aufbereiteten Ergebnissen zur Professionalisierung der Sozialen Arbeit bei.

Rezension von
Prof. Dr. Susanne Gerull
Professorin für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit mit den Schwerpunkten Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungslosigkeit und niedrigschwellige Sozialarbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin
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Es gibt 11 Rezensionen von Susanne Gerull.

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Zitiervorschlag
Susanne Gerull. Rezension vom 16.01.2013 zu: Friederike Schmidt: Implizite Logiken des pädagogischen Blickes. Eine rekonstruktive Studie über Wahrnehmung im Kontext der Wohnungslosenhilfe. Springer VS (Wiesbaden) 2012. ISBN 978-3-531-18751-8. Reihe: Research. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/14117.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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